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Noch war nicht alles über die Jahrhundertgestalt der Sozialdemokratie gesagt. Zum 100. Geburtstag von Willy Brandt meldet sich Sohn Peter zu Wort - und Torsten Körner will allen Mitgliedern der Familie Brandt gerecht werden.
Von Daniela Münkel
Alle mögen Willy" titelte schon 1965 eine große deutsche Zeitung. Willy Brandt ist heute eine Ikone - auch über die Parteigrenzen hinweg. Kaum eine große politische Rede - Bundeskanzlerin Angela Merkel macht da keine Ausnahme - ohne ein Willy-Brandt-Zitat; besonders beliebt ist das Motto der Regierungserklärung von 1969: "Wir wollen mehr Demokratie wagen!" Im Jahr des 100. Geburtstags setzt ein regelrechter "Willy-Boom" ein: 31 Bücher, zahlreiche Jubelfeiern und Konferenzen: "Willy sells." Die meisten der Publikationen, die jetzt auf den Markt kommen, sind Neuauflagen von bereits vor Jahren erschienenen Büchern - es gibt wenig Neues zu berichten über den "Jahrhundertpolitiker" Willy Brandt.
Eines der wenigen Bücher, die etwas anderes und vielleicht auch ein wenig Neues versprechen, ist das Buch von Brandts ältestem Sohn Peter. Der lässt sich auf das Experiment ein, als Historiker ein persönliches Buch über seinen Vater zu schreiben. So viel sei vorweg gesagt: Dieses Experiment ist gelungen. Es ist ein Buch, das die Lebensgeschichte von Willy Brandt mit der Familiengeschichte und der Vater-Sohn-Beziehung auf gelungene Weise verbindet. Es ist auch ein sehr ausgewogenes, ausgeglichenes Buch - wie es wohl dem Naturell von Peter Brandt entspricht. Man sucht vergeblich Zorn oder böse Worte, auch nicht über die Frau, die seiner Mutter nachfolgte, diese von der Beerdigung des Vaters ausschloss und mit der es einige Konflikte um das "schriftliche Erbe" Willy Brandts gab. Vor allem das persönliche Bild von Willy Brandt wird zurechtgerückt. Nichts von dem "fernen Vater". Brandt wird als liebevoller, verständnisvoller Vater gezeichnet - auch in den Auseinandersetzungen mit dem Sohn, als dieser seine linksradikalen Vorstellungen im Zuge von 1968 offensiv vertrat und sogar mit dem Gesetz in Konflikt geriet. Sätze wie: "Wenn Vater da war und sich für die Familie Zeit nahm, war er auch präsent", unterstreichen das.
Spannend sind die Passagen, die das persönliche Umfeld von Brandt jenseits von Egon Bahr und den "üblichen Verdächtigen" beleuchten. Da trifft man auf ganz "normale" Nachbarn, mit denen die Familie gemeinsam Ferien machte, da wird deutlich, dass die Bindung an die Freunde aus dem Exil, der Weimarer Zeit und damit der linkssozialistischen SAP auch nach 1945 Bestand hatte, obwohl Brandt sich schon während der Emigrationszeit politisch von ihnen entfernt hatte. Hervorzuheben ist auch, dass Peter Brandt die Mär, an die sein Vater zeit seines Lebens geglaubt hat und die heute noch von Brigitte Seebacher und Egon Bahr verbreitet wird, dass Herbert Wehner ihn verraten habe und somit für seinen Rücktritt verantwortlich sei, zurückweist. Im Gegenteil, er betont die Gemeinsamkeiten dieser beiden Männer trotz allem Trennenden.
Das Buch endet mit einer in die Zukunft zielenden Frage, "ob die in der langfristig angelegten Ostpolitik Willy Brandts zum Einsatz gekommene Methode der Konfliktbearbeitung und seine Vorschläge für die solidarische Gestaltung des Nord-Süd-Verhältnisses nicht Lehren vermitteln können, die bei den gegenwärtigen Krisen und Kriegen Auswege weisen" - gleichsam ein Willy Brandt fürs 21. Jahrhundert!
