Peking, in der Zukunft: Um den knapp bemessenen Raum möglichst effizient zu nutzen, wurde die Stadt in drei Sektoren unterteilt, die sich mittels einer raffinierten Konstruktion platzsparend drehen, in der Erde versenken und zusammenfalten lassen. Nach einem strengen Plan wird immer nur ein Sektor entfaltet, damit die Menschen darin ihren Tätigkeiten nachgehen können. Ein Kontakt über die Sektorengrenzen hinweg ist untersagt.
Lao Dao, Arbeiter in einer Müllentsorgungsanlage im Dritten Sektor, übernimmt einen abenteuerlichen Botengang in die abgeschirmte Erste Zone - und entdeckt ein düsteres Geheimnis hinter den faltbaren Mauern dieser schönen neuen Welt.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.11.2018Nur der Müllsortierer geht über Grenzen
Zwei junge, kompromisslose Autorinnen erzählen von Besuchen in so nahen wie fremden Lebenswelten
Manchmal ist ein Einfall so bestechend, dass er ein ganzes Buch trägt. So ist es bei der mit dem Hugo Award (Novelette) ausgezeichneten Science-Fiction-Novelle "Peking falten" der chinesischen Physikerin und Wirtschaftswissenschaftlerin Hao Jingfang, die heute passenderweise für einen Thinktank arbeitet, der die chinesische Regierung etwa in Infrastrukturfragen berät. Die Idee, die ihrer bereits 2012 geschriebenen Erzählung zugrunde liegt, ist die der Faltbarkeit der (tatsächlich ja inzwischen hemmungslos gentrifizierten) Metropole Peking, weil die auch die Armen magisch anziehende Stadt überhaupt nur so achtzig Millionen Einwohner beherbergen kann. Dabei ermöglicht es ein komplizierter Mechanismus, dass drei in ihren Lebensbedingungen sehr unterschiedliche, strikt getrennte Zonen sich denselben Raum teilen. Geschlafen wird unter der Erde.
Sektor eins, reserviert für fünf Millionen privilegierte Funktionäre, nimmt für vierundzwanzig Stunden den gesamten Stadtraum ein, bevor dieser sich, während die Einwohner in speziellen Kokons ruhen, einfaltet und um die eigene Achse dreht. Die beiden anderen Sektoren sind auf der Gegenseite untergebracht. Im zweiten Sektor lebt die gebildete Mittelschicht, die fünfundzwanzig Millionen Personen umfasst und für sechzehn Stunden ausgeklappt wird. Lediglich für acht Nachtstunden aus einer fünfmal so langen Betäubung erwachend, verrichten schließlich die fünfzig Millionen Einwohner der dritten Zone niedere Arbeiten wie Müllsortieren.
Das Bezwingende an diesem Motiv liegt darin, dass es in perfekter Harmonie sozialistisch-utopische Visionen mit phantastischen Dystopien vereint. Die Darstellung einer ingenieurstechnischen Meisterleistung chinesischer Bauart, sosehr dies auch die gegenwärtigen Experimente mit einer neuen Urbanität zu parodieren scheint, bewahrte Haos Text wohl vor der Zensur, kann aber zugleich als Kommentar zur neuen Klassengesellschaft des marktradikalen und wieder stärker repressiven China gelesen werden.
Die Handlung ist keineswegs offen revolutionär. Der Müllsortierer Lao Dao wird zu einem Wanderer zwischen den Schichten und kehrt schließlich desillusioniert, aber ohne Groll in seine Zone zurück. Zwar ist der Besuch der anderen Sektoren nur einigen Funktionären und Studenten erlaubt, doch wie bei allen Gesellschaftsformen, die auf Segregation beruhen, hat sich ein Schmuggelsystem für Waren und Nachrichten etabliert. In diesem Fall sucht ein Bewohner der zweiten Zone einen Boten, der seiner Angebeteten aus dem ersten Sektor, in die er sich bei einem Praktikum verliebt hat, Liebesschwüre überbringt.
