Ein wohlsituierter New Yorker Geschäftsmann stürzt urplötzlich in eine mentale Krise. Um zu gesunden, so spürt er, muss er seinen von grauem Erfolg geprägten Alltag hinter sich lassen, und kurzerhand tritt er eine Schiffsreise an. Kaum auf See, stellt sich die erhoffte Erleichterung tatsächlich ein, doch dann ... macht er einen einzigen falschen Schritt und landet mitten im Pazifik, während sein Schiff sich immer weiter von ihm entfernt. Was denkt ein Mensch in solch einer Situation? Woraus schöpft er Hoffnung? Und wie blickt er nun auf sein Leben, dessen er vor Kurzem noch so überdrüssig war?Mit Gentleman über Bord gelang Herbert Clyde Lewis ein tiefgründiges, genial komponiertes Meisterwerk, das fast ein Jahrhundert lang weitgehend unbeachtet blieb und in der vorzüglichen Übersetzung von Klaus Bonn jetzt endlich auf Deutsch vorliegt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.03.2023Ins Wasser
Was denkt einer, der von einem Schiff ins Meer fällt?
Herbert Clyde Lewis ergründet das 1937 im Roman „Gentleman über Bord“.
Eine großartige Wiederentdeckung
VON CHRISTIANE LUTZ
Der sanft bewegte Pazifik, das endlose Blau, die aufgehende Sonne und weit und breit keine Menschenseele. Bis auf eine. Es ist Henry Preston Standish, der da im Ozean treibt, nachdem er kopfüber hineingefallen war. „Das Meer war so still wie eine Lagune, das Wetter so mild und die Brise so sanft, dass man nicht umhin kam, sich auf wunderbare Art traurig zu fühlen.“
Mit dieser bedrückend-skurrilen Szene beginnt der Roman mit dem sehr unsubtilen Titel „Gentleman über Bord“ von Herbert Clyde Lewis. Der Mare-Verlag, wo der Roman erschienen ist, hat damit einen kleinen literarischen Schatz gehoben. Fast wäre der den Lesern vorenthalten worden, denn der Roman entstand schon 1937, es hat sich nur niemand für ihn interessiert, dies ist die erste Übersetzung ins Deutsche überhaupt.
Was man über den Autor Spärliches findet: Herbert Clyde Lewis wurde 1909 als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer in Brooklyn geboren. Er arbeitete als Sportjournalist, war Reporter in Shanghai, schrieb für den Mirror und das Time Magazine und landete als Drehbuchautor in Hollywood, wo er sogar einmal für einen Oscar nominiert war. Lewis starb 1950, ohne, dass einer seiner vier Romane viel Beachtung gefunden hätte.
Hier hätte die Geschichte enden können. Schlimme Vorstellung.
Dass sie das nicht tut, ist auch den Bemühungen Brad Bigelows zu verdanken. Der Brite betreibt das Blog „Neglected Books“, auf dem er Werbung für seiner Meinung nach zu Unrecht von der Welt ignorierte Werke macht. Im winzigen Verlag Boiler House Press in Norwich hat Bigelow die kleine Reihe „Recovered Books Series“ mit kuratiert, „Gentleman über Bord“ ist ein Teil davon. So wurde der Mare-Verlag aufmerksam, Klaus Bonn hat den Roman übersetzt.
Herbert Clyde Lewis erzählt darin dann ziemlich genial ziemlich genau das, was außen draufsteht: Ein Gentleman geht erst an Bord und dann über Bord. Er erzählt das voll Lakonie und mit Ironie, mit sprachlicher Nüchternheit, aber doch mit einer Wärme, frei von Spott. Es ist kein Thriller, kein Krimi, auch weil auf der ersten Seite schon klar wird, dass es höchstwahrscheinlich schlecht ausgeht.
Denn obwohl Henry Preston Standish keinerlei Grund hat, sterben zu wollen, sieht es doch sehr danach aus, an diesem sehr frühen Morgen irgendwo zwischen Hawaii und Panama, wo er im Pazifik paddelt, während sein Schiff, die S.S. Arabella, unbeirrt Richtung Horizont zieht. Der Sturz ist ein dummes Missgeschick, ein Ölfleck an Deck. Es irritiert ihn selbst: „Männer vom Schlage Henry Preston Standishs stürzten nicht einfach so von einem Schiff mitten in den Ozean. So etwas macht man schlichtweg nicht, das war alles“, denkt er.
