Psychologische Spannung literarisch verdichtet - John Burnsides erster Roman endlich auch auf Deutsch.
John Burnside ist einer der faszinierendsten Literaten unserer Zeit, der in seinen Werken immer wieder die Abgründe der menschlichen Natur erkundet. Bereits in seinem ersten Roman zeigt sich Burnsides Meisterschaft: In spannungsgeladenen Sätzen zeichnet er das Porträt eines jungen Mannes, der von maßlosem Forschergeist in den Wahnsinn getrieben wird.
John Burnside ist einer der faszinierendsten Literaten unserer Zeit, der in seinen Werken immer wieder die Abgründe der menschlichen Natur erkundet. Bereits in seinem ersten Roman zeigt sich Burnsides Meisterschaft: In spannungsgeladenen Sätzen zeichnet er das Porträt eines jungen Mannes, der von maßlosem Forschergeist in den Wahnsinn getrieben wird.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Stephan Speicher traut dem Erzähler und Bösewicht in John Burnsides "Haus der Stummen" all die Grausamkeiten nicht so recht zu, die Vivisektionen an Ratten, Kaninchen und schließlich Menschen. "Zu knickbeinig im Kopf" findet der Rezensent ihn. Das Wissenschaftsethos, mit dem der Ich-Erzähler seine Taten rechtfertigt, ist viel zu schlicht - oder schlicht falsch, bedauert Speicher, der sich an eine Faust-Parodie erinnert fühlt. Dabei sind Burnsides akribische Beschreibungen der Operationen am lebenden Wesen durchaus beeindruckend, so der Rezensent, es fehlt nur der große, oder wenigstens kaputte Geist, um den Taten auch Bedeutung zu geben, erklärt Speicher.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.12.2014Dunkler Fürst mit Zange und Skalpell
Der Forscher ist das Monster, das er schuf: John Burnsides erster Roman "Haus der Stummen" von 1997 fragt nach dem Ursprung der Sprache. Jetzt erscheint das Buch erstmals auf Deutsch.
Ist Luke ein braves Kind? Er liebt seine Mutter, vielleicht etwas zu sehr, erträgt geduldig seinen Vater, vielleicht etwas zu herablassend, geht zur Schule und verhält sich alles in allem eher unauffällig. Aber Luke ist kein normales Kind. Er ist der Bewohner eines "geheimen Reiches", zu dem er sich mit Zange und Skalpell Einlass verschafft hat. Hier wächst er zu einem jungen Mann heran, zum Alleinherrscher im Fürstentum einer pervertierten Wissenschaft, der alles, was lebt, als Forschungsmaterial zu dienen hat. Das Lebendige wie das Tote ist dem Wissensdurst eines geisteskranken Autodidakten unterworfen, der am Ende des Experiments, dem er sein Leben gewidmet hat, sogar seine eigenen Nachkommen tötet.
Luke ist den Geheimnissen der Existenz auf der Spur. Er beginnt mit toten Tieren, die er im Wald findet, geht aber rasch zu lebenden Objekten über, deren Körper er öffnet, um einen Blick auf das letzte Pochen der Herzen zu erhaschen und den Ausdruck in den brechenden Augen zu studieren. Was er in diesen Momenten verspürt, hält er für Erfüllung: "Lange war ich glücklich. Ich spürte, mit einiger Anstrengung müsste es möglich sein, die Wahrheit zu entdecken."
Um welche Art von Wahrheit geht es hier? Der Schotte John Burnside, Jahrgang 1955, hat sich zunächst als Lyriker einen Namen gemacht, bevor er 1997 mit "Haus der Stummen" seinen ersten Roman schrieb, der jetzt auch auf Deutsch vorliegt, geschmeidig übersetzt von Bernhard Robben. Man kann dieses Buch in der Tradition von Mary Shelleys "Frankenstein" lesen: Dann hat man das Psychogramm eines besessenen Forschers, der den Menschen erforscht und darüber inhuman wird. Aber warum müssen wir Luke dann schon als Kind kennenlernen? Weil Burnside uns zeigen will, dass der Wissensdurst seines Ich-Erzählers nie kindlich und unschuldig war.
