Deutschland, 1918. Ende des Ersten Weltkriegs, Revolution, Sieg der Demokratie. Zugleich beginnt ein Siegeszug befreiter Lebensweisen. Alles soll von Grund auf anders werden: die «Neue Frau», der «Neue Mann», «Neues Wohnen», «Neues Denken». Als es Mitte der Zwanziger auch wirtschaftlich aufwärtsgeht, wird Deutschland ein anderes Land. Frauen erobern die Rennpisten und Tennisplätze, gehen abends alleine aus, schneiden sich die Haare kurz. Unisex kommt in Mode, Androgynes und Experimentelles. Jähner erzählt von der Erfindung der Freizeit, von Boxhallen und Tanzpalästen, und von den Hotspots der Neuen Zeit, vom Warenhaus als Glücksversprechen oder der Straße als Ort erbitterter Kämpfe. So vieles wirkt heute verblüffend modern. Die Vorliebe für Ironie, das Gradlinige und Direkte. Aber auch die Angst vor der «Entwertung aller Werte», der Herrschaft des Billigen. Ein großer Teil der Deutschen fand sich im Aufbruch nicht wieder. Als das Geld knapper wurde und die Zukunft düsterer, offenbarte sich die tiefe Spaltung der Gesellschaft und die Unfähigkeit, sie auszuhalten.
Harald Jähner liefert eine Gesamtschau dieser so pulsierenden, reichen Zeit - und zeichnet das Bild eines zerrissenen Landes voll gewaltiger und erschreckender Energien. Es ist uns irritierend ähnlich und - hoffentlich - doch ganz anders.
Harald Jähner liefert eine Gesamtschau dieser so pulsierenden, reichen Zeit - und zeichnet das Bild eines zerrissenen Landes voll gewaltiger und erschreckender Energien. Es ist uns irritierend ähnlich und - hoffentlich - doch ganz anders.
Stil, Blick und subtiler Witz: Kristallklare Essays über Autorendasein und Fotografie, Wahrnehmung und die beste Form - wie macht er das nur? Alexander ; Ulrich ; Iris ; Elke Camman ; Greiner ; Radisch ; Schmitter Die Zeit 20221117
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Der hier rezensierende Verleger Klaus Bittermann hat von Harald Jähner viel über die Seele der Weimarer Republik gelernt. Dass der Journalist auch ein "großartiger Geschichtenerzähler" ist, hat er Bittermann bereits in seinem Buch "Wolfszeit" bewiesen und das rundet nun die Lektüre über die Zeit zwischen 1918 und 1933 für den Rezensenten ab. Wieder wählte Jähner das Stilmittel des "Wimmelbildes", um mit kleinen Geschichten über die große Historie zu berichten und durchforstete abermals die Archive von Zeitungen, lesen wir. Was er dort fand, hat eine enorme atmosphärische Gegenwärtigkeit, lobt der Rezensent, denn genau die fehle in den herkömmlichen Geschichtsbüchern. Bittermann beeindruckt, was für ein Zeitgemälde Jähner aus Kleinanzeigen entwickelt und damalige Leitartikel blass aussehen lässt. Das einzige Manko dieses Buches über Schicksale in der bitteren inflationären Zeit, in der auf dem Vulkan getanzt wurde, ist für ihn, dass man irgendwann auf der letzten Seite ankommt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.09.2022Alles neu, neu, neu
So wurde dieses Jahrzehnt noch nicht beschrieben: „Höhenrausch“ von Harald Jähner
ist eine brillante, rasende Ereignisgeschichte der Zwanzigerjahre
Was an Harald Jähners Buch zur Weimarer Republik so gut, so neu und aufregend ist, muss man, der Methode des Autors folgend, mit einem Beispiel vorführen. Jähner analysiert den neuen großstädtischen Autoverkehr mit einem sozialen Gleichnis: „Tatsächlich gleicht das Vermögen, gelassen einen Kreisverkehr zu absolvieren, sich einzutakten, sich rasch zu verständigen mit knappen Gesten und Blicken, um sanft die Fahrspuren zu wechseln, in vieler Hinsicht einer Party, auf der man unablässig die Gesprächspartner wechselt und beim geselligen Small Talk die Menschen in angenehmer Nähe und zugleich auf Distanz hält.“
Literarisch ist das eine ausgearbeitete Metapher, historiografisch eine Erkenntnismethode: Man lässt die neuartigen Verhältnisse sich gegenseitig beleuchten. Denn natürlich war auch die „Party“ im Vergleich zur früheren „Soirée“, der bürgerlichen Abendeinladung, etwas Neues: Hier mischten sich Unbekannte. Und so entstanden in Geselligkeit und Straßenverkehr analoge soziale Anforderungen im Umgang unter Fremden.
Das gibt Jähner die Gelegenheit, gleichzeitig mit der Automobilisierung der Großstädte, ihrem gesteigerten öffentlichen Verkehr, auch die Philosophie Helmuth Plessners zu erläutern, nämlich sein Postulat sozialen Takts unter Bedingungen, die nicht mehr gemeinschaftlich sein können, sondern mit durchaus befreiender Anonymität rechnen: moderne Zeiten.
