Thomas Frantz ist Schachboxer, Flaneur aus Instinkt und freier Journalist, der schon bessere Tage gesehen hat. Mit wachsender Wut über den fahrlässigen Bewusstseinszustand der Welt lässt der notorische Chronist sich durch das Großstadtleben treiben: von den Kabbalisten zu schlaflosen Swingern, von der Demo der Prekarianer in die Wettbüros Neuköllns, von der Pecha-Kucha-Nacht in den alten Westen, der wortwörtlich abkackt. Die neue Formlosigkeit lässt ihn verzweifeln: Er versteht nicht, dass die ehemalige SED-Verwaltungszentrale - zuvor das Hauptquartier der Hitlerjugend und davor Kaufhaus jüdischer Geschäftsleute - jetzt von Londoner Heuschrecken mit großzügiger Ignoranz gegenüber den Grausamkeiten der Geschichte in einen Society-Club und Wellnesstempel umgebaut wird. Wie überhaupt Berlin zu einem gewaltigen Spielplatz mutiert ist, dessen Bewohner in Streetart oder Esoterik Lebenssinn suchen. Da fegt die junge Doktorandin Sandra durch sein Leben wie der Hurricane Katrina: Könnte für ihn doch alles noch einmal anders werden?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.06.2012Die unfertige Stadt
Gepflegtes Ressentiment: Helmut Kuhn erzählt in seinem Berlin-Roman über "Gehwegschäden", Schachboxen für Gestresste und Deodorants für Kneipengänger.
Schachboxen ist im neuen Roman von Helmut Kuhn die Disziplin der Stunde. Zum Schachboxen müssen alle, "die mit Anfang dreißig schon fast am Ende sind": Geburnoutete, urbane Prekäre, Zukurzgekommene - ganz normale Berliner eben. Sie versammeln sich, um einmal ordentlich auf den Solarplexus zu kriegen. Es dient ja dem guten Zweck, der Entfremdung unter dem eigenen Nervenkostüm wieder Herr zu werden. Schlag auf Schlag und anschließend beim Schach dann Zug um Zug. Also immer im Wechsel. "So geht das." Kuhn hat diesen Satz zum Dauerornament seines teilweise euphorisch gefeierten Berlin-Romans erkoren. Exemplarisch steht er für eine Poetologie des Investigativen. Aufgedeckt wird der soziale, der psychische, der politische, ganz allgemein der systemische Missstand, denn über den Makel, das wissen Besucher von Stammtischen, lässt sich vorzüglich mäkeln. Und so ist es nicht verwunderlich, in dem schachboxenden Romanhelden einen Journalisten zu erkennen, ein künstlerisch verfremdetes Alter Ego des Autors selbst.
Und so geht das: Thomas Frantz ist besagter Hauptstadtbewohner, tätig als Reporter für die "Jüdische Allgemeine", etwas angegraut, "kein Hai, kein Hering" sondern "irgendwas dazwischen", ein wenig bequem und sich seiner krisenhaften Existenz gewahr. Da warten keine Kinder am Küchentisch, nur ein Inkassounternehmen, das angestaute Schulden eintreibt. Deswegen muss dieser Franz-Biberkopf-Nachfahre die drängenden Lebensfragen beim Schachboxen klären. "Es geht nicht um Fitness. Es geht nicht um den Body, mit dem man aussieht wie aus der Deodorantwerbung. Ziel des Schachboxens ist nicht das Sixpack auf dem Cover von ,Men's Health'. Das ist eine Zeitschrift für Idioten, die noch in Ronald Reagans Supi-Yuppie-Zeitalter leben und glauben, durch Schönheit und Fitness Reichtum und Glück zu erlangen." Gut, dass dieser Irrglaube nun endlich benannt ist.
Tatsächlich hat der bierselige Frantz wenig mit einem Deodorant-Model gemein. Schon eher mit einem, der ein Deodorant gebrauchen könnte. Frantz treibt sich gerne in Spelunken herum. Zusammen mit seinen Tresenfreunden Fred, Ansgar oder dem "Schweizer" werden dort sozialromantische Balladen gesungen. Man wird den Verdacht nicht los, dass früher alles besser gewesen sein muss. "Wenn du vor zwanzig Jahren in eine Kreuzberger Kneipe gingst und sagtest, du bist ein Sozialarbeiter, warst du ein Held. Wenn du in dieselbe Kneipe gingst und sagtest, du bist ein Werber, warst du ein Arschloch. Gehst du heute in die Kneipe, ist der Werber der Zampano und der Sozialarbeiter ein Idiot." Ja, wenn das so ist! Aber, fragt sich der sozialkritische Leser, ist das wirklich so? Offensichtlich handelt es sich hier nicht um vorsätzliche Rollenprosa. Vielmehr scheint es Kuhn um eine Form engagierter Literatur zu gehen, in der soziale Missstände (die titelgebenden "Gehwegschäden") benannt werden und - nun ja - was darüber hinaus?
