Der dreiundneunzigjährige Hugh G. Flood, pensionierter Abbruchunternehmer mit schottisch-irischen Wurzeln, gedenkt mit einer Diät aus Fisch und anderem Meeresgetier, Whiskey und der Luft des New Yorker Hafens 115 Jahre alt zu werden. Die drei Geschichten, die Joseph Mitchell diesem halb erdichteten, halb wahren Sonderling gewidmet hat, sind legendär: In der Redaktion des »New Yorker« musste jeder Neuankömmling sie durcharbeiten. Entstanden sind sie Mitte der 1940er Jahre, und in diesem kürzesten Buch von Joseph Mitchell ist im Kleinen alles enthalten, was seine Reportagen und Porträts allgemein auszeichnet: unvergessliche Charaktere, liebevoll, ungeheuer lebendig und mit Galgenhumor beschrieben und zugleich von einer Intensität, die ihresgleichen sucht. Mit »Old Mr. Flood« hat Mitchell dem versunkenen Fulton Fish Market und seinen Hafenarbeitern, Köchen und Fischhändlern ein Denkmal gesetzt. Ein gefundenes Fressen für New-York-Liebhaber, Flaneure und alle Esslustigen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2015Drei Straßen namens New York
Als Manhattan noch nach Salzwasser und geräuchertem Fisch roch: Joseph Mitchells
Reportage „Old Mr. Flood“ aus den Vierzigerjahren endlich auf Deutsch
VON JÖRG HÄNTZSCHEL
Das New York der frühen Vierzigerjahre ist bei Joseph Mitchell eine Kleinstadt, ein Dorf, nein: drei, vier Straßen. Vom Kriegslärm ist ebenso wenig zu hören wie vom sonstigen Stampfen des 20. Jahrhunderts. Es scheinen deshalb auch gar nicht die realen Vierzigerjahre zu sein, durch die seine Protagonisten ihre kurzen Wege zurücklegen, sondern eine irgendwo außerhalb der Geschichte angesiedelte Ära des Zeitlos-Altertümlichen.
„Old Mr. Flood“ heißt die Trilogie von Reportagen, die Mitchell damals für den New Yorker geschrieben hat und die nun als jüngster Band der verdienstvollen Mitchell-Serie im Verlag Diaphanes endlich auf Deutsch erscheinen. Mitchell kehrt hier zurück zum Fulton Fish Market an der Südspitze Manhattans, der Gegend, die schon Setting und heimliche Protagonistin des vorletzten Bands „Zwischen den Flüssen“ war. Dieser Markt und seine Peripherie sind dem Titelhelden die ganze Welt. Flood war einmal erfolgreicher Abbruchunternehmer, er hatte zwei Frauen; nun ist er über neunzig und braucht zum Leben nicht mehr als sein Zimmerchen im Hartford-Hotel, seine Freunde vom Markt, Whiskey – und sehr viel Fisch. Er ernährt sich von nichts anderem.
Joseph Mitchell (1908–1996) begann als Reporter bei der New York Herald Tribune , bevor er 1938 zum New Yorker ging. Als „Sozialreportagen“ würde man seine Texte heute wohl bezeichnen. Doch das sind sie gerade nicht. Es sind Lebensreportagen. Wie schaffen wir uns in der großen Welt unsere kleine? Welche Regeln erfinden wir, um nicht täglich neu über das Wie und Warum nachdenken zu müssen? Wie zimmern wir uns unsere Welterklärung? Für den einen ballt sich alles Übel der Welt im Zellophan. Der andere lässt keine Gesundheitssendung im Radio aus. Man könnte Flood und seine Kumpanen als schrullig oder zwanghaft bezeichnen, doch für Mitchell sind sie Lebenskünstler.
Der größte von ihnen ist Mr. Flood selbst. Er geht nur einmal im Jahr in die Kirche, glaubt dafür aber mit umso größerer Inbrunst an die lebenserhaltende Wirkung von Fisch. Frühmorgens inspiziert er in Gummistiefeln die Marktstände, mittags lässt er sich den Aal oder Red Snapper zubereiten, den er nach langer Prüfung morgens erstanden hat, und abends diskutiert er mit Matthew Cusack, dem Ex-Polizisten und Markt-Wachmann, mit der Fischhändlerin Birdy Treppel und mit Tom Bethea, dem Einbalsamierer, die feinen Unterschiede zwischen Cotuit- und Chincoteague-Austern, Bombay Hooks und Mattitucks. Mal geht es um die Abenteuer der Muschelfischer, mal um das Pferd, das mit Austern statt Hafer jedes Rennen gewinnt. So ergiebig ist das Thema, dass es Mr. Floods Tage bis zum 115. Lebensjahr, das er mit seiner Fischdiät zu erreichen plant, leicht ausfüllen wird.