Ein solches, immer dichter gewobenes Netz von Bezügen durchzieht Jähners Buch, das ohne Gattungsbezeichnung, ja ohne Themenbegrenzung daherkommt: „Das kurze Leben zwischen den Kriegen“. Worum geht es? Um vieles gleichzeitig: die politische und soziale Geschichte der Weimarer Republik, die gefeierte Kultur der Zwanzigerjahre, um Alltag, Frauenemanzipation, neue Geschlechterrollen, neue Mode, neues Bauen und Wohnen, Tanz, Amüsement, Film, Schlager, Literatur. Vor allem aber geht es um die Gefühle, die diese Erfahrungen begleiteten und verstärkten.
Und eben um die Bezüge zwischen den Themen: Neue Arbeitswelten wie Telefonie und Maschinenschreiben sind Orte der Frauenemanzipation, ebenso das Autofahren, das von sportiven reichen Glamourgirls mit Inbrunst vorgeführt wird. Die Sekretärinnen, oft unverheiratet, gehen abends ohne Begleitung auf die Pirsch, in den Tanzpalästen warten professionelle Eintänzer auf sie, nicht selten ehemalige Offiziere, die gehalten sind, zuerst die weniger attraktiven aufzufordern: armer Gigolo, der für Geld den Kavalier machen muss, wo er doch früher in Husarenuniform durchs Städtchen ritt.
Oder man verzichtete gleich auf den altmodischen Paartanz und schüttelte individuell auf überfüllten Tanzflächen die Glieder, im Shimmy, im Charleston, zu nie gehörten afrikanischen Rhythmen. Nach dem Krieg kam die Tanzwut, und die Frauen, aus ihren kaiserzeitlichen Bonbonverpackungen befreit, bestimmten die Szene.
In der Vielfalt der Verbindungen schießt eine neue Lebensform als ein Ganzes zusammen, wie in einem chemischen Prozess, der eine Substanz in einen anderen Zustand kippen lässt. Jähners historiografischer Feuilletonismus erfüllt auf seine verwegene, leichtfüßige Art einen alten Historikertraum, die totale Geschichte, in der alle Lebensbereiche systemisch interagieren und zum Epochentableau werden.
Dazu hat ihn offenkundig nicht eine akademische Karriere befähigt, sondern jahrelange Arbeit als Feuilletonchef der Berliner Zeitung. Wer unentwegt Texte aus allen ästhetischen Disziplinen redigiert, lernt ihre Beschreibungssprachen. So brilliert dieses Buch in Architekturkritik, in Popmusik-Kritik, in Kunst- und Literaturkritik und natürlich in der Lieblingsdisziplin der Zwanzigerjahre, dem aufmerksamen Straßenfeuilleton, das sich die Eindrücke beim Flanieren zutragen lässt.
Die Hermeneutik des Alltags, die dabei entsteht, lässt vergangene Erfahrungen so fühlbar werden wie selten. Jähners Buch enthält kein unbekanntes Faktum, kaum neue Quellen – die meisten Neuigkeiten kommen aus den digitalen Zeitungsarchiven –, aber es sieht und verknüpft die Dinge neu. Die Modernität der Epoche springt die Leser immer noch schockartig an. Frauen in Pullis und Hosen auf einer Bauhaustreppe um 1920: So ein Bild war einmal unerhört neu, und seine scheinbare Heutigkeit überrascht. Hätte man sich alle Kämpfe danach nicht sparen können, angesichts solcher Selbstverständlichkeit und Nähe?
Dabei verhehlt das Buch nicht die Widersprüche: Geschniegelte Angestellte gehen früh in glitzernd moderne Büropaläste, wohnen aber noch im feuchten Muff der Vorkriegsmietskasernen. Von diesen werden im Furor der neusachlichen Aufrichtigkeit „Ornamentgeschwüre“ abgeschlagen und eine Kahlheit erzeugt, die von links und rechts zugleich gefordert wurde, von der Avantgarde wie vom völkischen, stadtfeindlichen Lager.
Die rasende Ereignisgeschichte hat bei Jähner ein ästhetisches Gesicht. Die biedere Reichspräsident Friedrich Ebert leidet unter akutem Charismamangel in einer Welt schnittiger, kriegsentlassener Pathetiker, die gern mit „Stahlgewittern“ renommierten. Doch als er frühzeitig stirbt, geraten die vornehm stillen Trauerfeierlichkeiten, die „Reichskunstwart“ Edwin Redslob gestaltet, zum ersten Sieg einer möglichen Republikästhetik. Trotzdem wird Hindenburg „Ersatzkaiser“, und Jähner erläutert, dass sich damit auch Hoffnungen auf Integration konservativer Gesellschaftsteile verbinden – er urteilt nicht ab, sondern beschreibt offene Möglichkeiten.
Die Wirtschaftskatastrophe seit 1930 schildert Jähner von innen: Arbeitslosigkeit bedeutete nicht nur materielles Elend, sondern auch Ehrverlust, Außenseitertum in einer Welt, die Lebensfreude an Arbeit koppelte. Jähner unternimmt parallel einen Exkurs in die neue Industriefotografie, die ein heroischen Bild von Arbeit zeigte, und zwar genau in dem Moment, als sie knapp wurde. Zuvor hatte er die Frauenemanzipation – das geheime Hauptthema des Buches – schon an wechselnden Porträtstilen der Fotografinnen erläutert: mal streng und divenhaft, mal geheimnisvoll weichgezeichnet.