Dieser Thomas Frantz ist Teil des Problems, das er beschreibt. Er "saugt alles auf wie ein Schwamm" und nährt dabei seine Zweifel. Ein Verzweifelter, der die Schwachstellen des Systems (Google, Shell, Bertelsmann) erkennt, sich aber unfähig zum Eingreifen fühlt und den Gedanken daran wegwischt. Also geht er in die Kneipe und doziert. Etwa über das ehemalige jüdische Kaufhaus Jonass, in das nach der Enteignung die NS-Reichsjugendführung eingezogen war und in dem es sich später der SED-Vorstand bequem machte, bevor das Gebäude an der Prenzlauer Allee einem ausländischen Investor in die Hände fiel, der derzeit mit dem Soho House einen erlesenen Gentlemen's Club mit Dachterrasse, Pool und Fitnessstudio betreibt. Was daran wirklich böse sein soll, weiß Frantz nach seiner Recherche auch nicht mehr. Doch "Heuschrecken" gilt es grundsätzlich mit Argwohn zu bekämpfen, denn damit steht der Stammtischsozialist im Zweifel auf der richtigen Seite.
Berlin ist in diesem Zusammenhang nicht irgendeine Stadt. Es ist die Stadt der unfertigen Architektur und der unfertigen Existenzen, rilkesch ausgedrückt "das Gebilde, das nie ist und immer nur wird". Eine Stadt zum Verzweifeln, für den, der Ganzheit wünscht. Thomas Frantz, der teilnahmslose Beobachter, adressiert in seiner Klage eine ominöse Übermacht. "Sie" haben sich den "Markt zum Götzen" gemacht. "Sie" treiben die Schulden armer Schlucker ein. Kurz: "Sie" sind die, die das Sagen haben, und "die, die das sagen haben, kann Frantz nicht leiden". Was also tun?
Das wird im Roman nicht aufgelöst und so kann sich an ihm erfreuen, wer oft gehörte Biomarkt-Anekdoten noch schätzt. Für diejenigen, die darin keine Biberkopfsche Großstadtbewusstseinserweiterung erkennen, und trotzdem weiterlesen, gilt vermutlich dieser Satz: "Eben deshalb bleib ich ja dran. Ich will wissen, ob sich tatsächlich alles wiederholt." Er stammt von der Zwergin Cynthia, einer glühenden Anhängerin der Serie "Sturm der Liebe". Affirmation ist hier Programm. Am Ende bleibt trotz markerschütternder Turbulenzen alles, wie es ist und immer war. Die da oben lassen es ja auch gar nicht anders zu. So ist das mit dem Ressentiment.
KATHARINA TEUTSCH
Helmut Kuhn: "Gehwegschäden". Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2012. 440 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gepflegtes Ressentiment: Helmut Kuhn erzählt in seinem Berlin-Roman über "Gehwegschäden", Schachboxen für Gestresste und Deodorants für Kneipengänger.
Schachboxen ist im neuen Roman von Helmut Kuhn die Disziplin der Stunde. Zum Schachboxen müssen alle, "die mit Anfang dreißig schon fast am Ende sind": Geburnoutete, urbane Prekäre, Zukurzgekommene - ganz normale Berliner eben. Sie versammeln sich, um einmal ordentlich auf den Solarplexus zu kriegen. Es dient ja dem guten Zweck, der Entfremdung unter dem eigenen Nervenkostüm wieder Herr zu werden. Schlag auf Schlag und anschließend beim Schach dann Zug um Zug. Also immer im Wechsel. "So geht das." Kuhn hat diesen Satz zum Dauerornament seines teilweise euphorisch gefeierten Berlin-Romans erkoren. Exemplarisch steht er für eine Poetologie des Investigativen. Aufgedeckt wird der soziale, der psychische, der politische, ganz allgemein der systemische Missstand, denn über den Makel, das wissen Besucher von Stammtischen, lässt sich vorzüglich mäkeln. Und so ist es nicht verwunderlich, in dem schachboxenden Romanhelden einen Journalisten zu erkennen, ein künstlerisch verfremdetes Alter Ego des Autors selbst.
Und so geht das: Thomas Frantz ist besagter Hauptstadtbewohner, tätig als Reporter für die "Jüdische Allgemeine", etwas angegraut, "kein Hai, kein Hering" sondern "irgendwas dazwischen", ein wenig bequem und sich seiner krisenhaften Existenz gewahr. Da warten keine Kinder am Küchentisch, nur ein Inkassounternehmen, das angestaute Schulden eintreibt. Deswegen muss dieser Franz-Biberkopf-Nachfahre die drängenden Lebensfragen beim Schachboxen klären. "Es geht nicht um Fitness. Es geht nicht um den Body, mit dem man aussieht wie aus der Deodorantwerbung. Ziel des Schachboxens ist nicht das Sixpack auf dem Cover von ,Men's Health'. Das ist eine Zeitschrift für Idioten, die noch in Ronald Reagans Supi-Yuppie-Zeitalter leben und glauben, durch Schönheit und Fitness Reichtum und Glück zu erlangen." Gut, dass dieser Irrglaube nun endlich benannt ist.