Mitchell beglaubigt diese Privatwelten alter Schwadroneure durch seine Be-schreibungen so zweifelsfrei, dass der Leser leicht in sie hineinsteigen kann. Man riecht den Dunst der Fischräuchereien, der Gewürzmühle, der Tierhäute aus dem nahen Geberviertel und des Teers, in den die Netze getaucht werden. Man sieht die Möwen, die in blinder Gier Fischreste aus den Ritzen des Kopfsteinpflasters picken, und man schmeckt die Austern und das Salzwasser, das aus ihnen rinnt.
Tragisch ist nur, dass sich niemand fand, der Mitchells eigenes Alter mit so viel Respekt und Humor bedeutsam machte. Nicht einmal er selbst. 1965 veröffentlichte er seine letzte Reportage, „Joe Goulds Geheimnis”, die Geschichte eines New Yorker Charakters, der jahrzehntelang immer denselben Essay über die „fürchterliche Tomatensucht” in seine Kladden schrieb. Dann verstummte Mitchell. Dreißig Jahre lang, bis zu seinem Tod 1996, erschien er täglich in der Redaktion des New Yorker – und veröffentlichte keine einzige Zeile.
Joseph Mitchell: Old Mr. Flood. Geschichten von Fischessen, Whiskey, Tod und Wiedergeburt. Aus dem Englischen von Sven Koch und Andrea Stumpf. Diaphanes Verlag, Zürich 2015. 160 Seiten, 14,95 Euro.
Mitchell ging 1938 als Reporter
zum Magazin New Yorker ,
wo er schließlich verstummte
Mitchell kehrt hier noch einmal zurück zum Fulton Fish Market an der Südspitze Manhattans – der Gegend, die schon Setting und heimliche Protagonistin des Reportagen-Bandes „Zwischen den Flüssen“ war.
Foto: Elliott Erwitt / Magnum Photos / Agentur Focus
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Als Manhattan noch nach Salzwasser und geräuchertem Fisch roch: Joseph Mitchells
Reportage „Old Mr. Flood“ aus den Vierzigerjahren endlich auf Deutsch
VON JÖRG HÄNTZSCHEL
Das New York der frühen Vierzigerjahre ist bei Joseph Mitchell eine Kleinstadt, ein Dorf, nein: drei, vier Straßen. Vom Kriegslärm ist ebenso wenig zu hören wie vom sonstigen Stampfen des 20. Jahrhunderts. Es scheinen deshalb auch gar nicht die realen Vierzigerjahre zu sein, durch die seine Protagonisten ihre kurzen Wege zurücklegen, sondern eine irgendwo außerhalb der Geschichte angesiedelte Ära des Zeitlos-Altertümlichen.
„Old Mr. Flood“ heißt die Trilogie von Reportagen, die Mitchell damals für den New Yorker geschrieben hat und die nun als jüngster Band der verdienstvollen Mitchell-Serie im Verlag Diaphanes endlich auf Deutsch erscheinen. Mitchell kehrt hier zurück zum Fulton Fish Market an der Südspitze Manhattans, der Gegend, die schon Setting und heimliche Protagonistin des vorletzten Bands „Zwischen den Flüssen“ war. Dieser Markt und seine Peripherie sind dem Titelhelden die ganze Welt. Flood war einmal erfolgreicher Abbruchunternehmer, er hatte zwei Frauen; nun ist er über neunzig und braucht zum Leben nicht mehr als sein Zimmerchen im Hartford-Hotel, seine Freunde vom Markt, Whiskey – und sehr viel Fisch. Er ernährt sich von nichts anderem.