In Standishs Welt sind Missgeschicke wie dieses nicht vorgesehen. Es sind die späten Dreißigerjahre im pulsierenden New York, die Börse erholt sich langsam nach dem Crash. Standish ist erfolgreicher Börsenbroker, verheiratet, zwei Kinder. Er entstammt einer gut situierten Familie, macht Sport, besucht Herrenclubs. Ein bisschen langweilig, aber glücklich. Allerdings ist der Grund für Standishs Schiffsreise ein erstes Anzeichen dafür, dass eine Ordnung bereits gestört ist: Er hat, was man heute als Depression bezeichnen würde. Eine Schwermut, die er glaubt, nur am Meer überwinden zu können. Seine Frau lässt ihn ziehen.
Auf 170 Seiten begleitet der Leser Standish unmittelbar dabei, wie ihm das horrende Ausmaß dessen bewusst wird, was gerade passiert. Seine ursprüngliche peinliche Berührung weicht Zuversicht – „Sie würden (...) das Schiff umwenden, um nach ihm zu suchen“, er stellt sich vor, wie er seiner Familie von dem Missgeschick erzählt. Die Zuversicht weicht Traurigkeit und Resignation – „Er fühlte sich im Sterben liegen, und er dachte, dass er sich freute“ – und endet schließlich im Wahnsinn der Todesangst. Ein Wandel, der sich synchron zum Verlauf eines langen Tages vollzieht, mit jeder Seemeile, die sich die Arabella entfernt, wächst seine Unruhe.
An Bord des Schiffs geht der Tag derweil seinen gewohnten Gang, zunächst bemerkt niemand, dass einer fehlt. Lewis skizziert die Passagiere und die Crew als Vertreter unterschiedlicher Klassen, den Captain Bell, die kinderreiche Mrs Benson, den allein reisenden Farmer Nat Adams, der noch mal was sehen will von der Welt und mit dem Standish eine freundliche Bekanntschaft pflegt. Sie sind Zeugen von Standishs Tadellosigkeit und für ihn ein ungewohnter Kontakt zu Menschen außerhalb seiner Blase. Als sie sein Fehlen bemerken, erscheint ihnen Selbstmord wahrscheinlicher als ein Unglück (siehe oben: So was passiert nicht!). Der Kapitän steuert schließlich tatsächlich um, aus beruflichem Pflichtbewusstsein. Ein aussichtsloses Unterfangen, das weiß er.
Lewis rührt in „Gentleman über Bord“ tief an die existenzielle Angst vor dem Tod und an den Unwillen, diese Störung der Ordnung hinzunehmen. Eine Ordnung, derer man sich doch so sicher wähnte, aus Hybris, aus Gewohnheit, aus mangelnder Vorstellungskraft. Nicht mal die schiere Übermacht der Natur überzeugt Standish sofort, dass hier eine Katastrophe passiert. Diese Natur kommt ja nicht einmal besonders bedrohlich daher, das Wasser ist warm genug, dass er es stundenlang darin aushalten kann. Doch wenn ein Einzelner langfristig nicht mal dagegen eine Chance hat, muss er irgendwann einsehen, dass er ein „kümmerliches Bündel Leben in einer so unermesslichen Welt“ ist. Oder, wie es ein Matrose später ausdrückt: „Und es war so lustig, wie das Meer sie in ihre Schranken verwies, leichter als ein Elefant, der auf eine Ameise tritt.“
Jämmerlich wirkt im Wasser das Zubehör seines Lebens an Land. Und als diese Erkenntnis einsickert, wirft Standish auch seine Klamotten ab, die durchnässten Reiseschecks, die Membership-Karten. Alle Versuche, rational auf eine irrationale Katastrophe zu reagieren, müssen scheitern. Das ist immer wieder komisch in seiner Tragik, man denkt an Samuel Beckett, der sich mit Begeisterung Unglücken aller Art ausdachte und schwerst geknechtete Figuren schuf, die dennoch eisern am Leben festhalten.