Tatsächlich hat der bierselige Frantz wenig mit einem Deodorant-Model gemein. Schon eher mit einem, der ein Deodorant gebrauchen könnte. Frantz treibt sich gerne in Spelunken herum. Zusammen mit seinen Tresenfreunden Fred, Ansgar oder dem "Schweizer" werden dort sozialromantische Balladen gesungen. Man wird den Verdacht nicht los, dass früher alles besser gewesen sein muss. "Wenn du vor zwanzig Jahren in eine Kreuzberger Kneipe gingst und sagtest, du bist ein Sozialarbeiter, warst du ein Held. Wenn du in dieselbe Kneipe gingst und sagtest, du bist ein Werber, warst du ein Arschloch. Gehst du heute in die Kneipe, ist der Werber der Zampano und der Sozialarbeiter ein Idiot." Ja, wenn das so ist! Aber, fragt sich der sozialkritische Leser, ist das wirklich so? Offensichtlich handelt es sich hier nicht um vorsätzliche Rollenprosa. Vielmehr scheint es Kuhn um eine Form engagierter Literatur zu gehen, in der soziale Missstände (die titelgebenden "Gehwegschäden") benannt werden und - nun ja - was darüber hinaus?
Dieser Thomas Frantz ist Teil des Problems, das er beschreibt. Er "saugt alles auf wie ein Schwamm" und nährt dabei seine Zweifel. Ein Verzweifelter, der die Schwachstellen des Systems (Google, Shell, Bertelsmann) erkennt, sich aber unfähig zum Eingreifen fühlt und den Gedanken daran wegwischt. Also geht er in die Kneipe und doziert. Etwa über das ehemalige jüdische Kaufhaus Jonass, in das nach der Enteignung die NS-Reichsjugendführung eingezogen war und in dem es sich später der SED-Vorstand bequem machte, bevor das Gebäude an der Prenzlauer Allee einem ausländischen Investor in die Hände fiel, der derzeit mit dem Soho House einen erlesenen Gentlemen's Club mit Dachterrasse, Pool und Fitnessstudio betreibt. Was daran wirklich böse sein soll, weiß Frantz nach seiner Recherche auch nicht mehr. Doch "Heuschrecken" gilt es grundsätzlich mit Argwohn zu bekämpfen, denn damit steht der Stammtischsozialist im Zweifel auf der richtigen Seite.
Berlin ist in diesem Zusammenhang nicht irgendeine Stadt. Es ist die Stadt der unfertigen Architektur und der unfertigen Existenzen, rilkesch ausgedrückt "das Gebilde, das nie ist und immer nur wird". Eine Stadt zum Verzweifeln, für den, der Ganzheit wünscht. Thomas Frantz, der teilnahmslose Beobachter, adressiert in seiner Klage eine ominöse Übermacht. "Sie" haben sich den "Markt zum Götzen" gemacht. "Sie" treiben die Schulden armer Schlucker ein. Kurz: "Sie" sind die, die das Sagen haben, und "die, die das sagen haben, kann Frantz nicht leiden". Was also tun?
Das wird im Roman nicht aufgelöst und so kann sich an ihm erfreuen, wer oft gehörte Biomarkt-Anekdoten noch schätzt. Für diejenigen, die darin keine Biberkopfsche Großstadtbewusstseinserweiterung erkennen, und trotzdem weiterlesen, gilt vermutlich dieser Satz: "Eben deshalb bleib ich ja dran. Ich will wissen, ob sich tatsächlich alles wiederholt." Er stammt von der Zwergin Cynthia, einer glühenden Anhängerin der Serie "Sturm der Liebe". Affirmation ist hier Programm. Am Ende bleibt trotz markerschütternder Turbulenzen alles, wie es ist und immer war. Die da oben lassen es ja auch gar nicht anders zu. So ist das mit dem Ressentiment.
KATHARINA TEUTSCH
Helmut Kuhn: "Gehwegschäden". Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2012. 440 S., geb., 22,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ressentimentgeladen und leider ohne Lösung, so urteilt Katharina Teutsch über diesen Berlin-Roman von Helmut Kühn. Für einen neuen Franz Biberkopf reicht es bei Kühn nicht, wie Teutsch zu verstehen gibt, sein Held ist ein schachboxender Sozialromantiker, ein Stammtischsozialist, der selbst Teil des Problems ist, gegen das er losschwadroniert, wie Teutsch kritisch feststellt. Die ewigen Biomarkt-Anekdoten kann sie nicht mehr hören, und so bleibt es ihr schleierhaft, wieso dieser Roman so gefeiert wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
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