Lao Dao, der dringend Geld für die Ausbildung seiner Tochter benötigt, klettert also unter Lebensgefahr - eine falsche Bewegung und die einklappenden Gebäude zerquetschen den Grenzgänger - über die Faltungskanten des Mechanismus. Was er vorfindet, ist eine naive kapitalistische Welt im zweiten Sektor, die an unsere Gegenwart erinnert, und eine fast fontanehafte Funktionärs-Gesellschaft in Sektor eins. Dort wird er allerdings Zeuge von Plänen, den dritten Stand durch Recyclingmaschinen zu ersetzen. Außerdem ist seine Tarnung so mangelhaft, dass er schnell als Eindringling auffliegt. Noch aber gibt es Sozialisten unter den Parteioberen, die einem armen Arbeiter beistehen. Überhaupt ist das genresprengende Kennzeichen dieser Novelle, wie der Held inmitten der Gefahr stets auf Höflichkeit und Rettung trifft. Das beschwichtigt ihn.
Die Autorin überlässt es den Lesern, über den narrativen Optimismus hinweg über die Gerechtigkeit eines Gesellschaftssystems nachzudenken, in dem von oben nicht nur über Lebenschancen (ein Aufstieg scheint nur in seltenen Ausnahmen möglich), sondern gleich auch über Lebenszeiten entschieden wird. Dass diese monströse Stadtapparatur aus der kalt arrangierten Vermählung von Kapitalismus und Sozialismus hervorgegangen ist, lässt sich aber kaum übersehen. Hao Jingfang hat damit eines der stärksten Symbole für den in sich widersprüchlichen chinesischen Weg gefunden.
Eine Besucherin in einer nahen und doch fremden Welt begegnet uns auch in Sarah Bergers punkfeministischer Miniatur "Sein Zimmer für mich allein". Die Ich-Erzählerin gehört zur urbanen Schicht der praktizierenden Singles, weshalb sie regelmäßig in fremden Wohnungen aufwacht, die der Mann, der hier (leider) mehr als Typus denn als Individuum gesehen wird, bereits verlassen hat. Dann beginnt ein Prozess der ästhetischen Penetration dieser Wohnhöhlen, eine Aneignung, die zur Orgie der Umgestaltung wird. Die Protagonistin sortiert die Bücher neu, hinterlässt Haare und Zehennägel an unauffälligen Stellen, bringt eigene Ordnungen in die Unordnung und hält all das mit ihrer Kamera fest. Das ist die exakt gegenteilige Vorgehensweise zum Müllsortierer Lao Dao.
In diesem Verhalten, das den meisten Männern vermutlich gar nicht auffällt (wer merkt sich denn, in welcher Reihenfolge man Pullover in den Schrank gestopft hat?), liegt eine gewisse Kälte und Verzweiflung, zumal der Text deutlich macht, dass es sich eigentlich um eine Polarforschungsreise von Roald-Amundsen-Dimensionen handelt, um das Durchstapfen des eisigen Habitats dieser ulkig einfach gebauten Spezies Mann.
Mit wissenschaftlicher Präzision beginnt die Erkundung denn auch, aber schon bald stößt die Heldin auf das Grundproblem der Ethnologie: "Meine Einflussnahme wird offensichtlich, wenn ich, nachdem ich mich Meter für Meter durch die Wohnung gearbeitet habe, endlich in der offenen Küchennische ankomme und mich der vollgestellten Spüle widme: zwei Weingläser von letzter Nacht, KLICK, der leicht geöffnete Schrank unter der Spüle, KLICK, die leere Käseverpackung ganz oben im aufklaffenden Mülleimer, KLICK."
Aus dem Beobachter-Neutralitätsdilemma macht sie eine Tugend. Es geht zunehmend darum, sich einzuschreiben in die fremden Raumtexturen, dem eisigen Pol die Kappen abzuschmelzen ("Ich pinkle in die Badewanne") und ihn neu zu beleben: "So viele Dinge sind möglich, so viel Existenz" - aber das eben doch nur um den Preis des Klimawandels, um im Bild zu bleiben. Dass faltbare Geschlechterwelten, die sich die Gegenwart nach fest definierten Zeiten teilen, die Lösung wären (und so ähnlich sieht es bei der Gleichstellung durch Quotierung ja aus), deutet sich dabei allerdings so wenig an wie Beschwichtigung.
