»Jede Biografie ist ein Evangelium«
Kurzes Buch über Tobias beschreibt in achtundvierzig Kapiteln das Leben des Schriftstellers, Pfarrers und Televangelisten Tobias Becker. Er wuchs in Niedersachsen auf und lebt in Berlin, spielt gern Tischtennis und will das Gute. Auf einer Reise nach Belgrad verliebt er sich in einen Mann namens Tobias und bekehrt sich zu Gott. Er wird Zeuge, wie Menschen zu Hasen werden, sich Liebe in Hass verwandelt und ein Flugzeug in den Alpen verbrennt. Wie viele Männer wähnt er einen Messias in sich. In Tobias Beckers Welt ist alles unausweichlich miteinander verwoben: Familie, Glauben, Subjekt und Gewalt. Es ist eine Welt voller Alpträume und Wunder.
Jakob Noltes neuer Roman ist eine moderne Heiligenerzählung, ein mystisches Rätsel. Er handelt von der Einsamkeit in der Heimat und der Verlorenheit in den Städten, von Allmacht und großer Unsicherheit, Spiritualität und dem Internet, der Sehnsucht nach Zugehörigkeit und dem Streben nach Sinn. Er wirft alle Vorstellungen von biografischem oder autofiktionalem Schreiben über den Haufen und lotet auf einzigartige Weise den Reichtum der Literatur aus: Erzählen voller Witz und Wissen, voller Romantik, Traurigkeit und funkelndem Humor.
Kurzes Buch über Tobias beschreibt in achtundvierzig Kapiteln das Leben des Schriftstellers, Pfarrers und Televangelisten Tobias Becker. Er wuchs in Niedersachsen auf und lebt in Berlin, spielt gern Tischtennis und will das Gute. Auf einer Reise nach Belgrad verliebt er sich in einen Mann namens Tobias und bekehrt sich zu Gott. Er wird Zeuge, wie Menschen zu Hasen werden, sich Liebe in Hass verwandelt und ein Flugzeug in den Alpen verbrennt. Wie viele Männer wähnt er einen Messias in sich. In Tobias Beckers Welt ist alles unausweichlich miteinander verwoben: Familie, Glauben, Subjekt und Gewalt. Es ist eine Welt voller Alpträume und Wunder.
Jakob Noltes neuer Roman ist eine moderne Heiligenerzählung, ein mystisches Rätsel. Er handelt von der Einsamkeit in der Heimat und der Verlorenheit in den Städten, von Allmacht und großer Unsicherheit, Spiritualität und dem Internet, der Sehnsucht nach Zugehörigkeit und dem Streben nach Sinn. Er wirft alle Vorstellungen von biografischem oder autofiktionalem Schreiben über den Haufen und lotet auf einzigartige Weise den Reichtum der Literatur aus: Erzählen voller Witz und Wissen, voller Romantik, Traurigkeit und funkelndem Humor.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Felix Stephan schlüsselt Jakob Noltes als einen "zutiefst eschatologischen" Roman auf. Der vielgelesene und -inszenierte Autor erzählt hier von einem frustrierten Jungschriftsteller, der nach einem gescheiterten Vortrag Priester wird und mit einer heimlich mitgefilmten Hass-Predigt viral geht. Dabei käme wieder Noltes eigenwillige Mischung aus ernsten Themen mit Zoten zum Tragen, die manche Leser an ihre Grenzen bringe, weiß Stephan. Speziell an diesem Roman scheint ihn aber die zirkuläre Form zu faszinieren, die er als anspruchsvolle Umsetzung des tragischen Teufelskreises aus Radikalität, Monetarisierung und Selbstoptimierung liest, in dem sich der Protagonist befinde. Darin sieht der Rezensent letztlich nicht nur eine Gesellschaftskritik, sondern auch einen vorsichtigen "technophilen Futurismus".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.03.2021Wenden der Parabel
Jakob Nolte trickst
Tobias Becker ist ein junger Mann in Berlin, der sich nicht binden will, schnell von sich selbst gelangweilt ist, sich oberflächlich über seine Klamotten identifiziert und andere Menschen nach ihrer Belesenheit beurteilt. Tobias hat seit seiner Pubertät Hautprobleme. Religion sieht er kritisch, das Ritual des Pickelausdrückens aber lässt ihn abergläubisch werden, gelingt es ihm, deutet er es als gutes Omen.
Tobias, der Titelheld in Jakob Noltes neuem Roman "Kurzes Buch über Tobias", war nicht immer ein zwischen Berlin und Hildesheim pendelnder Student mit wechselnden Beziehungen. Er war auch Kind in Barsinghausen, hat einen Vater, eine Mutter, die mal ein Junge war und einen Bruder. Außerdem wird Tobias ein erfolgreicher Autor, wird Prediger, wird Youtube-Guru, wird obdachlos und stirbt. Weil dieses Leben aber nicht chronologisch erzählt wird, springt man zwischen den Lebensstationen scheinbar willkürlich vor und zurück, oft haben die Passagen keinen direkten Zusammenhang, die eigentliche Handlung bleibt einem streckenweise verborgen.