Mode und Schlager werden zum Epochensignum: Um 1930 geht die Zeit des Bubikopfs, der streichholzschlanken Mädchen zu Ende, Locken wallen üppiger, Hüften werden absichtsvoll mit kalorienhaltigen Tabletten aufgepolstert, die Röcke fallen nicht mehr gerade, sie kurven faltig. Der Walzer kommt zurück und verdrängt das Gehampel. Eine neue Rechte formiert sich zunehmend anspruchsvoll kulturkritisch und weiß den arroganten linksradikalen Avantgardisten zu kontern. Hunderte Zeitungen, aber keine geteilte Welt mehr: Die Gesellschaft teilt sich in Filterblasen.
Gewalt rahmt dieses Tableau, die Gewalt der Krisenjahre von 1918 bis 1923 und die Gewalt seit 1930 in den Kampfgruppen der radikalen politischen Parteien. Die Nichtnotwendigkeit der Abläufe, die Jähner immer wieder herausarbeitet, wird von Zahlen belegt: Das republikanische Reichsbanner hatte mehr Mitglieder als alle rechtsradikalen Kampfbünde zusammen. Es fehlte der Republik also weniger an Rückhalt als oft behauptet, sie wurde von den Rändern aus mürbe geschossen und von einer unverantwortlichen Elite systematisch demontiert.
Jähner schreibt witzig, oft aphoristisch. Mit stillem Humor widerspricht er den Miesepetrigkeiten des Kulturkritikers Siegfried Kracauer, dem die Massenkultur auf die Nerven geht, während Jähner ihr Befreiungspotenzial herausarbeitet. Sentenzen erleuchten die Erzählung, Jähner wird zum Tacitus des Stadtfeuilletons: „Man hatte Milliarden in der Tasche und doch ein Loch im Magen“ – so in der Inflation von 1923. „Hitler hatte die Demokratie verstanden und besiegt“ – so zum Krisenjahr 1932.
Daneben stehen die Gründlichkeiten der Kunstinterpretation, beispielsweise die Auslegung des Gruppenbildes „Abend über Potsdam“ von Lotte Laserstein, das Jähner als Allegorie der beendeten Gespräche in einer erschöpften Gesellschaft liest, damit dem Ende der Republik vielleicht doch zu viel tiefere Zwangsläufigkeit zuerkennend. Noch jeder Avantgarderausch hatte seinen Kater, nicht immer musste eine politische Katastrophe darauf folgen.
Dieser „Höhenrausch“, der den Leser mit Hundertschaften von Details, Anekdoten, Aphorismen, Wahrnehmungen und Zahlen bombardiert, beantwortet auch die Frage nach der ungebrochenen Attraktivität der Zwanzigerjahre, die sich in Krimi- und Kaufhausserien zeigt. Wir sehen Menschen, die oft heutig aussehen wie wir, obwohl sie vor hundert Jahren lebten: unstet, partysüchtig, nicht festgelegt auf Rollen, geschlechterfluid, lässig und cool, affizierbar und aufgeregt, vereinzelt und in Massen.
Vieles von dem, was wir heute tun, haben sie zum ersten Mal getan und vorgelebt, vor allem in der Massenkultur, im Sport, in der Freizeit, beim Sex und in technisierten Arbeitswelten. Und sie haben sich mit brillanter Intelligenz dabei selbst beschrieben. Wie toll und unvermittelt reagierten damals Literatur und Feuilleton auf alles Neue! Dieses erste Mal mit seiner erwachsenen Kindlichkeit ist nicht nur frisch und aufregend, es ist sehr rührend. Und sehr traurig ist, dass dieser berauschende, befreiende, anstrengende Aufbruch in einer Menschheitskatastrophe endete, die, so mag man Seite um Seite glauben, etwas ganz und gar Widersinniges hatte.
GUSTAV SEIBT
Nach dem Krieg kam die Tanzwut:
Frauen waren überall, befreit
aus kaiserzeitlichen Zwängen
Der biedere Reichspräsident
Friedrich Ebert leidet
unter akutem Charismamangel
Wie toll und unvermittelt
reagierten damals Literatur
und Feuilleton auf alles Neue!
Die Zwanzigerjahre waren auch Jahre der Frauenemanzipation, der neuen Geschlechterrollen, der Mode, des Tanz. Hier eine Aufnahme von 1926.
Foto: SZ Photo
Harald Jähner: Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen. Rowohlt Berlin, Berlin 2022. 557 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
So wurde dieses Jahrzehnt noch nicht beschrieben: „Höhenrausch“ von Harald Jähner
ist eine brillante, rasende Ereignisgeschichte der Zwanzigerjahre
Was an Harald Jähners Buch zur Weimarer Republik so gut, so neu und aufregend ist, muss man, der Methode des Autors folgend, mit einem Beispiel vorführen. Jähner analysiert den neuen großstädtischen Autoverkehr mit einem sozialen Gleichnis: „Tatsächlich gleicht das Vermögen, gelassen einen Kreisverkehr zu absolvieren, sich einzutakten, sich rasch zu verständigen mit knappen Gesten und Blicken, um sanft die Fahrspuren zu wechseln, in vieler Hinsicht einer Party, auf der man unablässig die Gesprächspartner wechselt und beim geselligen Small Talk die Menschen in angenehmer Nähe und zugleich auf Distanz hält.“
Literarisch ist das eine ausgearbeitete Metapher, historiografisch eine Erkenntnismethode: Man lässt die neuartigen Verhältnisse sich gegenseitig beleuchten. Denn natürlich war auch die „Party“ im Vergleich zur früheren „Soirée“, der bürgerlichen Abendeinladung, etwas Neues: Hier mischten sich Unbekannte. Und so entstanden in Geselligkeit und Straßenverkehr analoge soziale Anforderungen im Umgang unter Fremden.
