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Für Geist, Ohr und Seele sind Helene Fischer und die Fangesänge einfach nicht genug: Johann Hinrich Claussen legt eine sehr beherzte Historie der Kirchenmusik vor.
Von Harald Schmidt
Dieses Buch ist mit Jauchzen und Frohlocken zu begrüßen! Endlich ein Buch für alle, die bei EKG nicht nur an Kammerflimmern denken, sondern auch an das Evangelische Kirchengesangbuch. Denn wahrlich, in Zeiten der Fanmeilen und der Frage: "Wie bekomme ich einen Helene-Fischer-Bauch?" zeugt es von unerschütterlichem Gottvertrauen, eine Geschichte der Kirchenmusik zu schreiben.
Getan hat solches Johann Hinrich Claussen, Hauptpastor an St. Nikolai in Hamburg. In zehn Kapiteln samt Einstimmung und Ausklang werden wir von ihm vom Alten Israel über den gregorianischen Choral, Palestrina, Heinrich Schütz, Mozart, Mendelssohn und viele mehr bis zum afroamerikanischen Gospel geführt. Nicht gerade wenig für dreihundertfünfzig Seiten, manche thematische Engführung muss da erlaubt sein. So weist uns Pastor Claussen gleich in der Einstimmung darauf hin, was sein Buch möchte: "Die Freude an der Kirchenmusik vertiefen und erweitern, in ausgewählten Beispielen der Geschichte christlicher Musik."
Denn das Christentum gehört zu Deutschland. Dies sollte vorausgesetzt werden dürfen, wenn wir den Buchtitel "Gottes Klänge" auf uns wirken lassen. Rauschen diese doch vermehrt durch leere Gotteshäuser, was nicht nur eine Frage der Akustik ist (einbehaltene Kirchen- bei der Abgeltungsteuer!). Da beruhigt es, wenn wir lesen, wie es schon damals war, bei Luther. Als "musikalische Guerrillabewegung" müssen wir uns die Reformation vorstellen.
In Göttingen - wo sonst? - soll sie gar mit einer frühneuzeitlichen Gesangsblockade begonnen haben. "Aus tiefster Not schrei ich zu dir" schallte es aus evangelischen Kehlen einer altgläubigen Prozession entgegen, bis diese sich auflöste. Denn trotz Erfindung des Buchdrucks: Das Alphabet war für viele Menschen in Deutschland Neuland. Lieder aber konnte jeder hören, lernen und singen. Die beliebteste Form war das Contrafaktum: Ein bekanntes Lied wurde umgedichtet.
Der alte Luther soll davon sehr angetan gewesen sein, wenn es etwa hieß: "Der liebe Sommer geht herzu / Verleih uns Christen Fried und Ruh / Bescher uns Herr ein fruchtbar Jahr / Vorm Papst und Türken uns bewahr." Und wie starb eigentlich Georg Friedrich Händel? - Gut, die Frage mag abrupt erscheinen, aber sie steht doch für die Art, wie der interessierte Laie das Buch zur Hand nehmen mag: schmökernd. Natürlich wird auch das Kapitel über "Die verlorenen Ursprünge im Alten Israel und in der Alten Kirche" viel Wissenswertes enthalten, aber mal ehrlich: Wann haben sich selbst kluge Köpfe, die wieder Zeitung lesen, zum letzten Mal was von einem alten Israeliten downgeloaded (geschweige denn "aufgelegt")?
Beim Blättern im Kapitel "Handelomania" erfahren wir also, wie der große Landsmann von Hans-Dietrich Genscher starb: "erschöpft und erblindet". Nicht, ohne ein beträchtliches Vermögen zu hinterlassen, nach heutigen Maßstäben etwa zwei Millionen Pfund. "Viel gab er den Armen", ist über ihn zu lesen, dessen Musik wir ja auch heute noch im Gasprom-Spot vor den Übertragungen der Champions League zu schätzen wissen.
Und damit zu Bach. Natürlich, er war ein ganz großer Geist und würde es vermutlich in einem ZDF-Ranking zu "unsrem größten Kirchenmusiker aller Zeiten schaffen". Aber wie und was schreibt man noch Neues über ihn? Hier zeigt sich die Stärke und - durch pastorale Qualitäten gemilderte - Schwäche des Buches. Wer noch nie die Matthäus-Passion gehört hat, für den bietet das Kapitel über Bach eine gut nachvollziehbare Einführung. Angefangen von der Aufführungspraxis der damaligen Zeit (fünf Stunden im regulären Vespergottesdienst inklusive einstündiger Predigt), über die Bedeutung von Paul Gerhardts Choral "O Haupt voll Blut und Wunden", die Funktion der Doppelchöre bis zur Instrumentierung der Rezitative und Arien - alles gewissenhaft zusammengetragen. Gleiches gilt für Generalbass und Kontrapunkt und die Rolle der Kantaten, von denen Bach für jeden Sonntag eine zu komponieren hatte. Wie bei einem guten jungen Lehrer: viel Arbeit am Anfang, dann hat man's. Ob aber wirklich "die rechte Balance zu finden, einerseits die Gewaltsamkeit der Geschichte nicht zu verharmlosen, aber andererseits jede einseitige Schuldzuweisung und jeden Anschein von Judenfeindlichkeit zu vermeiden (...) nicht die geringste Aufgabe einer heutigen Interpretation der Matthäus-Passion" darstellt, könnte doch eher Thema für eine Talkrunde mit Betroffenen sein.