Auch Noltes frühere Bücher haben mit Raum und Zeit, Horror, Milieustudien, mit musikalischer Nostalgie und Mystik experimentiert. Im neuen wird das wie in einer surrealistischen Collage auf die Spitze getrieben. Ein durchschnittlicher Millennial (wie Tobias) dürfte dieses sprunghafte Lesen gewohnt sein: Der öffnet einen Wikipedia-Artikel, stößt auf einen weiterführenden Link, öffnet diesen, um erneut auf einen weiterführenden Link zu stoßen. So sammeln sich geöffnete Fenster mit scheinbar unzusammenhängenden Artikeln. Die Aufmerksamkeit reicht nicht, um einen davon auch zu Ende zu lesen. Auch auf Tobias' Handy sind 48 geöffnete Fenster, die nicht geschlossen werden, weil er "befürchtete, dass das Wissen, das in den offenen Tabs stand, verschwinden würde, wenn er sie schlösse".
Die 48 Kapitel dieses Werks könnten ebenso als geöffnete Tabs verstanden werden, die aber gelesen werden müssen, weil es sich immer noch um ein gebundenes Buch handelt, Anfang und Ende mit Händen zu fassen. Oder man liest es als moderne Heiligengeschichte, welche eher kumulativ interpretationsoffene Antworten in Form von Parabeln liefert. Biblische Parallelen serviert Nolte fast ein bisschen zu offensichtlich: Tobias' beste Freundin Alina verwandelt sich im Berliner Park Hasenheide in einen österlichen Hasen. Tobias' eigene Auferstehung, ebenfalls in der Hasenheide, ist einer der vielen Höhepunkte des Buchs. Außerdem heißt Tobias' On-off-Freund auch Tobias, er lernt ihn auf einem Trip nach Belgrad kennen. Der heilige Tobias ist Schutzpatron der Reisenden und erkennt seinen göttlichen Begleiter erst am Ende seiner Reise.
Man kann das Buch aber auch autobiographisch lesen: Nolte, in Barsinghausen geboren, wird oft mit Thomas Pynchon verglichen. Tobias hasst Pynchon und empfindet den Literaturbetrieb als "Lärmverschmutzung".
Am Ende überkommt einen vor allem das Bedürfnis, das Buch auseinanderzunehmen und die Kapitel neu zu sortieren - in der Reihenfolge, in welcher sich die Handlung abspielt. Das Bedürfnis entsteht, weil man erst am Ende des Buchs überblickt, dass das, was man da gelesen hat, keinen Anfang und kein Ende hat. Und aus Angst, doch etwas verpasst zu haben, beginnt man von vorne, auch weil die Geschichte genau dort beginnt, wo sie endet: mit einem symbolisch aufgeblasenen Helikopterflug.
Analoge Zyklen wie ein Leben von Geburt bis Tod, ob in der Bibel, in einer Autorenbiographie oder einer Geschichte über einen Millennial, gehören in eine Vergangenheit ohne digitale Gleichzeitigkeit. Tobias' Leben vom Praktikum zur Obdachlosigkeit, von der Auferstehung zur Kindheit und umgekehrt oder andersherum verläuft synchron. Immer wieder begegnet Tobias einem älteren, einem jüngeren oder einem weiblichen Ich, das erkennt er aber genauso wenig wie der Leser.
Das Bedürfnis des Neusortierens muss also unterdrückt werden, es gibt keine Ordnung ohne Raum und Zeit, und es kommt der Verdacht auf, dass Nolte technisch so genial ist, dass die Reihenfolge der Kapitel keine Rolle spielt. Man könnte in der Mitte beginnen, sich zum Anfang vorarbeiten, um dann das Ende zu lesen. Verstärkt wird das durch ein ständiges, inhaltlich logisches Abwechseln der Erzählperspektive: Briefwechsel, Aufzählungen, Anekdoten, Dialog, Nolte kann und will sich nicht entscheiden, und ganz offensichtlich muss er das auch nicht.
Man gibt sich geschlagen und akzeptiert, dass der wilde Ritt einerseits sehr anstrengend ist, einen anderseits aber so eng an den Protagonisten bindet, dass man sich nicht darüber wundert, dass nie wirklich aufgelöst wird, ob Tobias über eine sehr lebhafte Phantasie verfügt oder tatsächlich ein Heiliger beziehungsweise Gott selbst ist.
TOBIAS LANGLEY-HUNT
Jakob Nolte, "Kurzes Buch über Tobias". Suhrkamp, 231 Seiten, 22 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jakob Nolte trickst
Tobias Becker ist ein junger Mann in Berlin, der sich nicht binden will, schnell von sich selbst gelangweilt ist, sich oberflächlich über seine Klamotten identifiziert und andere Menschen nach ihrer Belesenheit beurteilt. Tobias hat seit seiner Pubertät Hautprobleme. Religion sieht er kritisch, das Ritual des Pickelausdrückens aber lässt ihn abergläubisch werden, gelingt es ihm, deutet er es als gutes Omen.