Das gibt Jähner die Gelegenheit, gleichzeitig mit der Automobilisierung der Großstädte, ihrem gesteigerten öffentlichen Verkehr, auch die Philosophie Helmuth Plessners zu erläutern, nämlich sein Postulat sozialen Takts unter Bedingungen, die nicht mehr gemeinschaftlich sein können, sondern mit durchaus befreiender Anonymität rechnen: moderne Zeiten.
Ein solches, immer dichter gewobenes Netz von Bezügen durchzieht Jähners Buch, das ohne Gattungsbezeichnung, ja ohne Themenbegrenzung daherkommt: „Das kurze Leben zwischen den Kriegen“. Worum geht es? Um vieles gleichzeitig: die politische und soziale Geschichte der Weimarer Republik, die gefeierte Kultur der Zwanzigerjahre, um Alltag, Frauenemanzipation, neue Geschlechterrollen, neue Mode, neues Bauen und Wohnen, Tanz, Amüsement, Film, Schlager, Literatur. Vor allem aber geht es um die Gefühle, die diese Erfahrungen begleiteten und verstärkten.
Und eben um die Bezüge zwischen den Themen: Neue Arbeitswelten wie Telefonie und Maschinenschreiben sind Orte der Frauenemanzipation, ebenso das Autofahren, das von sportiven reichen Glamourgirls mit Inbrunst vorgeführt wird. Die Sekretärinnen, oft unverheiratet, gehen abends ohne Begleitung auf die Pirsch, in den Tanzpalästen warten professionelle Eintänzer auf sie, nicht selten ehemalige Offiziere, die gehalten sind, zuerst die weniger attraktiven aufzufordern: armer Gigolo, der für Geld den Kavalier machen muss, wo er doch früher in Husarenuniform durchs Städtchen ritt.
Oder man verzichtete gleich auf den altmodischen Paartanz und schüttelte individuell auf überfüllten Tanzflächen die Glieder, im Shimmy, im Charleston, zu nie gehörten afrikanischen Rhythmen. Nach dem Krieg kam die Tanzwut, und die Frauen, aus ihren kaiserzeitlichen Bonbonverpackungen befreit, bestimmten die Szene.
In der Vielfalt der Verbindungen schießt eine neue Lebensform als ein Ganzes zusammen, wie in einem chemischen Prozess, der eine Substanz in einen anderen Zustand kippen lässt. Jähners historiografischer Feuilletonismus erfüllt auf seine verwegene, leichtfüßige Art einen alten Historikertraum, die totale Geschichte, in der alle Lebensbereiche systemisch interagieren und zum Epochentableau werden.
Dazu hat ihn offenkundig nicht eine akademische Karriere befähigt, sondern jahrelange Arbeit als Feuilletonchef der Berliner Zeitung. Wer unentwegt Texte aus allen ästhetischen Disziplinen redigiert, lernt ihre Beschreibungssprachen. So brilliert dieses Buch in Architekturkritik, in Popmusik-Kritik, in Kunst- und Literaturkritik und natürlich in der Lieblingsdisziplin der Zwanzigerjahre, dem aufmerksamen Straßenfeuilleton, das sich die Eindrücke beim Flanieren zutragen lässt.
Die Hermeneutik des Alltags, die dabei entsteht, lässt vergangene Erfahrungen so fühlbar werden wie selten. Jähners Buch enthält kein unbekanntes Faktum, kaum neue Quellen – die meisten Neuigkeiten kommen aus den digitalen Zeitungsarchiven –, aber es sieht und verknüpft die Dinge neu. Die Modernität der Epoche springt die Leser immer noch schockartig an. Frauen in Pullis und Hosen auf einer Bauhaustreppe um 1920: So ein Bild war einmal unerhört neu, und seine scheinbare Heutigkeit überrascht. Hätte man sich alle Kämpfe danach nicht sparen können, angesichts solcher Selbstverständlichkeit und Nähe?
Dabei verhehlt das Buch nicht die Widersprüche: Geschniegelte Angestellte gehen früh in glitzernd moderne Büropaläste, wohnen aber noch im feuchten Muff der Vorkriegsmietskasernen. Von diesen werden im Furor der neusachlichen Aufrichtigkeit „Ornamentgeschwüre“ abgeschlagen und eine Kahlheit erzeugt, die von links und rechts zugleich gefordert wurde, von der Avantgarde wie vom völkischen, stadtfeindlichen Lager.
Die rasende Ereignisgeschichte hat bei Jähner ein ästhetisches Gesicht. Die biedere Reichspräsident Friedrich Ebert leidet unter akutem Charismamangel in einer Welt schnittiger, kriegsentlassener Pathetiker, die gern mit „Stahlgewittern“ renommierten. Doch als er frühzeitig stirbt, geraten die vornehm stillen Trauerfeierlichkeiten, die „Reichskunstwart“ Edwin Redslob gestaltet, zum ersten Sieg einer möglichen Republikästhetik. Trotzdem wird Hindenburg „Ersatzkaiser“, und Jähner erläutert, dass sich damit auch Hoffnungen auf Integration konservativer Gesellschaftsteile verbinden – er urteilt nicht ab, sondern beschreibt offene Möglichkeiten.