Von kleinauf ist Luke ein willenloser Diener seiner abnormalen Leidenschaften und Affekte, zu deren Erfüllung und Rechtfertigung er das Reich seiner Pseudowissenschaft errichtet, in dem er sich als Herrscher fühlen darf. Identität betrachtet er als Illusion, als "Kunsthandwerk der Seele". Für ihn ist der Mensch nicht frei in seinen Entscheidungen, sondern determiniert durch eine Art Urverlangen, das etwas vage als "anfänglicher Impuls" bezeichnet wird. Er war Luke von Anfang an eingeschrieben, "so sehr Teil von mir wie meine Liebe zu Mutter".
Wer will, kann Lukes Bindung zu der vergötterten Mutter, die inzestuöse und nekrophile Gelüste in ihm weckt, ebenso als Erklärung heranziehen wie die auffallend beiläufig erwähnte Begegnung des Jungen mit einem zudringlichen Fremden im Wald. Aber Lukes Verhalten auf eine Missbrauchserfahrung zurückzuführen wäre zu simpel. Deshalb gesteht Burnside seinem Ich-Erzähler eine Vielzahl von Schlüsselerlebnissen zu. Jedes für sich genommen ist ein schlüssiges Indiz in einer Kette, die sich nicht schließen lässt und sich nicht schließen lassen darf. Denn die irritierende Faszination, die von Lukes tiefgestörter Persönlichkeit ausgeht, beruht darauf, dass seiner Rationalität ein irrationaler Kern innewohnt, der sich weder benennen noch herausschälen lässt.
Shelley kettet Frankenstein und seine Kreatur aneinander, indem sie zeigt, dass der Wissenschaftler und sein Geschöpf Opfer und Täter zugleich sind. Burnsides Luke ist bindungslos und bindungsunfähig, ein Solipsist ohne das Bedürfnis nach Nähe, dessen sexuelle Begegnungen gewalttätig und machtorientiert verlaufen. Ein selbsternannter Seelenkundler ohne jede Spur von Einfühlungsvermögens muss über kurz oder lang paranoid werden, und in einer Mischung aus Paranoia und Enttäuschung über sein fehlgeschlagenes Experiment tötet Luke schließlich die Versuchsobjekte, zu denen er seine eigenen Kinder gemacht hatte. Das Monster, das dieser Forscher erschaffen hat, ist er selbst.
"Haus der Stummen" ist keine Lektüre für zarte Gemüter und Eltern kleiner Kinder. Das Experiment des Großmoguls Akbar, das Lukes Mutter ihrem Sohn erzählt, als handelte es sich um ein Märchen, galt der Frage, ob die Gabe der Sprache angeboren oder erlernt sei. Deshalb ließ Akbar etliche Neugeborene aus allen Teilen seines Reiches in ein Haus bringen, das er fernab von allen menschlichen Behausungen errichtet hatte. In diesem Haus der Stummen wuchsen die Kinder auf, ohne jemals die Laute einer menschlichen Stimme zu vernehmen. Luke glaubt, dass die Kinder dort umgeben waren von Phänomenen und Dingen, die sie weder definieren noch benennen konnten, die also so namenlos blieben, wie sie es waren, bevor Adam ihnen Namen gab. Diese Kinder kannten die Welt so, "wie Gott sie kannte".
Von Kleist stammt der Gedanke, dass wir einmal um die Erde reisen müssten, um zu sehen, ob nicht noch ein Hintereingang zum Paradies zu finden sei. John Burnsides Bücher schließen diese Hoffnung aus. Wenn es überhaupt einen Weg zurück zur Paradiesesunschuld gibt, dann führt er bei Burnside mitten durch die Hölle.
HUBERT SPIEGEL
John Burnside: "Haus der Stummen". Roman.
Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben. Knaus Verlag, München 2014. 256 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Forscher ist das Monster, das er schuf: John Burnsides erster Roman "Haus der Stummen" von 1997 fragt nach dem Ursprung der Sprache. Jetzt erscheint das Buch erstmals auf Deutsch.