Auch Torsten Körner wirft einen anderen Blick auf das Leben und Wirken von Willy Brandt. Der Journalist schreibt über "Die Familie Willy Brandt". Zwar ist auch hierüber schon viel geschrieben und noch mehr spekuliert worden, aber in solch einer dichten Beschreibung hat sich bis jetzt noch niemand dem Thema genähert. Der Autor betont zu Recht, dass der "private" Brandt bereits zu Lebzeiten, nicht zuletzt auch in den eigenen autobiographischen Werken, zunehmend hinter dem Politiker und Staatsmann verschwand. Das Gleiche gilt für die Öffentlichkeit, die den Privatmann, wenn überhaupt, nur noch im Zusammenhang mit gerüchteweise kolportierten Sexaffären wahrnahm. Körner bietet eine Mischung aus Reportage, Chronik und Erzählung - ein spannender Zugang, der ein abwechslungsreiches Lesevergnügen verspricht. Der Autor begibt sich auf eine Reise: Er besichtigt Orte, die im Leben der Familie Brandt bedeutsam waren, und besucht die Söhne, die Tochter, er spricht mit den Enkeln. Weggefährten von Willy und Rut Brandt und auch Freunde der Kinder kommen zu Wort. Er berichtet von den Schwierigkeiten, Lars Brandt überhaupt zu einem Gespräch zu bewegen. An alldem lässt er den Leser teilhaben, als wenn er live dabei wäre. Erzählende Passagen halten die verschiedenen Bausteine des Textes zusammen.
Das Buch ist mit sehr viel Sympathie für die Protagonisten geschrieben - man erfährt viel Privates, ohne dass es voyeuristisch wird. Die Passagen zu den Söhnen sind nicht ausschließlich auf den Vater fokussiert, sondern berichten eine Menge über deren eigenes Leben. Hervorzuheben ist die Würdigung von Brandts Tochter aus erster Ehe, Ninja Frahm, über die man bis jetzt relativ wenig wusste, weil sie in Norwegen aufwuchs und dort noch heute lebt. Sie ist ein wichtiger Teil der Familie Brandt. Der Vater hielt zeitlebens engen Kontakt zu ihr, und sie besuchte die Familie Brandt häufig in den Ferien. Besonders berührend sind Passagen aus bisher unveröffentlichten Briefen, die Willy Brandt an seine kleine Tochter schrieb, als er nach dem Krieg nach Deutschland zurückgekehrt war und er sie nicht mehr regelmäßig sehen konnte. Hier tritt ein liebevoller Vater, voller Gefühle, zutage, der Angst hat, den Kontakt zu seiner Tochter zu verlieren. Brandt, dem nachgesagt wird, dass er sich nicht emotional öffnen konnte, zeigt hier eine ganz andere Seite.
Erwähnenswert ist, dass in diesem Buch Rut Brandt einen sehr breiten Raum einnimmt - eine überfällige Würdigung. Der Autor nähert sich ihr mit großer Empathie. Rut Brandt war mehr als die Frau von Willy Brandt und Mutter seiner Söhne. Sie wird als selbstbewusste Frau dargestellt, die Probleme mit ihrem Leben zwischen Deutschland und Norwegen hatte und zugleich eine liebevolle, aber auch kritische Mutter war. Streckenweise ufert der Text ein wenig aus, und so manche Passage gleitet ins Psychologisieren ab. Versucht wird, eine normale Familie zu beschreiben mit ihren Sorgen, Nöten und Freuden. Der Autor bemüht sich, allen Familienmitgliedern und ihrer Geschichte gerecht zu werden, letztlich ist Willy Brandt aber auch in diesem Buch übermächtig, sein Schatten fällt bis heute auf die Familie.