Die Wirtschaftskatastrophe seit 1930 schildert Jähner von innen: Arbeitslosigkeit bedeutete nicht nur materielles Elend, sondern auch Ehrverlust, Außenseitertum in einer Welt, die Lebensfreude an Arbeit koppelte. Jähner unternimmt parallel einen Exkurs in die neue Industriefotografie, die ein heroischen Bild von Arbeit zeigte, und zwar genau in dem Moment, als sie knapp wurde. Zuvor hatte er die Frauenemanzipation – das geheime Hauptthema des Buches – schon an wechselnden Porträtstilen der Fotografinnen erläutert: mal streng und divenhaft, mal geheimnisvoll weichgezeichnet.
Mode und Schlager werden zum Epochensignum: Um 1930 geht die Zeit des Bubikopfs, der streichholzschlanken Mädchen zu Ende, Locken wallen üppiger, Hüften werden absichtsvoll mit kalorienhaltigen Tabletten aufgepolstert, die Röcke fallen nicht mehr gerade, sie kurven faltig. Der Walzer kommt zurück und verdrängt das Gehampel. Eine neue Rechte formiert sich zunehmend anspruchsvoll kulturkritisch und weiß den arroganten linksradikalen Avantgardisten zu kontern. Hunderte Zeitungen, aber keine geteilte Welt mehr: Die Gesellschaft teilt sich in Filterblasen.
Gewalt rahmt dieses Tableau, die Gewalt der Krisenjahre von 1918 bis 1923 und die Gewalt seit 1930 in den Kampfgruppen der radikalen politischen Parteien. Die Nichtnotwendigkeit der Abläufe, die Jähner immer wieder herausarbeitet, wird von Zahlen belegt: Das republikanische Reichsbanner hatte mehr Mitglieder als alle rechtsradikalen Kampfbünde zusammen. Es fehlte der Republik also weniger an Rückhalt als oft behauptet, sie wurde von den Rändern aus mürbe geschossen und von einer unverantwortlichen Elite systematisch demontiert.
Jähner schreibt witzig, oft aphoristisch. Mit stillem Humor widerspricht er den Miesepetrigkeiten des Kulturkritikers Siegfried Kracauer, dem die Massenkultur auf die Nerven geht, während Jähner ihr Befreiungspotenzial herausarbeitet. Sentenzen erleuchten die Erzählung, Jähner wird zum Tacitus des Stadtfeuilletons: „Man hatte Milliarden in der Tasche und doch ein Loch im Magen“ – so in der Inflation von 1923. „Hitler hatte die Demokratie verstanden und besiegt“ – so zum Krisenjahr 1932.
Daneben stehen die Gründlichkeiten der Kunstinterpretation, beispielsweise die Auslegung des Gruppenbildes „Abend über Potsdam“ von Lotte Laserstein, das Jähner als Allegorie der beendeten Gespräche in einer erschöpften Gesellschaft liest, damit dem Ende der Republik vielleicht doch zu viel tiefere Zwangsläufigkeit zuerkennend. Noch jeder Avantgarderausch hatte seinen Kater, nicht immer musste eine politische Katastrophe darauf folgen.
Dieser „Höhenrausch“, der den Leser mit Hundertschaften von Details, Anekdoten, Aphorismen, Wahrnehmungen und Zahlen bombardiert, beantwortet auch die Frage nach der ungebrochenen Attraktivität der Zwanzigerjahre, die sich in Krimi- und Kaufhausserien zeigt. Wir sehen Menschen, die oft heutig aussehen wie wir, obwohl sie vor hundert Jahren lebten: unstet, partysüchtig, nicht festgelegt auf Rollen, geschlechterfluid, lässig und cool, affizierbar und aufgeregt, vereinzelt und in Massen.
Vieles von dem, was wir heute tun, haben sie zum ersten Mal getan und vorgelebt, vor allem in der Massenkultur, im Sport, in der Freizeit, beim Sex und in technisierten Arbeitswelten. Und sie haben sich mit brillanter Intelligenz dabei selbst beschrieben. Wie toll und unvermittelt reagierten damals Literatur und Feuilleton auf alles Neue! Dieses erste Mal mit seiner erwachsenen Kindlichkeit ist nicht nur frisch und aufregend, es ist sehr rührend. Und sehr traurig ist, dass dieser berauschende, befreiende, anstrengende Aufbruch in einer Menschheitskatastrophe endete, die, so mag man Seite um Seite glauben, etwas ganz und gar Widersinniges hatte.
GUSTAV SEIBT
Nach dem Krieg kam die Tanzwut:
Frauen waren überall, befreit
aus kaiserzeitlichen Zwängen
Der biedere Reichspräsident
Friedrich Ebert leidet
unter akutem Charismamangel
Wie toll und unvermittelt
reagierten damals Literatur
und Feuilleton auf alles Neue!
Die Zwanzigerjahre waren auch Jahre der Frauenemanzipation, der neuen Geschlechterrollen, der Mode, des Tanz. Hier eine Aufnahme von 1926.