Ist Luke ein braves Kind? Er liebt seine Mutter, vielleicht etwas zu sehr, erträgt geduldig seinen Vater, vielleicht etwas zu herablassend, geht zur Schule und verhält sich alles in allem eher unauffällig. Aber Luke ist kein normales Kind. Er ist der Bewohner eines "geheimen Reiches", zu dem er sich mit Zange und Skalpell Einlass verschafft hat. Hier wächst er zu einem jungen Mann heran, zum Alleinherrscher im Fürstentum einer pervertierten Wissenschaft, der alles, was lebt, als Forschungsmaterial zu dienen hat. Das Lebendige wie das Tote ist dem Wissensdurst eines geisteskranken Autodidakten unterworfen, der am Ende des Experiments, dem er sein Leben gewidmet hat, sogar seine eigenen Nachkommen tötet.
Luke ist den Geheimnissen der Existenz auf der Spur. Er beginnt mit toten Tieren, die er im Wald findet, geht aber rasch zu lebenden Objekten über, deren Körper er öffnet, um einen Blick auf das letzte Pochen der Herzen zu erhaschen und den Ausdruck in den brechenden Augen zu studieren. Was er in diesen Momenten verspürt, hält er für Erfüllung: "Lange war ich glücklich. Ich spürte, mit einiger Anstrengung müsste es möglich sein, die Wahrheit zu entdecken."
Um welche Art von Wahrheit geht es hier? Der Schotte John Burnside, Jahrgang 1955, hat sich zunächst als Lyriker einen Namen gemacht, bevor er 1997 mit "Haus der Stummen" seinen ersten Roman schrieb, der jetzt auch auf Deutsch vorliegt, geschmeidig übersetzt von Bernhard Robben. Man kann dieses Buch in der Tradition von Mary Shelleys "Frankenstein" lesen: Dann hat man das Psychogramm eines besessenen Forschers, der den Menschen erforscht und darüber inhuman wird. Aber warum müssen wir Luke dann schon als Kind kennenlernen? Weil Burnside uns zeigen will, dass der Wissensdurst seines Ich-Erzählers nie kindlich und unschuldig war.
Von kleinauf ist Luke ein willenloser Diener seiner abnormalen Leidenschaften und Affekte, zu deren Erfüllung und Rechtfertigung er das Reich seiner Pseudowissenschaft errichtet, in dem er sich als Herrscher fühlen darf. Identität betrachtet er als Illusion, als "Kunsthandwerk der Seele". Für ihn ist der Mensch nicht frei in seinen Entscheidungen, sondern determiniert durch eine Art Urverlangen, das etwas vage als "anfänglicher Impuls" bezeichnet wird. Er war Luke von Anfang an eingeschrieben, "so sehr Teil von mir wie meine Liebe zu Mutter".
Wer will, kann Lukes Bindung zu der vergötterten Mutter, die inzestuöse und nekrophile Gelüste in ihm weckt, ebenso als Erklärung heranziehen wie die auffallend beiläufig erwähnte Begegnung des Jungen mit einem zudringlichen Fremden im Wald. Aber Lukes Verhalten auf eine Missbrauchserfahrung zurückzuführen wäre zu simpel. Deshalb gesteht Burnside seinem Ich-Erzähler eine Vielzahl von Schlüsselerlebnissen zu. Jedes für sich genommen ist ein schlüssiges Indiz in einer Kette, die sich nicht schließen lässt und sich nicht schließen lassen darf. Denn die irritierende Faszination, die von Lukes tiefgestörter Persönlichkeit ausgeht, beruht darauf, dass seiner Rationalität ein irrationaler Kern innewohnt, der sich weder benennen noch herausschälen lässt.
Shelley kettet Frankenstein und seine Kreatur aneinander, indem sie zeigt, dass der Wissenschaftler und sein Geschöpf Opfer und Täter zugleich sind. Burnsides Luke ist bindungslos und bindungsunfähig, ein Solipsist ohne das Bedürfnis nach Nähe, dessen sexuelle Begegnungen gewalttätig und machtorientiert verlaufen. Ein selbsternannter Seelenkundler ohne jede Spur von Einfühlungsvermögens muss über kurz oder lang paranoid werden, und in einer Mischung aus Paranoia und Enttäuschung über sein fehlgeschlagenes Experiment tötet Luke schließlich die Versuchsobjekte, zu denen er seine eigenen Kinder gemacht hatte. Das Monster, das dieser Forscher erschaffen hat, ist er selbst.