Dass allerdings das Orgelwerk Bachs und dessen Bedeutung als Virtuose mit keiner Silbe erwähnt werden, stellt für einen katholischen Hilfsorganisten ein schweres Hindernis auf dem Weg zur gelebten Ökumene dar. Nichts. Kein Wort. Auch nicht im gesonderten Orgelkapitel. Die heilige Cäcilie, Kleist, Buxtehude, Britten, W. H. Auden, Lichtenberg, Albert Schweitzer, Ligeti, Reger, Hans Henny Jahnn - alle kommen darin vor, aber der Größte nur als 450-Kilometer-Wanderer zu Buxtehude.
Auch dass im Zusammenhang mit dem Orgelbauer Aristide Cavaillé-Coll die französischen Orgelgötter Charles Marie Widor und Louis Vierne keine Erwähnung finden, schmerzt den beflissenen Streber aus der schwäbischen Diaspora. Hat er doch selbst zu Schülerzeiten die Musikwünsche bei Trauungen je nach Hochzeitspaar zu erfüllen versucht: d-Moll-Toccata Bach (Fußballer, mit Komponistenangabe "Ekseption") sowie F-Dur-Toccata Widor (Lehrer).
Sollten wir also die Käßmann in uns von der Leine lassen und fordern, das Werk einzustampfen? Nein, nun ist's genug. Denn auch wenn wir manch liebevoll-kritische Anmerkung hätten - insgesamt durchweht das Buch von Pastor Claussen der Geist der Liebe, zum Nächsten ebenso wie zur Kirchenmusik. Wer durch das irdische Jammertal geschritten ist, darf auf Erlösung hoffen. Sogar dann, wenn "von falschen Menschen vor falschen Menschen aus falschen Gründen im falschen Stil gesungen" wird. Etwa "O happy Day" oder "Go tell it on the mountain". Nein, das hat nichts mit echter Gospelmusik zu tun, wo wir mit "dem wilden Schrei des ,shouting', dem inbrünstigen Stöhnen des ,moaning' oder dem zarten Säuseln des ,crooning'" von richtigen Menschen als richtige Menschen erreicht werden.
Demnächst vielleicht auch auf Kirchentagen, wo die Lieder bisher ja eher Titel hatten wie "Wenn das Rote Meer grüne Wellen hat"? Nun aber Schluss mit der Schwärmerei in höchsten Tönen. Nehmen wir "Gottes Klänge" als Anleitung, um möglichst viele dieser Werke in den kommenden Monaten live zu erleben. Dafür ist das Buch nämlich hervorragend geeignet. Es macht Lust auf Kirchenmusik, und die, so Pastor Claussen zum Ausklang, ist immer dann vital, eine kulturelle und religiöse Kraft, wenn sie Grenzen überwindet - "Grenzen zwischen Völkern und Nationen, zwischen Konfessionen und Religionen, zwischen Heiligem und Profanem, zwischen Kirche und Kultur, zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Glaube und Zweifel". Es kann so einfach sein.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Johann Hinrich Claussen skizziert die Kirchenmusik als Prozess der Entklerikalisierung – raus aus den Kathedralen
„Wir wissen ja, dass der Teufel die Musik hasst und sie nicht hören kann“, sagt Luther. Denn die Musik schaffe eine Freude, wie sie die Seele empfinde, die von der Sündenangst zum Vertrauen auf Gottes Gnade findet. So denkt auch Johann Hinrich Claussen, Hauptpfarrer an St. Nikolai in Hamburg, ein – auch in der SZ – geschätzter Zeitungsautor und Verfasser erfolgreicher Bücher. Nach seinem Buch über die Kirchenbaukunst „Gottes Räume“ geht es ihm nun um „Gottes Klänge. Eine Geschichte der Kirchenmusik“. Er wendet sich an ein religiös interessiertes Publikum, eine musikwissenschaftliche Einführung darf es nicht erwarten. Das Buch möchte „die Freude an der Kirchenmusik vertiefen“ und dies „durch das Erzählen eher als durch das bloße Erklären“.
Es setzt ein mit dem alten Israel, mit Tempelmusik und Psalmen, und den ersten Christen, die in ihren häuslichen Andachten wohl gesungen haben. Das war keine professionelle Kunstübung, nicht kultisch geregelt, „eine echte Herzenssache“ – und darin dem Autor als evangelischem Christen sehr sympathisch. Von ganz anderem Charakter ist der Gregorianische Choral, der im Frankenreich des 8. Jahrhunderts entsteht und von Karl dem Großen durchgesetzt wird, um der Einheit der Kirche willen. Der Gregorianische Choral dient einer hierarchisch geordneten, universellen Institution, er ist Kunstmusik, deren Sänger einer gründlichen Schulung bedürfen. Die Trennung von Klerus und Volk ist damit auch musikalisch vollzogen.