Foto: SZ Photo
Harald Jähner: Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen. Rowohlt Berlin, Berlin 2022. 557 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.09.2022So golden waren die Zwanziger nun auch nicht
Jahre der explosiven Unausgeglichenheit: Harald Jähner widmet der Zeit zwischen den Weltkriegen eine kundige und souverän erzählte Darstellung.
Den Titel eines Buches so kurz wie passend zu wählen ist eine eigene Kunst. Harald Jähner gelingt dies nach seinem Buch "Wolfszeit", das den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse erhielt, nun abermals. "Höhenrausch" heißt seine Geschichte Weimars. Sie ist von viel Aufbruchstimmung und Euphorie geprägt, der aber häufig etwas Übersteigertes und Instabiles innewohnte. Ausgelassenheit und Energie des Höhenrausches drohten als Teil der Höhenkrankheit in Niedergeschlagenheit, Wahn und Bewusstlosigkeit umzuschlagen.
Die Analogie zwischen medizinischer und historischer Diagnostik ist aber nicht allzu sehr zu strapazieren. Es liegt Jähner fern, die Zwanzigerjahre als von vornherein verlorene Pathologiegeschichte zu erzählen. Ebenso wenig huldigt er blind dem damaligen Demokratieexperiment. Es gehört zu den Stärken des Buchs, Weimar nicht vorrangig anhand der Fluchtpunkte deutscher Diktatur- oder Demokratiegeschichte auszurichten, sondern vielmehr die Schwebezustände, Zwischenlagen und Widersprüche der Jahre zwischen 1918 und 1933 vor allem entlang der zeitgenössischen Wahrnehmung und Erfahrung zur Geltung zu bringen.
Die Perspektiven der früheren Akteure einzunehmen - ob der frohgemuten oder der geplagten - erfreut sich derzeit einiger Beliebtheit. An die Stelle großer Thesen und langer Linien treten notwendigerweise kurze Sichtweisen, wechselnde Stimmungslagen und subjektive Beobachtungen, die durch einen eher grob gezimmerten politik-, kultur- und gesellschaftsgeschichtlichen Rahmen einzufassen sind. In diese Art von Geschichtsschreibung fügt sich auch Jähners Werk ein. Sein gekonnt komponiertes, gut recherchiertes Weimar-Wimmelbuch funktioniert in seiner episodischen Erzählweise bestens. Zudem wird es durch eine Fotoauswahl, die ein gesondertes Lob verdient, exzellent illustriert. Am Ende aber fehlen neue analytische Ansatzpunkte und frische, zu produktivem Streit anregende Interpretationen.
Ein begnadeter Geschichten- und Geschichtserzähler ist Jähner aber, und es bereitet Vergnügen, sich mit ihm auf eine temporeiche Tour zu begeben. Zwischen Start und Ziel folgt er dabei grundsätzlich der Chronologie, die nur hin und wieder dezent durchbrochen wird. Szenerien aus Revolutions- und Nachkriegszeit machen den Anfang und stehen - wie das gesamte Buch - im Zeichen paradoxer und widerspruchsvoller Konstellationen, die vom Nebeneinander außergewöhnlicher Gewalt und normalen Alltagslebens handeln, von Hass und Hoffnungen, von Zerrissenheit und Einheitssehnsucht. Diese explosive Unausgeglichenheit steigerte sich noch in den Inflationsjahren. "Die Erfahrung vom schleichenden Tod des Geldes", schreibt Jähner, "veränderte die Menschen bis in die Nervenbahnen hinein." Sie litten unter dem "Gefühl einer komplexen Entwirklichung", das über die Jahre der krassen Geldentwertung hinaus anhalten sollte.
Selbst in den Jahren 1924 bis 1929, als es aufwärts ging, blieb diese kollektive Verunsicherung spürbar. Auch deshalb sei die umstandslose Rede von den Roaring Twenties oder Goldenen Zwanzigerjahren ein "Mythos", wie Jähner zu Recht betont. Gleichwohl lebt gerade auch sein Buch von diesem irritierenden Funkeln. Dieser Schein liegt wie feiner Goldstaub auf den meisten Kapiteln, die mindestens unterschwellig so etwas wie eine Weimar-Nostalgie bedienen: ein retrospektives Schwelgen in aufregenden, beschleunigten, so wendungs- wie risikoreichen Zeiten. Manchmal sorgt dies beim Autor für eine Begeisterung, die in sprachlichem Überschwang endet. Etwa, wenn er im an sich gelungenen Kapitel über den neuen Typus der Angestellten den Sekretärinnen an ihren Schreibmaschinen eine "Fingerfertigkeit" attestiert, "die der großer Pianisten ebenbürtig" gewesen sei.
Im Mittelpunkt des Buchs stehen Avantgarden und Veränderungen, das Neue: das Neue Bauen und Wohnen, die Neuen Frauen, die Neuen Menschen, die Neue Sachlichkeit. Dabei lässt Jähner regelmäßig Ambivalenzen hervortreten: So stellt er dem Bauhaus den Heimatschutzstil als eine weitere Form moderner Architektur gegenüber und zeigt, wie doch beide einem "antiornamentalem Geschmacksdiktat" folgten. Er würdigt nicht nur den Bubikopf als äußeres Signum der Geschlechteremanzipation, sondern erinnert auch an den "modernisierten Gretchentyp". Er führt in die Ballhäuser und Vergnügungspaläste einer neuen Unterhaltungskultur, die Shimmy, Charleston und Jazz zelebrierte, ohne dass er unerwähnt lässt, wie selbstverständlich auch Anhänger der neuen Musik von "Nigger-Songs" sprachen.