OLIVER JUNGEN.
Hao Jingfang: "Peking falten". Erzählung. Aus dem Englischen von Jakob Vandenberg.
Rowohlt Rotation, Reinbek 2018. 60 S., E-Book, 1,99 [Euro].
Sarah Berger: "Sein Zimmer für mich allein".
Frohmann Verlag, Berlin 2018. 39 S., E-Book, 2,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwei junge, kompromisslose Autorinnen erzählen von Besuchen in so nahen wie fremden Lebenswelten
Manchmal ist ein Einfall so bestechend, dass er ein ganzes Buch trägt. So ist es bei der mit dem Hugo Award (Novelette) ausgezeichneten Science-Fiction-Novelle "Peking falten" der chinesischen Physikerin und Wirtschaftswissenschaftlerin Hao Jingfang, die heute passenderweise für einen Thinktank arbeitet, der die chinesische Regierung etwa in Infrastrukturfragen berät. Die Idee, die ihrer bereits 2012 geschriebenen Erzählung zugrunde liegt, ist die der Faltbarkeit der (tatsächlich ja inzwischen hemmungslos gentrifizierten) Metropole Peking, weil die auch die Armen magisch anziehende Stadt überhaupt nur so achtzig Millionen Einwohner beherbergen kann. Dabei ermöglicht es ein komplizierter Mechanismus, dass drei in ihren Lebensbedingungen sehr unterschiedliche, strikt getrennte Zonen sich denselben Raum teilen. Geschlafen wird unter der Erde.
Sektor eins, reserviert für fünf Millionen privilegierte Funktionäre, nimmt für vierundzwanzig Stunden den gesamten Stadtraum ein, bevor dieser sich, während die Einwohner in speziellen Kokons ruhen, einfaltet und um die eigene Achse dreht. Die beiden anderen Sektoren sind auf der Gegenseite untergebracht. Im zweiten Sektor lebt die gebildete Mittelschicht, die fünfundzwanzig Millionen Personen umfasst und für sechzehn Stunden ausgeklappt wird. Lediglich für acht Nachtstunden aus einer fünfmal so langen Betäubung erwachend, verrichten schließlich die fünfzig Millionen Einwohner der dritten Zone niedere Arbeiten wie Müllsortieren.
Das Bezwingende an diesem Motiv liegt darin, dass es in perfekter Harmonie sozialistisch-utopische Visionen mit phantastischen Dystopien vereint. Die Darstellung einer ingenieurstechnischen Meisterleistung chinesischer Bauart, sosehr dies auch die gegenwärtigen Experimente mit einer neuen Urbanität zu parodieren scheint, bewahrte Haos Text wohl vor der Zensur, kann aber zugleich als Kommentar zur neuen Klassengesellschaft des marktradikalen und wieder stärker repressiven China gelesen werden.
Die Handlung ist keineswegs offen revolutionär. Der Müllsortierer Lao Dao wird zu einem Wanderer zwischen den Schichten und kehrt schließlich desillusioniert, aber ohne Groll in seine Zone zurück. Zwar ist der Besuch der anderen Sektoren nur einigen Funktionären und Studenten erlaubt, doch wie bei allen Gesellschaftsformen, die auf Segregation beruhen, hat sich ein Schmuggelsystem für Waren und Nachrichten etabliert. In diesem Fall sucht ein Bewohner der zweiten Zone einen Boten, der seiner Angebeteten aus dem ersten Sektor, in die er sich bei einem Praktikum verliebt hat, Liebesschwüre überbringt.
Lao Dao, der dringend Geld für die Ausbildung seiner Tochter benötigt, klettert also unter Lebensgefahr - eine falsche Bewegung und die einklappenden Gebäude zerquetschen den Grenzgänger - über die Faltungskanten des Mechanismus. Was er vorfindet, ist eine naive kapitalistische Welt im zweiten Sektor, die an unsere Gegenwart erinnert, und eine fast fontanehafte Funktionärs-Gesellschaft in Sektor eins. Dort wird er allerdings Zeuge von Plänen, den dritten Stand durch Recyclingmaschinen zu ersetzen. Außerdem ist seine Tarnung so mangelhaft, dass er schnell als Eindringling auffliegt. Noch aber gibt es Sozialisten unter den Parteioberen, die einem armen Arbeiter beistehen. Überhaupt ist das genresprengende Kennzeichen dieser Novelle, wie der Held inmitten der Gefahr stets auf Höflichkeit und Rettung trifft. Das beschwichtigt ihn.