Indem Standish aber binnen einer Sekunde von einem Zustand der Sicherheit in die totale Unsicherheit kippt, ist er herausgelöst aus jeder Ordnung. Der Roman zeigt keinen lang gezogenen Sterbevorgang, sondern die Stationen der Bewusstwerdung, das menschliche Ringen mit der Tatsache, dass es keine Sicherheiten gibt. Deshalb ist „Gentleman über Bord“ sowohl Komödie als auch Tragödie, eine existenzialistische Geschichte über die Brüchigkeit vermeintlicher Gewissheiten. „Er wusste jetzt auch, dass es nichts annähernd so schreckliches gab wie den Umstand, der letzte Mensch auf einer flachen Erde zu sein. Allein genau in der Mitte eines zum Wahnsinn treibenden Kreises“, denkt Henry Preston Standish am Ende. Und diesem Ende freilich sind alle Bemühungen egal.
Damals nannte man Depressionen
noch Schwermut. Und glaubte, sie
am Meer überwinden zu können
Der Roman zeigt keinen langen
Sterbevorgang, sondern Stationen
einer Bewusstwerdung
Nur blau, oben wie unten, und keine Menschenseele weit und breit. Oder doch eine?
Foto: imago
Herbert Clyde Lewis: Gentleman über Bord. Roman. Mare-Verlag, Hamburg 2023. 176 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Was denkt einer, der von einem Schiff ins Meer fällt?
Herbert Clyde Lewis ergründet das 1937 im Roman „Gentleman über Bord“.
Eine großartige Wiederentdeckung
VON CHRISTIANE LUTZ
Der sanft bewegte Pazifik, das endlose Blau, die aufgehende Sonne und weit und breit keine Menschenseele. Bis auf eine. Es ist Henry Preston Standish, der da im Ozean treibt, nachdem er kopfüber hineingefallen war. „Das Meer war so still wie eine Lagune, das Wetter so mild und die Brise so sanft, dass man nicht umhin kam, sich auf wunderbare Art traurig zu fühlen.“
Mit dieser bedrückend-skurrilen Szene beginnt der Roman mit dem sehr unsubtilen Titel „Gentleman über Bord“ von Herbert Clyde Lewis. Der Mare-Verlag, wo der Roman erschienen ist, hat damit einen kleinen literarischen Schatz gehoben. Fast wäre der den Lesern vorenthalten worden, denn der Roman entstand schon 1937, es hat sich nur niemand für ihn interessiert, dies ist die erste Übersetzung ins Deutsche überhaupt.
Was man über den Autor Spärliches findet: Herbert Clyde Lewis wurde 1909 als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer in Brooklyn geboren. Er arbeitete als Sportjournalist, war Reporter in Shanghai, schrieb für den Mirror und das Time Magazine und landete als Drehbuchautor in Hollywood, wo er sogar einmal für einen Oscar nominiert war. Lewis starb 1950, ohne, dass einer seiner vier Romane viel Beachtung gefunden hätte.
Hier hätte die Geschichte enden können. Schlimme Vorstellung.
Dass sie das nicht tut, ist auch den Bemühungen Brad Bigelows zu verdanken. Der Brite betreibt das Blog „Neglected Books“, auf dem er Werbung für seiner Meinung nach zu Unrecht von der Welt ignorierte Werke macht. Im winzigen Verlag Boiler House Press in Norwich hat Bigelow die kleine Reihe „Recovered Books Series“ mit kuratiert, „Gentleman über Bord“ ist ein Teil davon. So wurde der Mare-Verlag aufmerksam, Klaus Bonn hat den Roman übersetzt.
Herbert Clyde Lewis erzählt darin dann ziemlich genial ziemlich genau das, was außen draufsteht: Ein Gentleman geht erst an Bord und dann über Bord. Er erzählt das voll Lakonie und mit Ironie, mit sprachlicher Nüchternheit, aber doch mit einer Wärme, frei von Spott. Es ist kein Thriller, kein Krimi, auch weil auf der ersten Seite schon klar wird, dass es höchstwahrscheinlich schlecht ausgeht.
Denn obwohl Henry Preston Standish keinerlei Grund hat, sterben zu wollen, sieht es doch sehr danach aus, an diesem sehr frühen Morgen irgendwo zwischen Hawaii und Panama, wo er im Pazifik paddelt, während sein Schiff, die S.S. Arabella, unbeirrt Richtung Horizont zieht. Der Sturz ist ein dummes Missgeschick, ein Ölfleck an Deck. Es irritiert ihn selbst: „Männer vom Schlage Henry Preston Standishs stürzten nicht einfach so von einem Schiff mitten in den Ozean. So etwas macht man schlichtweg nicht, das war alles“, denkt er.