Sosehr Jähner von den Beobachtungen und zeitdiagnostischen Zeugnissen damaliger Künstler und Intellektueller profitiert, übt er an ihnen doch gerne Kritik. Sie urteilten ihm häufig zu überheblich, verächtlich und miesepetrig. Dem "Weltekel" und den "lustfeindlichen Exerzitien" eines George Grosz oder Otto Dix kann er wenig abgewinnen. Siegfried Kracauers Rede von den großen Tanzlokalen als "Pläsierkasernen" offenbart für Jähner nur die "mimosenhaften Reflexe einer pikierten linken Elite". Der "Weltbühne", dem führenden Blatt einer heimatlosen Linken, ist eines der schwächsten Kapitel gewidmet.
Jähners Werk blüht in den Kapiteln über Weimars vergleichsweise sorgenfreie Mitteljahre regelrecht auf. Die frühen Dreißigerjahre, die Zeit der Weltwirtschaftskrise und der Depression, verlieren diese Unbeschwertheit, und das färbt hier auch auf die Darstellung ab. Seinem Grundanliegen bleibt Jähner aber auch in diesen Abschnitten treu, wenn er Farbtupfer auf eine Geschichte setzt, die er nicht im eintönigen Grau belassen will. So erinnert er an wichtige literarische und musikalische Werke, an Werner Heisenbergs Physik-Nobelpreis 1932 und Max Schmelings Weltmeistertitel im Schwergewichtsboxen, aber auch an demokratische Kampfverbände neben jenen der radikalen Republikverächter, an die Einweihung der Autobahn zwischen Köln und Bonn sowie Vorzeichen einer Entspannung auf dem Arbeitsmarkt.
"Es gehört zur Groteske dieses unwürdigen Endes der Weimarer Republik", urteilt Jähner zutreffend, "dass es objektiv wieder aufwärtsging, als zu viele Menschen die Geduld mit ihr verloren." Er ist überzeugt davon, dass die Chance zur Fortexistenz oder Wiederbelebung der Republik bis zuletzt bestand. Das liest sich wie ein Appell, sich in Krisenzeiten weder Heilsversprechungen noch dem vermeintlichen Schicksal zu ergeben, sondern einen klaren Kopf zu behalten. ALEXANDER GALLUS
Harald Jähner: "Höhenrausch". Das kurze Leben zwischen den Kriegen.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2022. 560 S., Abb., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jahre der explosiven Unausgeglichenheit: Harald Jähner widmet der Zeit zwischen den Weltkriegen eine kundige und souverän erzählte Darstellung.
Den Titel eines Buches so kurz wie passend zu wählen ist eine eigene Kunst. Harald Jähner gelingt dies nach seinem Buch "Wolfszeit", das den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse erhielt, nun abermals. "Höhenrausch" heißt seine Geschichte Weimars. Sie ist von viel Aufbruchstimmung und Euphorie geprägt, der aber häufig etwas Übersteigertes und Instabiles innewohnte. Ausgelassenheit und Energie des Höhenrausches drohten als Teil der Höhenkrankheit in Niedergeschlagenheit, Wahn und Bewusstlosigkeit umzuschlagen.
Die Analogie zwischen medizinischer und historischer Diagnostik ist aber nicht allzu sehr zu strapazieren. Es liegt Jähner fern, die Zwanzigerjahre als von vornherein verlorene Pathologiegeschichte zu erzählen. Ebenso wenig huldigt er blind dem damaligen Demokratieexperiment. Es gehört zu den Stärken des Buchs, Weimar nicht vorrangig anhand der Fluchtpunkte deutscher Diktatur- oder Demokratiegeschichte auszurichten, sondern vielmehr die Schwebezustände, Zwischenlagen und Widersprüche der Jahre zwischen 1918 und 1933 vor allem entlang der zeitgenössischen Wahrnehmung und Erfahrung zur Geltung zu bringen.
Die Perspektiven der früheren Akteure einzunehmen - ob der frohgemuten oder der geplagten - erfreut sich derzeit einiger Beliebtheit. An die Stelle großer Thesen und langer Linien treten notwendigerweise kurze Sichtweisen, wechselnde Stimmungslagen und subjektive Beobachtungen, die durch einen eher grob gezimmerten politik-, kultur- und gesellschaftsgeschichtlichen Rahmen einzufassen sind. In diese Art von Geschichtsschreibung fügt sich auch Jähners Werk ein. Sein gekonnt komponiertes, gut recherchiertes Weimar-Wimmelbuch funktioniert in seiner episodischen Erzählweise bestens. Zudem wird es durch eine Fotoauswahl, die ein gesondertes Lob verdient, exzellent illustriert. Am Ende aber fehlen neue analytische Ansatzpunkte und frische, zu produktivem Streit anregende Interpretationen.