Die Reformation wird das umkehren. Das Gemeindeprinzip entmachtet den Klerus, im Gesang nehmen alle an der Gestaltung des Gottesdienstes teil, der bis dahin ganz ein Werk des Priesters war. Der Glaube wird verinnerlicht, individualisiert, Luther will ihn neu verlebendigen: „Es steht in den Büchern genug geschrieben. Ja, aber es ist noch nicht alles in die Herzen getrieben.“ Das soll nun durch die Stärkung des Gesangs als Ausdruck persönlicher Gottesbeziehung geschehen. Das evangelische Gesangbuch wird zur „Zweiten Bibel“.
Claussen zeichnet eine Entwicklung stetiger Entklerikalisierung. Bachs Musik wird noch in der Kirche gespielt, doch nicht von Geistlichen, sondern von bürgerlichen Musikern. Die Oratorien Händels und seiner Nachfolger werden schon in Konzertsälen gegeben. Beethovens Missa Solemnis oder die Totenmessen Berlioz’ und Verdis würden jeden Gottesdienst sprengen. Und die Chöre des 19. Jahrhunderts organisierten sich ohne die kirchlichen Autoritäten. Für Spirituals und Gospels gilt das womöglich noch stärker.
Die Stärke Claussens sind solche kirchen-, theologie- oder frömmigkeitsgeschichtlichen Überlegungen. Musik als Kunst beschäftigt ihn weniger. Die Matthäus-Passion bedenkt er mit dem Textbuch in der Hand. Und beim Deutschen Requiem von Johannes Brahms notiert er zum dritten Satz und zum Ende auf die Worte „Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand, und keine Qual rühret sie an“: „Was man sich unter diesem ,In-Gottes-Hand-Sein‘ genauer vorzustellen hat, wird nicht gesagt.“ Nun, es ist eine Fuge, Musiker, Hörer (und wohl auch die Seelen der Gerechten) befinden sich eher auf dem Weg, als bereits in Gottes Hand. Die Strenge der Fugenform über dem Orgelpunkt der Pauke – wie ist das zu hören? Als gläubige Gewissheit? Ist der Orgelpunkt das feste Fundament oder steht er der Bewegung der Fuge entgegen, als das Tremendum der Hand Gottes oder des Todes? Es wird im Requiem von Brahms sehr wohl etwas gesagt, aber musikalisch.
So muss man sich wohl auch erklären, dass Claussen wenig über die katholische Kirchenmusik mitzuteilen hat. Nichts über Haydns Messen (wohl ein wenig zur „Schöpfung“), wenig auch über die von Mozart. Einiges zu dessen Requiem, aber unter der Frage, wie die geschilderten Schrecken des Jüngsten Gerichts theologisch zu beurteilen sind. Beethoven wird nur erwähnt, viel mehr Aufmerksamkeit bekommt auch Bruckner nicht, Schubert spielt keine Rolle. An mangelndem ökumenischem Interesse liegt es kaum, eher daran, dass die katholischen Kompositionen auf kanonische Texte geschrieben sind, und eine vom Wort ausgehende Deutung hier nichts zu bestellen hat. Claussens Buch ist, wie er es über die Festmusik „An den Wind“ von Hans Werner Henze und Christian Lehnert sagt, „vor allem – gut protestantisch – eine Arbeit am Text“ – nicht am Notentext allerdings.
Das ist ein Problem, aber es bleiben genug Vorzüge in Claussens Buch. Der bemerkenswerteste ist vielleicht das freimütige Bekenntnis zum Kulturprotestantismus. Viel Aufmerksamkeit widmet der Autor dem Oratorium „Elias“ von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Er kennt den Einwand „nazarenischer Milde“ und will ihn auch nicht stracks widerlegen. Aber er gibt das Recht einer Theologie der Gefühle zu bedenken, die nicht allein auf Heroen des Glaubens zielt, sondern „einen Sinn für den durchschnittlichen Gläubigen heute und seine emotionalen Möglichkeiten hat“, für eine religiöse Gefühlskultur, „die auf Ausgleich, Balance und Gleichmaß aus ist“. Musik wie die Mendelssohns passe nicht mehr in die Kathedralen, sie sei Hausmusik im tieferen Sinn, für den Ort, „wo man selbst zu Hause ist“. Das ist ehrlich. Die Frage, warum zuletzt doch nicht der „Elias“ das Publikum beschäftigt, sondern die „Matthäus-Passion“, bleibt allerdings unbeantwortet.
STEPHAN SPEICHER
Ganz freimütig ist das Bekenntnis
zum Kulturprotestantismus
Kirchenmusik in der Münchner Asamkirche.
Foto: Catherina Hess
Johann Hinrich Claussen: Gottes Klänge. Eine Geschichte der Kirchenmusik. C. H. Beck Verlag, München 2014. 364 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.
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