Joseph Mitchell (1908–1996) begann als Reporter bei der New York Herald Tribune , bevor er 1938 zum New Yorker ging. Als „Sozialreportagen“ würde man seine Texte heute wohl bezeichnen. Doch das sind sie gerade nicht. Es sind Lebensreportagen. Wie schaffen wir uns in der großen Welt unsere kleine? Welche Regeln erfinden wir, um nicht täglich neu über das Wie und Warum nachdenken zu müssen? Wie zimmern wir uns unsere Welterklärung? Für den einen ballt sich alles Übel der Welt im Zellophan. Der andere lässt keine Gesundheitssendung im Radio aus. Man könnte Flood und seine Kumpanen als schrullig oder zwanghaft bezeichnen, doch für Mitchell sind sie Lebenskünstler.
Der größte von ihnen ist Mr. Flood selbst. Er geht nur einmal im Jahr in die Kirche, glaubt dafür aber mit umso größerer Inbrunst an die lebenserhaltende Wirkung von Fisch. Frühmorgens inspiziert er in Gummistiefeln die Marktstände, mittags lässt er sich den Aal oder Red Snapper zubereiten, den er nach langer Prüfung morgens erstanden hat, und abends diskutiert er mit Matthew Cusack, dem Ex-Polizisten und Markt-Wachmann, mit der Fischhändlerin Birdy Treppel und mit Tom Bethea, dem Einbalsamierer, die feinen Unterschiede zwischen Cotuit- und Chincoteague-Austern, Bombay Hooks und Mattitucks. Mal geht es um die Abenteuer der Muschelfischer, mal um das Pferd, das mit Austern statt Hafer jedes Rennen gewinnt. So ergiebig ist das Thema, dass es Mr. Floods Tage bis zum 115. Lebensjahr, das er mit seiner Fischdiät zu erreichen plant, leicht ausfüllen wird.
Mitchell beglaubigt diese Privatwelten alter Schwadroneure durch seine Be-schreibungen so zweifelsfrei, dass der Leser leicht in sie hineinsteigen kann. Man riecht den Dunst der Fischräuchereien, der Gewürzmühle, der Tierhäute aus dem nahen Geberviertel und des Teers, in den die Netze getaucht werden. Man sieht die Möwen, die in blinder Gier Fischreste aus den Ritzen des Kopfsteinpflasters picken, und man schmeckt die Austern und das Salzwasser, das aus ihnen rinnt.
Tragisch ist nur, dass sich niemand fand, der Mitchells eigenes Alter mit so viel Respekt und Humor bedeutsam machte. Nicht einmal er selbst. 1965 veröffentlichte er seine letzte Reportage, „Joe Goulds Geheimnis”, die Geschichte eines New Yorker Charakters, der jahrzehntelang immer denselben Essay über die „fürchterliche Tomatensucht” in seine Kladden schrieb. Dann verstummte Mitchell. Dreißig Jahre lang, bis zu seinem Tod 1996, erschien er täglich in der Redaktion des New Yorker – und veröffentlichte keine einzige Zeile.
Joseph Mitchell: Old Mr. Flood. Geschichten von Fischessen, Whiskey, Tod und Wiedergeburt. Aus dem Englischen von Sven Koch und Andrea Stumpf. Diaphanes Verlag, Zürich 2015. 160 Seiten, 14,95 Euro.
Mitchell ging 1938 als Reporter
zum Magazin New Yorker ,
wo er schließlich verstummte
Mitchell kehrt hier noch einmal zurück zum Fulton Fish Market an der Südspitze Manhattans – der Gegend, die schon Setting und heimliche Protagonistin des Reportagen-Bandes „Zwischen den Flüssen“ war.
Foto: Elliott Erwitt / Magnum Photos / Agentur Focus
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Endlich ist diese Trilogie von Reportagen des "New Yorker"-Reporters Joseph Mitchell unter dem Titel "Old Mr. Flood" auf Deutsch erschienen, freut sich Rezensent Jörg Häntzschel. Als "Lebensreportagen" würdigt der Kritiker die Texte, die ihn so nahe in die Welt der Protagonisten hineinzieht, dass er meint, den Dunst der Fischräuchereien riechen, die Austern und das Salzwasser schmecken zu können. Vor allem bewundert Häntzschel Mitchells Gabe, seine Helden, etwa den 90jährigen Mr. Flood, der sich nur von Fisch ernährt - in der Hoffnung 115 Jahre alt zu werden - ebenso respekt- wie humorvoll zu beschreiben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Es ist, als würde Mitchell für eine gewisse Zeit ganz im Leben des anderen aufgehen, und der Leser gleich mit.« Ulrich Rüdenauer, Die ZEIT