Aden Sawyer, achtzehn, hat einen Plan. Er wird sie weit vom Haus ihrer Mutter, in dem die Familienfotos zur Wand gedreht sind, und vom Einfluss ihres dominanten Vaters entfernen. Denn sie ist entschlossen, nach Peschawar in Pakistan zu reisen, um dort in einer Medrese den Islam zu studieren. Mit Hilfe eines Freundes organisiert sie die heimliche Reise. In Pakistan schlüpft sie in eine neue Identität, verkleidet sich als junger Mann. Doch bald gerät sie in größere Gefahr, als sie sich jemals vorstellen konnte. Denn der Weg zur Erlösung ist lang und gefährlich, und er führt direkt in die Kriegswirren Afghanistans. John Wray verfolgt das Schicksal seiner jungen Heldin mit der zwingenden Logik der Paranoia und erzeugt so atemberaubende Spannung.
Die Musterschülerin des Dschihads
In John Wrays Roman "Gotteskind" zieht eine junge Amerikanerin als Mann verkleidet in den "Heiligen Krieg".
Von Hubert Spiegel
Gott hat seltsame Kinder. Mit Aden Grace Sawyer, einer jungen Amerikanerin aus Kalifornien, Professorentochter, achtzehn Jahre alt, eigensinnig, intelligent, gelangweilt, angewidert von der Verlogenheit ihres Elternhauses wie dem oberflächlichen Alltagsleben ihres Heimatlandes, hat John Wray in "Gotteskind" eine Romanfigur geschaffen, wie es sie bislang noch nicht gegeben hat: eine Musterschülerin des Dschihads, Klassenbeste in den Ausbildungslagern der Mudschahedin zwischen Kundus und Kandahar, eine androgyne Kindfrau, sehnsuchtsvoll, korankundig, kaltblütig.
Kann das gutgehen? Der westliche Reisende, der als Muslim verkleidet die exotische Welt des Orients erkundet und sogar bis nach Mekka gelangt, das ist seit Richard Francis Burton (1821 bis 1890) ein Topos der Reise- und Abenteuerliteratur des neunzehnten Jahrhunderts, der sich aus historischen Vorbildern speist. Auch reisende Frauen in Männerkleidung hat es gegeben, aber eine junge Amerikanerin, die im 21.Jahrhundert als Jüngling verkleidet in den "Heiligen Krieg" zieht? Eine Achtzehnjährige aus Kalifornien als junger Krieger im Traumland orientalisierender Homoerotik, zwischen bärtigen, sanftmütigen und grausamen Kämpfern, die ihre Waffen in Chintz hüllen, die Augen mit Kajal umranden, Rosenblätter zwischen den Lippen, wie es Bruce Chatwin und vor ihm Robert Byron idealisierend ausgemalt haben?
John Wray, Jahrgang 1971 und als Sohn eines amerikanischen Vaters und einer österreichischen Mutter seit je ein Grenzgänger zwischen den Welten, muss mit Romanen wie "Die rechte Hand des Schlafes" und "Das Geheimnis der verlorenen Zeit" zu den interessantesten amerikanischen Autoren seiner Generation gezählt werden. In "Gotteskind" wagt er viel und erzählt eine extreme Variante der klassischen Geschichte vom runaway kid: Junge Außenseiterin wird zur Ausreißerin, besteht manches Abenteuer und muss unter Schmerzen lernen, dass sie die Prägungen ihrer Herkunft nicht abstreifen kann wie eine Schlangenhaut, mag sie sich noch so sehr winden. Wray bürstet das Genre gleich mehrfach gegen den Strich, denn Adens Freiheitsdrang führt aus dem hedonistisch-liberalen Kalifornien in den islamistischen Käfig - einen Käfig aus Traditionen, Normen und religiösen Geboten.
"Gotteskind" ist ein Roman, ein Werk der Fiktion, das seinen Ursprung gleichwohl in der Wirklichkeit haben könnte. Ob die Amerikanerin an der Seite der Gotteskrieger, von der John Wray während einer Recherchereise in Afghanistan hörte, tatsächlich existiert hat, muss ebenso offen bleiben wie die Frage, ob sie den als "amerikanischen Taliban" 2001 festgenommenen John Walker Lindh auf dessen Reise in den Dschihad begleitete.
Aber die spärlichen Hinweise, die Wray, wie er in Interviews erzählt hat, 2015 in Afghanistan erhielt, haben genügt, um einen Roman entstehen zu lassen, der seine ausgesprochen reißerischen Zutaten auf erstaunlich subtile Art und Weise behandelt. Mit Aden, der gläubigen Muslima aus Kalifornien, verbissen, verbiestert, verwirrt, verliebt und ungeheuer zielstrebig und halsstarrig, erschafft Wray eine widersprüchliche, aber gleichwohl überzeugende Figur.