Die Autorin überlässt es den Lesern, über den narrativen Optimismus hinweg über die Gerechtigkeit eines Gesellschaftssystems nachzudenken, in dem von oben nicht nur über Lebenschancen (ein Aufstieg scheint nur in seltenen Ausnahmen möglich), sondern gleich auch über Lebenszeiten entschieden wird. Dass diese monströse Stadtapparatur aus der kalt arrangierten Vermählung von Kapitalismus und Sozialismus hervorgegangen ist, lässt sich aber kaum übersehen. Hao Jingfang hat damit eines der stärksten Symbole für den in sich widersprüchlichen chinesischen Weg gefunden.
Eine Besucherin in einer nahen und doch fremden Welt begegnet uns auch in Sarah Bergers punkfeministischer Miniatur "Sein Zimmer für mich allein". Die Ich-Erzählerin gehört zur urbanen Schicht der praktizierenden Singles, weshalb sie regelmäßig in fremden Wohnungen aufwacht, die der Mann, der hier (leider) mehr als Typus denn als Individuum gesehen wird, bereits verlassen hat. Dann beginnt ein Prozess der ästhetischen Penetration dieser Wohnhöhlen, eine Aneignung, die zur Orgie der Umgestaltung wird. Die Protagonistin sortiert die Bücher neu, hinterlässt Haare und Zehennägel an unauffälligen Stellen, bringt eigene Ordnungen in die Unordnung und hält all das mit ihrer Kamera fest. Das ist die exakt gegenteilige Vorgehensweise zum Müllsortierer Lao Dao.
In diesem Verhalten, das den meisten Männern vermutlich gar nicht auffällt (wer merkt sich denn, in welcher Reihenfolge man Pullover in den Schrank gestopft hat?), liegt eine gewisse Kälte und Verzweiflung, zumal der Text deutlich macht, dass es sich eigentlich um eine Polarforschungsreise von Roald-Amundsen-Dimensionen handelt, um das Durchstapfen des eisigen Habitats dieser ulkig einfach gebauten Spezies Mann.
Mit wissenschaftlicher Präzision beginnt die Erkundung denn auch, aber schon bald stößt die Heldin auf das Grundproblem der Ethnologie: "Meine Einflussnahme wird offensichtlich, wenn ich, nachdem ich mich Meter für Meter durch die Wohnung gearbeitet habe, endlich in der offenen Küchennische ankomme und mich der vollgestellten Spüle widme: zwei Weingläser von letzter Nacht, KLICK, der leicht geöffnete Schrank unter der Spüle, KLICK, die leere Käseverpackung ganz oben im aufklaffenden Mülleimer, KLICK."
Aus dem Beobachter-Neutralitätsdilemma macht sie eine Tugend. Es geht zunehmend darum, sich einzuschreiben in die fremden Raumtexturen, dem eisigen Pol die Kappen abzuschmelzen ("Ich pinkle in die Badewanne") und ihn neu zu beleben: "So viele Dinge sind möglich, so viel Existenz" - aber das eben doch nur um den Preis des Klimawandels, um im Bild zu bleiben. Dass faltbare Geschlechterwelten, die sich die Gegenwart nach fest definierten Zeiten teilen, die Lösung wären (und so ähnlich sieht es bei der Gleichstellung durch Quotierung ja aus), deutet sich dabei allerdings so wenig an wie Beschwichtigung.
OLIVER JUNGEN.
Hao Jingfang: "Peking falten". Erzählung. Aus dem Englischen von Jakob Vandenberg.
Rowohlt Rotation, Reinbek 2018. 60 S., E-Book, 1,99 [Euro].
Sarah Berger: "Sein Zimmer für mich allein".
Frohmann Verlag, Berlin 2018. 39 S., E-Book, 2,99 [Euro].
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