In Standishs Welt sind Missgeschicke wie dieses nicht vorgesehen. Es sind die späten Dreißigerjahre im pulsierenden New York, die Börse erholt sich langsam nach dem Crash. Standish ist erfolgreicher Börsenbroker, verheiratet, zwei Kinder. Er entstammt einer gut situierten Familie, macht Sport, besucht Herrenclubs. Ein bisschen langweilig, aber glücklich. Allerdings ist der Grund für Standishs Schiffsreise ein erstes Anzeichen dafür, dass eine Ordnung bereits gestört ist: Er hat, was man heute als Depression bezeichnen würde. Eine Schwermut, die er glaubt, nur am Meer überwinden zu können. Seine Frau lässt ihn ziehen.
Auf 170 Seiten begleitet der Leser Standish unmittelbar dabei, wie ihm das horrende Ausmaß dessen bewusst wird, was gerade passiert. Seine ursprüngliche peinliche Berührung weicht Zuversicht – „Sie würden (...) das Schiff umwenden, um nach ihm zu suchen“, er stellt sich vor, wie er seiner Familie von dem Missgeschick erzählt. Die Zuversicht weicht Traurigkeit und Resignation – „Er fühlte sich im Sterben liegen, und er dachte, dass er sich freute“ – und endet schließlich im Wahnsinn der Todesangst. Ein Wandel, der sich synchron zum Verlauf eines langen Tages vollzieht, mit jeder Seemeile, die sich die Arabella entfernt, wächst seine Unruhe.
An Bord des Schiffs geht der Tag derweil seinen gewohnten Gang, zunächst bemerkt niemand, dass einer fehlt. Lewis skizziert die Passagiere und die Crew als Vertreter unterschiedlicher Klassen, den Captain Bell, die kinderreiche Mrs Benson, den allein reisenden Farmer Nat Adams, der noch mal was sehen will von der Welt und mit dem Standish eine freundliche Bekanntschaft pflegt. Sie sind Zeugen von Standishs Tadellosigkeit und für ihn ein ungewohnter Kontakt zu Menschen außerhalb seiner Blase. Als sie sein Fehlen bemerken, erscheint ihnen Selbstmord wahrscheinlicher als ein Unglück (siehe oben: So was passiert nicht!). Der Kapitän steuert schließlich tatsächlich um, aus beruflichem Pflichtbewusstsein. Ein aussichtsloses Unterfangen, das weiß er.
Lewis rührt in „Gentleman über Bord“ tief an die existenzielle Angst vor dem Tod und an den Unwillen, diese Störung der Ordnung hinzunehmen. Eine Ordnung, derer man sich doch so sicher wähnte, aus Hybris, aus Gewohnheit, aus mangelnder Vorstellungskraft. Nicht mal die schiere Übermacht der Natur überzeugt Standish sofort, dass hier eine Katastrophe passiert. Diese Natur kommt ja nicht einmal besonders bedrohlich daher, das Wasser ist warm genug, dass er es stundenlang darin aushalten kann. Doch wenn ein Einzelner langfristig nicht mal dagegen eine Chance hat, muss er irgendwann einsehen, dass er ein „kümmerliches Bündel Leben in einer so unermesslichen Welt“ ist. Oder, wie es ein Matrose später ausdrückt: „Und es war so lustig, wie das Meer sie in ihre Schranken verwies, leichter als ein Elefant, der auf eine Ameise tritt.“
Jämmerlich wirkt im Wasser das Zubehör seines Lebens an Land. Und als diese Erkenntnis einsickert, wirft Standish auch seine Klamotten ab, die durchnässten Reiseschecks, die Membership-Karten. Alle Versuche, rational auf eine irrationale Katastrophe zu reagieren, müssen scheitern. Das ist immer wieder komisch in seiner Tragik, man denkt an Samuel Beckett, der sich mit Begeisterung Unglücken aller Art ausdachte und schwerst geknechtete Figuren schuf, die dennoch eisern am Leben festhalten.