Ein junger Mann, der aus fehlgeleitetem Idealismus nach Afghanistan geht, braucht nur sich selbst zu täuschen. Eine junge Frau, die sich als Mann verkleidet, um dasselbe zu tun, muss ihre gesamte Umgebung betrügen und ein Lügengebäude errichten, das nicht nur zum Gefängnis werden muss, sondern im Gegensatz zu allen ihren Werten und Idealen steht und sogar ihr Leben gefährdet. Denn Aden erkennt schnell, was ihr droht, wenn die Maskerade auffliegen sollte: Folter, Tod oder Versklavung.
Wray fragt nicht, warum die junge Frau ein solches Risiko eingeht, er beschreibt, wie sie es tut: mit dem Mut, der Umsicht und der selbstzerstörerischen Unbedingtheit der Fanatikerin. Aden begehrt gegen alles auf - solange es ihre alte Heimat und ihr Elternhaus betrifft. In ihrem neuen Leben zwingt sie sich zu absolutem Gehorsam. Sie befolgt eifrig alle Regeln, beugt sich weißbärtigen Patriarchen, undurchschaubaren Mullahs wie den paramilitärischen Kommandostrukturen in den Lagern und erfährt dadurch jene Art der Freiheit, die nur die Unterwerfung spendet. Die naheliegende Frage, wie frei eine Frau sein kann, die ihr Geschlecht verbergen muss, stellt sie sich nicht.
Christian Kracht schickte vor achtzehn Jahren in seinem Roman "1979" einen Dandy auf den Spuren von Robert Byron nach Iran und weiter in ein Straflager, damit er dort, erniedrigt und seiner Persönlichkeit beraubt, erstmals in seinem Leben etwas wie Heimat fände. Auch Aden ist auf der Suche nach einer Gemeinschaft, die sie als Heimat empfinden kann. Dafür ist ihr kein Preis zu hoch: Als sie einen angeblichen Verräter, einen gefesselten alten Mann, erschießen soll, zögert sie nicht, es zu tun. Sie "hatte mit dem Töten angefangen und sah nun keinen Ausweg mehr, weshalb sie ungeduldig darauf wartete, weiterzumachen zu können", heißt es danach lakonisch. Bruce Chatwin hat die islamischen Länder Zentralasiens als "schlafende Riesen" bezeichnet. John Wray erzählt davon, was passieren kann, wenn die Kinder des Westens mit dem Riesen spielen wollen.
John Wray: "Gotteskind". Roman.
Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Rowohlt Verlag, Reinbek 2019. 352 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In John Wrays Roman "Gotteskind" zieht eine junge Amerikanerin als Mann verkleidet in den "Heiligen Krieg".
Von Hubert Spiegel
Gott hat seltsame Kinder. Mit Aden Grace Sawyer, einer jungen Amerikanerin aus Kalifornien, Professorentochter, achtzehn Jahre alt, eigensinnig, intelligent, gelangweilt, angewidert von der Verlogenheit ihres Elternhauses wie dem oberflächlichen Alltagsleben ihres Heimatlandes, hat John Wray in "Gotteskind" eine Romanfigur geschaffen, wie es sie bislang noch nicht gegeben hat: eine Musterschülerin des Dschihads, Klassenbeste in den Ausbildungslagern der Mudschahedin zwischen Kundus und Kandahar, eine androgyne Kindfrau, sehnsuchtsvoll, korankundig, kaltblütig.
Kann das gutgehen? Der westliche Reisende, der als Muslim verkleidet die exotische Welt des Orients erkundet und sogar bis nach Mekka gelangt, das ist seit Richard Francis Burton (1821 bis 1890) ein Topos der Reise- und Abenteuerliteratur des neunzehnten Jahrhunderts, der sich aus historischen Vorbildern speist. Auch reisende Frauen in Männerkleidung hat es gegeben, aber eine junge Amerikanerin, die im 21.Jahrhundert als Jüngling verkleidet in den "Heiligen Krieg" zieht? Eine Achtzehnjährige aus Kalifornien als junger Krieger im Traumland orientalisierender Homoerotik, zwischen bärtigen, sanftmütigen und grausamen Kämpfern, die ihre Waffen in Chintz hüllen, die Augen mit Kajal umranden, Rosenblätter zwischen den Lippen, wie es Bruce Chatwin und vor ihm Robert Byron idealisierend ausgemalt haben?