"Haus der Stummen" ist keine Lektüre für zarte Gemüter und Eltern kleiner Kinder. Das Experiment des Großmoguls Akbar, das Lukes Mutter ihrem Sohn erzählt, als handelte es sich um ein Märchen, galt der Frage, ob die Gabe der Sprache angeboren oder erlernt sei. Deshalb ließ Akbar etliche Neugeborene aus allen Teilen seines Reiches in ein Haus bringen, das er fernab von allen menschlichen Behausungen errichtet hatte. In diesem Haus der Stummen wuchsen die Kinder auf, ohne jemals die Laute einer menschlichen Stimme zu vernehmen. Luke glaubt, dass die Kinder dort umgeben waren von Phänomenen und Dingen, die sie weder definieren noch benennen konnten, die also so namenlos blieben, wie sie es waren, bevor Adam ihnen Namen gab. Diese Kinder kannten die Welt so, "wie Gott sie kannte".
Von Kleist stammt der Gedanke, dass wir einmal um die Erde reisen müssten, um zu sehen, ob nicht noch ein Hintereingang zum Paradies zu finden sei. John Burnsides Bücher schließen diese Hoffnung aus. Wenn es überhaupt einen Weg zurück zur Paradiesesunschuld gibt, dann führt er bei Burnside mitten durch die Hölle.
HUBERT SPIEGEL
John Burnside: "Haus der Stummen". Roman.
Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben. Knaus Verlag, München 2014. 256 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.11.2014Der Geruch der Katze
Endlich auch auf Deutsch: In seinem Romandebüt „Haus der Stummen“ erforscht
der schottische Autor John Burnside die kalte Innenwelt eines Mörders
VON HANS-PETER KUNISCH
Wie wird ein Mensch zum Mörder? Nebenbei, sagt der schottische Schriftsteller John Burnside in seinem jetzt übersetzten Erstlingsroman „Haus der Stummen“ (1997). Der Mörder sucht darin den Ort der Seele. Die kühle, schöne Mutter hat dem kleinen Jungen von Akbar erzählt, dem indischen Großmogul und Legastheniker, der Kinder von Stummen aufziehen ließ, um zu erfahren, ob Sprache angelernt sei oder angeboren. Ganz ähnlich wie Friedrich II. von Hohenstaufen oder vor ihm Psammetich I., der ägyptische Pharao, von dem Herodot weiß, dass er Kinder von einem Schäfer betreuen ließ, der nicht mit ihnen sprechen durfte.
Solche Geschichten erzählt der sanfte Lyriker und vielseitige Romanautor Burnside – er wurde hierzulande durch sein schonungsloses Erinnerungsbuch „Lügen über meinen Vater“ bekannt – in einem Thriller mit brutalen Morden, in dem man als Leser die Perspektive des gebildeten Scheusals einnimmt, das die Versuche an Kindern wiederholt. Oder soll man den Mörder, dessen Name erst am Ende auftaucht, Muttersöhnchen nennen? Die verehrte Mama hat Luke nicht nur von Akbar erzählt, sie hat ihn auch auf die Spur der Schönheit kleiner Kadaver geführt, einer gefrorenen Wühlmaus etwa, die der Schnee im Frühling freigibt, und sie hat ihm Leonardo da Vincis anatomische Zeichnungen gezeigt. Ein weiterer Anreiz, zu sezieren.
Doch warum hat das wissenschaftliche Interesse des Bildungsbürger-Sprösslings die Tendenz zur Gewalt? Burnside liefert nur Ansätze von Erklärungen. Knapp erfährt man, dass Luke als Junge von einem Mann im Wald vergewaltigt wurde. Wie weit das ging, hat sein Kopf gelöscht, aber es war die Erfahrung einer Ohnmacht, die nicht schlecht zu Lukes späteren sexuellen Vorlieben passt, die ohne Macht und Gewalt kaum auskommen. Eine der Frauen, die für ihn wichtig sind, ist Karen, die Mutter von Jeremy, der nicht spricht. Der Forscher hat die beiden über eine Anzeige gefunden. Als er sie besucht, liegt Karen im Morgenrock da. Es wird nie klar, ob sie im alkoholisierten Halbdämmer bemerkt, was Luke mit ihr macht und was sie dabei fühlt. Die Szene wiederholt sich während ihrer Bekanntschaft mehrfach.