Indem Standish aber binnen einer Sekunde von einem Zustand der Sicherheit in die totale Unsicherheit kippt, ist er herausgelöst aus jeder Ordnung. Der Roman zeigt keinen lang gezogenen Sterbevorgang, sondern die Stationen der Bewusstwerdung, das menschliche Ringen mit der Tatsache, dass es keine Sicherheiten gibt. Deshalb ist „Gentleman über Bord“ sowohl Komödie als auch Tragödie, eine existenzialistische Geschichte über die Brüchigkeit vermeintlicher Gewissheiten. „Er wusste jetzt auch, dass es nichts annähernd so schreckliches gab wie den Umstand, der letzte Mensch auf einer flachen Erde zu sein. Allein genau in der Mitte eines zum Wahnsinn treibenden Kreises“, denkt Henry Preston Standish am Ende. Und diesem Ende freilich sind alle Bemühungen egal.
Damals nannte man Depressionen
noch Schwermut. Und glaubte, sie
am Meer überwinden zu können
Der Roman zeigt keinen langen
Sterbevorgang, sondern Stationen
einer Bewusstwerdung
Nur blau, oben wie unten, und keine Menschenseele weit und breit. Oder doch eine?
Foto: imago
Herbert Clyde Lewis: Gentleman über Bord. Roman. Mare-Verlag, Hamburg 2023. 176 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.05.2023Diese Seefahrt ist nicht lustig
Durstig im größten Gewässer der Welt: Bei Herbert Clyde Lewis geht ein "Gentleman über Bord".
Ach, noch einmal den wunderbaren Sonnenuntergang anschauen! Aber Vorsicht, Ölfleck an Deck, und, hast du's nicht gesehen, schon landet man im Wasser, genauer gesagt: im Pazifik! Da braucht man nicht einmal einen Albatros angeschossen zu haben, derart gemein kann das Schicksal einen strafen.
So ungefähr beginnt der im Original bereits 1937 erschienene kurze Roman "Gentleman über Bord" ("Gentleman Overboard") von Herbert Clyde Lewis. Der heute hinlänglich unbekannte Autor, Sohn einer aus Russland stammenden jüdischen Einwandererfamilie in New York, arbeitete als Reporter Anfang der Dreißigerjahre in China, dann in den Vereinigten Staaten. Gerade als sein erster Roman, eben "Gentleman Overboard" erschien, war Lewis in den Privatkonkurs geschlittert, zog nach Hollywood, schrieb Drehbücher, wurde für seinen Beitrag zum Film "Ein Leben wie ein Millionär" (1947, Originaltitel: "It Happened on 5th Avenue", deutscher Alternativtitel: "Der reichste Mann der Welt") mit seinem Ko-Autor Frederick Stephani für den Oscar nominiert (den sie aber nicht gewannen) und verstarb mit gerade einmal einundvierzig Jahren 1950 an einem Herzinfarkt. Sein letzter, vierter Roman, "The Silver Dark", kam 1959 postum heraus. Dennoch ein ziemlich bewegtes Leben.
Auf eine weniger bewegte Biographie muss sein Protagonist Henry Preston Standish, Mitte dreißig, Aktienmakler, verheiratet, zwei kleine Kinder, zurückblicken, als er da im Stillen Ozean vor sich hin planscht. Eben noch, da war es laut Borduhr etwa fünf in der Frühe, an Deck der "Arabella", eigentlich ein Frachtschiff, das aber wegen des Umsatzes stets auch rund ein Dutzend Passagiere - im konkreten Fall sind es acht, Standish miteingeschlossen - befördert, muss er zuschauen, wie das Schiff gemächlich am Horizont verschwindet. Niemand hat seinen Unfall in dieser frühen Stunde bemerkt, wach war ohnehin bloß der Smutje. Und der kümmerte sich bereits um das Frühstück, achtete also nicht auf den Frühaufsteher.
In insgesamt zehn Kapiteln schildert Lewis abwechselnd, was Standish so durch den Kopf geht - wieso ist er überhaupt auf diese Reise gegangen? Ach ja, sein Leben war ihm irgendwie zu langweilig geworden! - und was die übrigen Leute, Mannschaft und Passagiere, tun. Einige vermissen ihn übrigens schon um die Mittagszeit, aber machen sich noch keine wirklichen Sorgen. Der Kapitän erfährt überhaupt erst am mittleren Nachmittag, dass Standish verschwunden zu sein scheint, und wird eher grantig, da er nun vermutlich das Schiff wenden lassen muss, um nach dem Typen zu suchen.