Zwei andere Neuerscheinungen sind konventioneller gestrickt und für jene Leser gedacht, die sich sachkundig und schnell über Brandts Lebenswerk und politisches Wirken informieren wollen. Der frühere Leiter des Ressorts Politik beim Spiegel, Hans-Joachim Noack, hat eine traditionelle politische Biographie über Brandt verfasst, chronologisch gegliedert und flott geschrieben. Auf den ersten Seiten lässt Noack den Leser an seinen persönlichen Erinnerungen teilhaben, die bis auf das Jahr 1970 zurückreichen. Er hat als Journalist Brandt lange Jahre begleitet. Diese wenigen Seiten sind eigentlich die spannendsten dieses Buches, denn sie enthalten einige interessante Aspekte und Einschätzungen jenseits des Mainstreams. So beschreibt Noack, dass die eigene Berichterstattung über Brandt und die großer Teile seiner Kollegen zeitweise ausgesprochen unkritisch gewesen sei. Er räumt ein, "mit welcher Fürsorglichkeit unsereins damals in die Tasten griff, um den ersten sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik in möglichst günstigem Licht erscheinen zu lassen". Man sei auch nicht vor der ein oder anderen "polierten Passage" zurückgeschreckt - eine interessante Sicht auf das überschwengliche Medienecho, das die ersten drei Jahre von Willy Brandts Kanzlerschaft begleitet hat. Man hätte sich mehr solche Passagen gewünscht. Besonders für diejenigen Leser, die sich bereits ausführlicher mit Brandt beschäftigt haben, wäre die Biographie dann interessanter.
Ein informatives Bändchen über "die sozialdemokratische Jahrhundertgestalt" hat Bernd Faulenbach in der Reihe "Beck Wissen" vorgelegt. Neben einem chronologischen Zugang entfaltet er kompetent einige Querschnittthemen. So fragt er nach dem "Menschen Willy Brandt" oder nach seiner Rolle als SPD-Vorsitzender und Präsident der "Sozialistischen Internationale". In einem resümierenden Kapitel zur "Bedeutung Willy Brandts" hebt der Autor fünf Politikfelder hervor, auf denen seiner Ansicht nach der Einfluss von Brandt am nachhaltigsten spürbar ist: der Wandel der SPD zur Volkspartei; die Demokratisierung der Gesellschaft und die Entideologisierung der Politik; die Rolle Deutschlands im Hinblick auf eine europäische Friedensordnung sowie der frühe Ansatz zu einem "globalen Denken". Faulenbach betont, es sei das Erbe Willy Brandts im 21. Jahrhundert, ständig nach neuen Wegen zu suchen, um "Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit" zu realisieren.
Was bleibt? Offenbar war doch noch nicht alles gesagt über den Jahrhundertpolitiker Willy Brandt - der "private Willy" hat Konjunktur. Was darüber hinaus noch Neues zu erwarten ist, wird die Zukunft zeigen. Jedenfalls fordern Jahrestage ihren Tribut von Geschichtswissenschaft und Publizistik, insbesondere wenn "große Männer" im Spiel sind. Da ist es unerheblich, ob es viel Neues zu berichten gibt oder nicht.
Peter Brandt: Mit anderen Augen. Versuch über den Politiker und Privatmann Willy Brandt.
Verlag J. H. W. Dietz, Bonn 2013. 304 S., 24,90 [Euro].
Torsten Körner: Die Familie Willy Brandt.
Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 510 S., 22,99 [Euro].
Hans-Joachim Noack: Willy Brandt. Ein Leben, ein Jahrhundert.
Rowohlt Verlag, Berlin 2013. 352 S., 19,95 [Euro].
Bernd Faulenbach: Willy Brandt. Die sozialdemokratische Jahrhundertgestalt.
C. H. Beck Verlag, München 2013. 128 S., 8,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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