Burnside ist ein Meister der Darstellung verquerer Stimmungen, abseitiger Verhaltensweisen, die er nie dämonisiert. Das erste Lebewesen, das Luke demütigt, ist eine Katze, die sein Vater, ein sentimentaler, meist abwesender Kolonialsoldat, ihm zu Weihnachten schenkt. Luke findet sie widerlich. Auch die Mutter lehnt das Tier ab. Als Luke erfährt, dass Katzen sich über den eigenen Geruch in der Welt zurechtfinden, deckt er Rusty mit einem groben Mix aus Mutters Parfüms ein und nimmt so dem Tier den eigenen Geruch. Es jammert, wie er es noch nie gehört hat. Die Katze „klang wie ein weinendes Kind, so als stecke hinter dem flachen, schnurrbärtigen Gesicht eine menschliche Seele.“ Weil er das Gejaule nicht mehr erträgt, schlägt der Junge das Tier am Ende tot: Es ist das erste Experiment.
Literarische Menschenerkundung und Thriller, gut gemischt und spannend erzählt, in einer schlackenlos-klaren Sprache. Doch wer sich als Autor ästhetisch auf weit hinausragende Äste wagt, kann tief fallen: Der Schock-Effekt stellt sich nicht immer ein, und Szenen, die erschüttern sollen, wirken unfreiwillig komisch. Ein-, zweimal gibt es das auch im „Haus der Stummen“. Etwa, wenn der Ich-Erzähler Karens Sohn Jeremy, der ihn mit einem Messer angreift, die Finger bricht. Doch liegt das Unbehagen vielleicht auch daran, dass man erwartet, Luke müsse Gefühle zeigen, die man kennt, wo doch sein Verhalten nur möglich scheint, weil ihm jegliche Empathie fehlt?
Menschen sind für Luke in solchen Momenten Sachen, die stören, ärgern, mit denen man etwas machen muss. Konsequent verzichtet Burnside daher darauf, je den Schrecken über die eigene Tat darzustellen. Und dennoch – auf lange Sicht stellt sich in der Lektüre so etwas wie Einfühlung in den empathielosen Täter dennoch her. Allmählich lernt man ihn kennen, und muss nicht gutheißen, was er denkt, um in seinen Kopf hineingezogen zu werden.
Burnside verknüpft Zeichen von Gewöhnlichkeit mit Wahnsinn. Der Forscher hat manchmal Mitgefühl mit den Probanden, aber er muss ihnen immer wieder wehtun. Gekonnt verwischt Burnside den Eindruck, es gehe ihm dabei um den Effekt. Durch seinen ruhigen Ton wird er selber zum Menschenforscher, der wissen will, wie sein Mörder tickt. Und Bernhard Robbens Übersetzung bringt dessen Ambivalenzen gut zum Ausdruck. Der Ich-Erzähler fasziniert gerade, weil er nicht durchgehend brutal ist, sondern oft nur ein Fähnlein im Wind, das Gelegenheiten ergreift, wenn sie dem großen Ziel des Experiments dienen, dessen Monstrosität erst langsam zum Vorschein kommt.
In einer verschlafenen Leihbibliothek sieht Luke eine junge, hübsche Frau. Sie ist, wie Karen, ein Gegenbild zur verstorbenen Mutter: scheu, vage fühlend, ohne Selbstbewusstsein. Sie kann nicht lesen, schaut sich die Bilder in den Büchern an. Plötzlich bemerkt Luke, dass sie stumm ist, dass sie sich in der Bibliothek nur vor Jimmy, dem Obdachlosen, den er töten wird, und seinen Freunden versteckt. Ein guter Anlass, sie auf die eigene Seite zu ziehen. Luke provoziert eine Auseinandersetzung, die er mit dem Teppichmesser entscheidet. Dann bringt er Lilian in das ererbte Landhaus.
Die zweite Hälfte des Romans ist besonders stark. Sie hat genau jene Abgründigkeit, die Burnside anstrebt. Hier stellt er sie über den Plan des Erzählers her, Lilian zur Mutter eines Kindes zu machen, mit dem er seine Versuche auf die Spitze treiben kann. Es ist ja die eigene Kreatur. Die Zwillinge, die Lilian zur Welt bringt, haben nicht das Glück, bei der Geburt zu sterben.