Mit doch ziemlich schwarzem Humor, aber keineswegs ohne zumindest ein bisserl Mitgefühl erzählt Lewis von den recht aussichtslosen Plänen, die Henry Preston Standish fasst und meist bald wieder verwirft, von seinen Erinnerungen an Frau und Kinder und Geschäftspartner und seinen wirren Gedankenspielen, wie sie dann wohl auf die Nachricht seines Ertrinkens reagieren werden. Wird sein Fauteuil, in dem er abends immer Zeitungen und Magazine gelesen hat, je wieder benutzt werden? Wie schaut wohl ein Begräbnis für jemanden aus, der auf See verschwunden ist? Irgendwann bemerkt er dann auch, wie durstig er ist und wie lächerlich das wiederum ist, mitten im größten Gewässer des Erdballs auf dem Rücken liegend, beinahe nackt - vom Großteil seiner Kleidung hat er sich, aus Gründen des Gewichts nassen Stoffes, also an sich nicht völlig unvernünftig, bereits getrennt - dahinzutreiben, aber nichts von all dem Wasser trinken zu können.
In seinem Nachwort attestiert Jochen Schimmang der Erzählung viel Empathie für alle - mit der Ausnahme eines ebenfalls auf der "Arabella" mitreisenden bigotten, evangelikalen Missionarspaares - und schließt mit dem Satz: "Der Roman ist eben das Meisterwerk, das er hätte werden können." Nun, das mag etwas zu hoch gegriffen sein, aber unterhaltsam ist "Gentleman über Bord" auf jeden Fall und gibt auch ein schönes Abbild der Gedankenwelt eines großen Teiles der aufstrebenden Mittelschicht der Vereinigten Staaten im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts. Eine feine Entdeckung für ein deutschsprachiges Lesepublikum ist dem Mare-Verlag damit durchaus anzurechnen. MARTIN LHOTZKY
Herbert Clyde Lewis: "Gentleman über Bord". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Klaus Bonn. Mit einem Nachwort von Jochen Schimmang. Mare Verlag, Hamburg 2023. 176 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Durstig im größten Gewässer der Welt: Bei Herbert Clyde Lewis geht ein "Gentleman über Bord".
Ach, noch einmal den wunderbaren Sonnenuntergang anschauen! Aber Vorsicht, Ölfleck an Deck, und, hast du's nicht gesehen, schon landet man im Wasser, genauer gesagt: im Pazifik! Da braucht man nicht einmal einen Albatros angeschossen zu haben, derart gemein kann das Schicksal einen strafen.
So ungefähr beginnt der im Original bereits 1937 erschienene kurze Roman "Gentleman über Bord" ("Gentleman Overboard") von Herbert Clyde Lewis. Der heute hinlänglich unbekannte Autor, Sohn einer aus Russland stammenden jüdischen Einwandererfamilie in New York, arbeitete als Reporter Anfang der Dreißigerjahre in China, dann in den Vereinigten Staaten. Gerade als sein erster Roman, eben "Gentleman Overboard" erschien, war Lewis in den Privatkonkurs geschlittert, zog nach Hollywood, schrieb Drehbücher, wurde für seinen Beitrag zum Film "Ein Leben wie ein Millionär" (1947, Originaltitel: "It Happened on 5th Avenue", deutscher Alternativtitel: "Der reichste Mann der Welt") mit seinem Ko-Autor Frederick Stephani für den Oscar nominiert (den sie aber nicht gewannen) und verstarb mit gerade einmal einundvierzig Jahren 1950 an einem Herzinfarkt. Sein letzter, vierter Roman, "The Silver Dark", kam 1959 postum heraus. Dennoch ein ziemlich bewegtes Leben.