John Wray, Jahrgang 1971 und als Sohn eines amerikanischen Vaters und einer österreichischen Mutter seit je ein Grenzgänger zwischen den Welten, muss mit Romanen wie "Die rechte Hand des Schlafes" und "Das Geheimnis der verlorenen Zeit" zu den interessantesten amerikanischen Autoren seiner Generation gezählt werden. In "Gotteskind" wagt er viel und erzählt eine extreme Variante der klassischen Geschichte vom runaway kid: Junge Außenseiterin wird zur Ausreißerin, besteht manches Abenteuer und muss unter Schmerzen lernen, dass sie die Prägungen ihrer Herkunft nicht abstreifen kann wie eine Schlangenhaut, mag sie sich noch so sehr winden. Wray bürstet das Genre gleich mehrfach gegen den Strich, denn Adens Freiheitsdrang führt aus dem hedonistisch-liberalen Kalifornien in den islamistischen Käfig - einen Käfig aus Traditionen, Normen und religiösen Geboten.
"Gotteskind" ist ein Roman, ein Werk der Fiktion, das seinen Ursprung gleichwohl in der Wirklichkeit haben könnte. Ob die Amerikanerin an der Seite der Gotteskrieger, von der John Wray während einer Recherchereise in Afghanistan hörte, tatsächlich existiert hat, muss ebenso offen bleiben wie die Frage, ob sie den als "amerikanischen Taliban" 2001 festgenommenen John Walker Lindh auf dessen Reise in den Dschihad begleitete.
Aber die spärlichen Hinweise, die Wray, wie er in Interviews erzählt hat, 2015 in Afghanistan erhielt, haben genügt, um einen Roman entstehen zu lassen, der seine ausgesprochen reißerischen Zutaten auf erstaunlich subtile Art und Weise behandelt. Mit Aden, der gläubigen Muslima aus Kalifornien, verbissen, verbiestert, verwirrt, verliebt und ungeheuer zielstrebig und halsstarrig, erschafft Wray eine widersprüchliche, aber gleichwohl überzeugende Figur.
Ein junger Mann, der aus fehlgeleitetem Idealismus nach Afghanistan geht, braucht nur sich selbst zu täuschen. Eine junge Frau, die sich als Mann verkleidet, um dasselbe zu tun, muss ihre gesamte Umgebung betrügen und ein Lügengebäude errichten, das nicht nur zum Gefängnis werden muss, sondern im Gegensatz zu allen ihren Werten und Idealen steht und sogar ihr Leben gefährdet. Denn Aden erkennt schnell, was ihr droht, wenn die Maskerade auffliegen sollte: Folter, Tod oder Versklavung.
Wray fragt nicht, warum die junge Frau ein solches Risiko eingeht, er beschreibt, wie sie es tut: mit dem Mut, der Umsicht und der selbstzerstörerischen Unbedingtheit der Fanatikerin. Aden begehrt gegen alles auf - solange es ihre alte Heimat und ihr Elternhaus betrifft. In ihrem neuen Leben zwingt sie sich zu absolutem Gehorsam. Sie befolgt eifrig alle Regeln, beugt sich weißbärtigen Patriarchen, undurchschaubaren Mullahs wie den paramilitärischen Kommandostrukturen in den Lagern und erfährt dadurch jene Art der Freiheit, die nur die Unterwerfung spendet. Die naheliegende Frage, wie frei eine Frau sein kann, die ihr Geschlecht verbergen muss, stellt sie sich nicht.
Christian Kracht schickte vor achtzehn Jahren in seinem Roman "1979" einen Dandy auf den Spuren von Robert Byron nach Iran und weiter in ein Straflager, damit er dort, erniedrigt und seiner Persönlichkeit beraubt, erstmals in seinem Leben etwas wie Heimat fände. Auch Aden ist auf der Suche nach einer Gemeinschaft, die sie als Heimat empfinden kann. Dafür ist ihr kein Preis zu hoch: Als sie einen angeblichen Verräter, einen gefesselten alten Mann, erschießen soll, zögert sie nicht, es zu tun. Sie "hatte mit dem Töten angefangen und sah nun keinen Ausweg mehr, weshalb sie ungeduldig darauf wartete, weiterzumachen zu können", heißt es danach lakonisch. Bruce Chatwin hat die islamischen Länder Zentralasiens als "schlafende Riesen" bezeichnet. John Wray erzählt davon, was passieren kann, wenn die Kinder des Westens mit dem Riesen spielen wollen.
John Wray: "Gotteskind". Roman.
Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Rowohlt Verlag, Reinbek 2019. 352 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wray verzettelt sich nicht und wird auch nicht ironisch oder moralisierend. Er nimmt seine Protagonistin ernst und versucht, zu ergründen, was besonders eine Frau zu den Taliban treiben könnte. Er will erzählen, wie sie zur Gläubigen wird und wie sie als Gläubige tickt. Kölnische Rundschau 201902