J ohn Burnside: Haus der Stummen. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Albrecht Knaus Verlag, München 2014. 256 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Die Mutter zeigte ihm Leonardos
anatomische Zeichnungen – und
Luke sah sie sich sehr genau an
Burnside ist ein Meister der
Darstellung des Abseitigen –
ohne es je zu dämonisieren
John Burnsides Held betreibt das Morden als Wissenschaft vom Menschen, früh ist er vom Sezieren fasziniert: hier der Anatom Andrea Vesalius bei der Arbeit, gemalt von Edouard Hamman (1819-1888).
Foto: Boston Public Library
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Endlich auch auf Deutsch: In seinem Romandebüt „Haus der Stummen“ erforscht
der schottische Autor John Burnside die kalte Innenwelt eines Mörders
VON HANS-PETER KUNISCH
Wie wird ein Mensch zum Mörder? Nebenbei, sagt der schottische Schriftsteller John Burnside in seinem jetzt übersetzten Erstlingsroman „Haus der Stummen“ (1997). Der Mörder sucht darin den Ort der Seele. Die kühle, schöne Mutter hat dem kleinen Jungen von Akbar erzählt, dem indischen Großmogul und Legastheniker, der Kinder von Stummen aufziehen ließ, um zu erfahren, ob Sprache angelernt sei oder angeboren. Ganz ähnlich wie Friedrich II. von Hohenstaufen oder vor ihm Psammetich I., der ägyptische Pharao, von dem Herodot weiß, dass er Kinder von einem Schäfer betreuen ließ, der nicht mit ihnen sprechen durfte.
Solche Geschichten erzählt der sanfte Lyriker und vielseitige Romanautor Burnside – er wurde hierzulande durch sein schonungsloses Erinnerungsbuch „Lügen über meinen Vater“ bekannt – in einem Thriller mit brutalen Morden, in dem man als Leser die Perspektive des gebildeten Scheusals einnimmt, das die Versuche an Kindern wiederholt. Oder soll man den Mörder, dessen Name erst am Ende auftaucht, Muttersöhnchen nennen? Die verehrte Mama hat Luke nicht nur von Akbar erzählt, sie hat ihn auch auf die Spur der Schönheit kleiner Kadaver geführt, einer gefrorenen Wühlmaus etwa, die der Schnee im Frühling freigibt, und sie hat ihm Leonardo da Vincis anatomische Zeichnungen gezeigt. Ein weiterer Anreiz, zu sezieren.
Doch warum hat das wissenschaftliche Interesse des Bildungsbürger-Sprösslings die Tendenz zur Gewalt? Burnside liefert nur Ansätze von Erklärungen. Knapp erfährt man, dass Luke als Junge von einem Mann im Wald vergewaltigt wurde. Wie weit das ging, hat sein Kopf gelöscht, aber es war die Erfahrung einer Ohnmacht, die nicht schlecht zu Lukes späteren sexuellen Vorlieben passt, die ohne Macht und Gewalt kaum auskommen. Eine der Frauen, die für ihn wichtig sind, ist Karen, die Mutter von Jeremy, der nicht spricht. Der Forscher hat die beiden über eine Anzeige gefunden. Als er sie besucht, liegt Karen im Morgenrock da. Es wird nie klar, ob sie im alkoholisierten Halbdämmer bemerkt, was Luke mit ihr macht und was sie dabei fühlt. Die Szene wiederholt sich während ihrer Bekanntschaft mehrfach.
Burnside ist ein Meister der Darstellung verquerer Stimmungen, abseitiger Verhaltensweisen, die er nie dämonisiert. Das erste Lebewesen, das Luke demütigt, ist eine Katze, die sein Vater, ein sentimentaler, meist abwesender Kolonialsoldat, ihm zu Weihnachten schenkt. Luke findet sie widerlich. Auch die Mutter lehnt das Tier ab. Als Luke erfährt, dass Katzen sich über den eigenen Geruch in der Welt zurechtfinden, deckt er Rusty mit einem groben Mix aus Mutters Parfüms ein und nimmt so dem Tier den eigenen Geruch. Es jammert, wie er es noch nie gehört hat. Die Katze „klang wie ein weinendes Kind, so als stecke hinter dem flachen, schnurrbärtigen Gesicht eine menschliche Seele.“ Weil er das Gejaule nicht mehr erträgt, schlägt der Junge das Tier am Ende tot: Es ist das erste Experiment.