Auf eine weniger bewegte Biographie muss sein Protagonist Henry Preston Standish, Mitte dreißig, Aktienmakler, verheiratet, zwei kleine Kinder, zurückblicken, als er da im Stillen Ozean vor sich hin planscht. Eben noch, da war es laut Borduhr etwa fünf in der Frühe, an Deck der "Arabella", eigentlich ein Frachtschiff, das aber wegen des Umsatzes stets auch rund ein Dutzend Passagiere - im konkreten Fall sind es acht, Standish miteingeschlossen - befördert, muss er zuschauen, wie das Schiff gemächlich am Horizont verschwindet. Niemand hat seinen Unfall in dieser frühen Stunde bemerkt, wach war ohnehin bloß der Smutje. Und der kümmerte sich bereits um das Frühstück, achtete also nicht auf den Frühaufsteher.
In insgesamt zehn Kapiteln schildert Lewis abwechselnd, was Standish so durch den Kopf geht - wieso ist er überhaupt auf diese Reise gegangen? Ach ja, sein Leben war ihm irgendwie zu langweilig geworden! - und was die übrigen Leute, Mannschaft und Passagiere, tun. Einige vermissen ihn übrigens schon um die Mittagszeit, aber machen sich noch keine wirklichen Sorgen. Der Kapitän erfährt überhaupt erst am mittleren Nachmittag, dass Standish verschwunden zu sein scheint, und wird eher grantig, da er nun vermutlich das Schiff wenden lassen muss, um nach dem Typen zu suchen.
Mit doch ziemlich schwarzem Humor, aber keineswegs ohne zumindest ein bisserl Mitgefühl erzählt Lewis von den recht aussichtslosen Plänen, die Henry Preston Standish fasst und meist bald wieder verwirft, von seinen Erinnerungen an Frau und Kinder und Geschäftspartner und seinen wirren Gedankenspielen, wie sie dann wohl auf die Nachricht seines Ertrinkens reagieren werden. Wird sein Fauteuil, in dem er abends immer Zeitungen und Magazine gelesen hat, je wieder benutzt werden? Wie schaut wohl ein Begräbnis für jemanden aus, der auf See verschwunden ist? Irgendwann bemerkt er dann auch, wie durstig er ist und wie lächerlich das wiederum ist, mitten im größten Gewässer des Erdballs auf dem Rücken liegend, beinahe nackt - vom Großteil seiner Kleidung hat er sich, aus Gründen des Gewichts nassen Stoffes, also an sich nicht völlig unvernünftig, bereits getrennt - dahinzutreiben, aber nichts von all dem Wasser trinken zu können.
In seinem Nachwort attestiert Jochen Schimmang der Erzählung viel Empathie für alle - mit der Ausnahme eines ebenfalls auf der "Arabella" mitreisenden bigotten, evangelikalen Missionarspaares - und schließt mit dem Satz: "Der Roman ist eben das Meisterwerk, das er hätte werden können." Nun, das mag etwas zu hoch gegriffen sein, aber unterhaltsam ist "Gentleman über Bord" auf jeden Fall und gibt auch ein schönes Abbild der Gedankenwelt eines großen Teiles der aufstrebenden Mittelschicht der Vereinigten Staaten im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts. Eine feine Entdeckung für ein deutschsprachiges Lesepublikum ist dem Mare-Verlag damit durchaus anzurechnen. MARTIN LHOTZKY
Herbert Clyde Lewis: "Gentleman über Bord". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Klaus Bonn. Mit einem Nachwort von Jochen Schimmang. Mare Verlag, Hamburg 2023. 176 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensentin Manuela Reichart feiert die Wiederentdeckung von Herbert Clyde Lewis' Roman aus dem Jahre 1937, der nun in deutscher Übersetzung erschienen ist. Die Handlung spielt auf hoher See: Auf einem Schiff, auf dem sich in den ersten Kapiteln die "allerfeinsten Gesellschaftskomödie[n]" abspielen, berichtet die Rezensentin. Der Geschäftsmann Henry Preston, lesen wir, geht während der Fahrt über Bord und treibt für den Rest der Handlung im Ozean umher. Seine anfängliche Hoffnung von den anderen Passagieren vermisst und gerettet zu werden, bewahrheitet sich nicht und so zerbricht Prestons Weltbild Stück für Stück. Es freut die Rezensentin, dass dem unglücklichen Autoren Lewis, der zeitlebens wenige Erfolge vorweisen konnte und mit 41 Jahren starb, mit dieser Veröffentlichung wieder Aufmerksamkeit zuteil wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Dieses Buch müssen Sie lesen.« The Sunday Times