Ein begnadeter Geschichten- und Geschichtserzähler ist Jähner aber, und es bereitet Vergnügen, sich mit ihm auf eine temporeiche Tour zu begeben. Zwischen Start und Ziel folgt er dabei grundsätzlich der Chronologie, die nur hin und wieder dezent durchbrochen wird. Szenerien aus Revolutions- und Nachkriegszeit machen den Anfang und stehen - wie das gesamte Buch - im Zeichen paradoxer und widerspruchsvoller Konstellationen, die vom Nebeneinander außergewöhnlicher Gewalt und normalen Alltagslebens handeln, von Hass und Hoffnungen, von Zerrissenheit und Einheitssehnsucht. Diese explosive Unausgeglichenheit steigerte sich noch in den Inflationsjahren. "Die Erfahrung vom schleichenden Tod des Geldes", schreibt Jähner, "veränderte die Menschen bis in die Nervenbahnen hinein." Sie litten unter dem "Gefühl einer komplexen Entwirklichung", das über die Jahre der krassen Geldentwertung hinaus anhalten sollte.
Selbst in den Jahren 1924 bis 1929, als es aufwärts ging, blieb diese kollektive Verunsicherung spürbar. Auch deshalb sei die umstandslose Rede von den Roaring Twenties oder Goldenen Zwanzigerjahren ein "Mythos", wie Jähner zu Recht betont. Gleichwohl lebt gerade auch sein Buch von diesem irritierenden Funkeln. Dieser Schein liegt wie feiner Goldstaub auf den meisten Kapiteln, die mindestens unterschwellig so etwas wie eine Weimar-Nostalgie bedienen: ein retrospektives Schwelgen in aufregenden, beschleunigten, so wendungs- wie risikoreichen Zeiten. Manchmal sorgt dies beim Autor für eine Begeisterung, die in sprachlichem Überschwang endet. Etwa, wenn er im an sich gelungenen Kapitel über den neuen Typus der Angestellten den Sekretärinnen an ihren Schreibmaschinen eine "Fingerfertigkeit" attestiert, "die der großer Pianisten ebenbürtig" gewesen sei.
Im Mittelpunkt des Buchs stehen Avantgarden und Veränderungen, das Neue: das Neue Bauen und Wohnen, die Neuen Frauen, die Neuen Menschen, die Neue Sachlichkeit. Dabei lässt Jähner regelmäßig Ambivalenzen hervortreten: So stellt er dem Bauhaus den Heimatschutzstil als eine weitere Form moderner Architektur gegenüber und zeigt, wie doch beide einem "antiornamentalem Geschmacksdiktat" folgten. Er würdigt nicht nur den Bubikopf als äußeres Signum der Geschlechteremanzipation, sondern erinnert auch an den "modernisierten Gretchentyp". Er führt in die Ballhäuser und Vergnügungspaläste einer neuen Unterhaltungskultur, die Shimmy, Charleston und Jazz zelebrierte, ohne dass er unerwähnt lässt, wie selbstverständlich auch Anhänger der neuen Musik von "Nigger-Songs" sprachen.
Sosehr Jähner von den Beobachtungen und zeitdiagnostischen Zeugnissen damaliger Künstler und Intellektueller profitiert, übt er an ihnen doch gerne Kritik. Sie urteilten ihm häufig zu überheblich, verächtlich und miesepetrig. Dem "Weltekel" und den "lustfeindlichen Exerzitien" eines George Grosz oder Otto Dix kann er wenig abgewinnen. Siegfried Kracauers Rede von den großen Tanzlokalen als "Pläsierkasernen" offenbart für Jähner nur die "mimosenhaften Reflexe einer pikierten linken Elite". Der "Weltbühne", dem führenden Blatt einer heimatlosen Linken, ist eines der schwächsten Kapitel gewidmet.
Jähners Werk blüht in den Kapiteln über Weimars vergleichsweise sorgenfreie Mitteljahre regelrecht auf. Die frühen Dreißigerjahre, die Zeit der Weltwirtschaftskrise und der Depression, verlieren diese Unbeschwertheit, und das färbt hier auch auf die Darstellung ab. Seinem Grundanliegen bleibt Jähner aber auch in diesen Abschnitten treu, wenn er Farbtupfer auf eine Geschichte setzt, die er nicht im eintönigen Grau belassen will. So erinnert er an wichtige literarische und musikalische Werke, an Werner Heisenbergs Physik-Nobelpreis 1932 und Max Schmelings Weltmeistertitel im Schwergewichtsboxen, aber auch an demokratische Kampfverbände neben jenen der radikalen Republikverächter, an die Einweihung der Autobahn zwischen Köln und Bonn sowie Vorzeichen einer Entspannung auf dem Arbeitsmarkt.
"Es gehört zur Groteske dieses unwürdigen Endes der Weimarer Republik", urteilt Jähner zutreffend, "dass es objektiv wieder aufwärtsging, als zu viele Menschen die Geduld mit ihr verloren." Er ist überzeugt davon, dass die Chance zur Fortexistenz oder Wiederbelebung der Republik bis zuletzt bestand. Das liest sich wie ein Appell, sich in Krisenzeiten weder Heilsversprechungen noch dem vermeintlichen Schicksal zu ergeben, sondern einen klaren Kopf zu behalten. ALEXANDER GALLUS
Harald Jähner: "Höhenrausch". Das kurze Leben zwischen den Kriegen.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2022. 560 S., Abb., geb., 28,- Euro.
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