Literarische Menschenerkundung und Thriller, gut gemischt und spannend erzählt, in einer schlackenlos-klaren Sprache. Doch wer sich als Autor ästhetisch auf weit hinausragende Äste wagt, kann tief fallen: Der Schock-Effekt stellt sich nicht immer ein, und Szenen, die erschüttern sollen, wirken unfreiwillig komisch. Ein-, zweimal gibt es das auch im „Haus der Stummen“. Etwa, wenn der Ich-Erzähler Karens Sohn Jeremy, der ihn mit einem Messer angreift, die Finger bricht. Doch liegt das Unbehagen vielleicht auch daran, dass man erwartet, Luke müsse Gefühle zeigen, die man kennt, wo doch sein Verhalten nur möglich scheint, weil ihm jegliche Empathie fehlt?
Menschen sind für Luke in solchen Momenten Sachen, die stören, ärgern, mit denen man etwas machen muss. Konsequent verzichtet Burnside daher darauf, je den Schrecken über die eigene Tat darzustellen. Und dennoch – auf lange Sicht stellt sich in der Lektüre so etwas wie Einfühlung in den empathielosen Täter dennoch her. Allmählich lernt man ihn kennen, und muss nicht gutheißen, was er denkt, um in seinen Kopf hineingezogen zu werden.
Burnside verknüpft Zeichen von Gewöhnlichkeit mit Wahnsinn. Der Forscher hat manchmal Mitgefühl mit den Probanden, aber er muss ihnen immer wieder wehtun. Gekonnt verwischt Burnside den Eindruck, es gehe ihm dabei um den Effekt. Durch seinen ruhigen Ton wird er selber zum Menschenforscher, der wissen will, wie sein Mörder tickt. Und Bernhard Robbens Übersetzung bringt dessen Ambivalenzen gut zum Ausdruck. Der Ich-Erzähler fasziniert gerade, weil er nicht durchgehend brutal ist, sondern oft nur ein Fähnlein im Wind, das Gelegenheiten ergreift, wenn sie dem großen Ziel des Experiments dienen, dessen Monstrosität erst langsam zum Vorschein kommt.
In einer verschlafenen Leihbibliothek sieht Luke eine junge, hübsche Frau. Sie ist, wie Karen, ein Gegenbild zur verstorbenen Mutter: scheu, vage fühlend, ohne Selbstbewusstsein. Sie kann nicht lesen, schaut sich die Bilder in den Büchern an. Plötzlich bemerkt Luke, dass sie stumm ist, dass sie sich in der Bibliothek nur vor Jimmy, dem Obdachlosen, den er töten wird, und seinen Freunden versteckt. Ein guter Anlass, sie auf die eigene Seite zu ziehen. Luke provoziert eine Auseinandersetzung, die er mit dem Teppichmesser entscheidet. Dann bringt er Lilian in das ererbte Landhaus.
Die zweite Hälfte des Romans ist besonders stark. Sie hat genau jene Abgründigkeit, die Burnside anstrebt. Hier stellt er sie über den Plan des Erzählers her, Lilian zur Mutter eines Kindes zu machen, mit dem er seine Versuche auf die Spitze treiben kann. Es ist ja die eigene Kreatur. Die Zwillinge, die Lilian zur Welt bringt, haben nicht das Glück, bei der Geburt zu sterben.
J ohn Burnside: Haus der Stummen. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Albrecht Knaus Verlag, München 2014. 256 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Die Mutter zeigte ihm Leonardos
anatomische Zeichnungen – und
Luke sah sie sich sehr genau an
Burnside ist ein Meister der
Darstellung des Abseitigen –
ohne es je zu dämonisieren
John Burnsides Held betreibt das Morden als Wissenschaft vom Menschen, früh ist er vom Sezieren fasziniert: hier der Anatom Andrea Vesalius bei der Arbeit, gemalt von Edouard Hamman (1819-1888).
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"In "Haus der Stummen" zeigt sich Burnside bereits ganz auf der Höhe seiner kühlen morbiden Kunst." DeutschlandRadio "Studio 9", Sigrid Löffler