Tobias, der Titelheld in Jakob Noltes neuem Roman "Kurzes Buch über Tobias", war nicht immer ein zwischen Berlin und Hildesheim pendelnder Student mit wechselnden Beziehungen. Er war auch Kind in Barsinghausen, hat einen Vater, eine Mutter, die mal ein Junge war und einen Bruder. Außerdem wird Tobias ein erfolgreicher Autor, wird Prediger, wird Youtube-Guru, wird obdachlos und stirbt. Weil dieses Leben aber nicht chronologisch erzählt wird, springt man zwischen den Lebensstationen scheinbar willkürlich vor und zurück, oft haben die Passagen keinen direkten Zusammenhang, die eigentliche Handlung bleibt einem streckenweise verborgen.
Auch Noltes frühere Bücher haben mit Raum und Zeit, Horror, Milieustudien, mit musikalischer Nostalgie und Mystik experimentiert. Im neuen wird das wie in einer surrealistischen Collage auf die Spitze getrieben. Ein durchschnittlicher Millennial (wie Tobias) dürfte dieses sprunghafte Lesen gewohnt sein: Der öffnet einen Wikipedia-Artikel, stößt auf einen weiterführenden Link, öffnet diesen, um erneut auf einen weiterführenden Link zu stoßen. So sammeln sich geöffnete Fenster mit scheinbar unzusammenhängenden Artikeln. Die Aufmerksamkeit reicht nicht, um einen davon auch zu Ende zu lesen. Auch auf Tobias' Handy sind 48 geöffnete Fenster, die nicht geschlossen werden, weil er "befürchtete, dass das Wissen, das in den offenen Tabs stand, verschwinden würde, wenn er sie schlösse".
Die 48 Kapitel dieses Werks könnten ebenso als geöffnete Tabs verstanden werden, die aber gelesen werden müssen, weil es sich immer noch um ein gebundenes Buch handelt, Anfang und Ende mit Händen zu fassen. Oder man liest es als moderne Heiligengeschichte, welche eher kumulativ interpretationsoffene Antworten in Form von Parabeln liefert. Biblische Parallelen serviert Nolte fast ein bisschen zu offensichtlich: Tobias' beste Freundin Alina verwandelt sich im Berliner Park Hasenheide in einen österlichen Hasen. Tobias' eigene Auferstehung, ebenfalls in der Hasenheide, ist einer der vielen Höhepunkte des Buchs. Außerdem heißt Tobias' On-off-Freund auch Tobias, er lernt ihn auf einem Trip nach Belgrad kennen. Der heilige Tobias ist Schutzpatron der Reisenden und erkennt seinen göttlichen Begleiter erst am Ende seiner Reise.
Man kann das Buch aber auch autobiographisch lesen: Nolte, in Barsinghausen geboren, wird oft mit Thomas Pynchon verglichen. Tobias hasst Pynchon und empfindet den Literaturbetrieb als "Lärmverschmutzung".
Am Ende überkommt einen vor allem das Bedürfnis, das Buch auseinanderzunehmen und die Kapitel neu zu sortieren - in der Reihenfolge, in welcher sich die Handlung abspielt. Das Bedürfnis entsteht, weil man erst am Ende des Buchs überblickt, dass das, was man da gelesen hat, keinen Anfang und kein Ende hat. Und aus Angst, doch etwas verpasst zu haben, beginnt man von vorne, auch weil die Geschichte genau dort beginnt, wo sie endet: mit einem symbolisch aufgeblasenen Helikopterflug.
Analoge Zyklen wie ein Leben von Geburt bis Tod, ob in der Bibel, in einer Autorenbiographie oder einer Geschichte über einen Millennial, gehören in eine Vergangenheit ohne digitale Gleichzeitigkeit. Tobias' Leben vom Praktikum zur Obdachlosigkeit, von der Auferstehung zur Kindheit und umgekehrt oder andersherum verläuft synchron. Immer wieder begegnet Tobias einem älteren, einem jüngeren oder einem weiblichen Ich, das erkennt er aber genauso wenig wie der Leser.
Das Bedürfnis des Neusortierens muss also unterdrückt werden, es gibt keine Ordnung ohne Raum und Zeit, und es kommt der Verdacht auf, dass Nolte technisch so genial ist, dass die Reihenfolge der Kapitel keine Rolle spielt. Man könnte in der Mitte beginnen, sich zum Anfang vorarbeiten, um dann das Ende zu lesen. Verstärkt wird das durch ein ständiges, inhaltlich logisches Abwechseln der Erzählperspektive: Briefwechsel, Aufzählungen, Anekdoten, Dialog, Nolte kann und will sich nicht entscheiden, und ganz offensichtlich muss er das auch nicht.
Man gibt sich geschlagen und akzeptiert, dass der wilde Ritt einerseits sehr anstrengend ist, einen anderseits aber so eng an den Protagonisten bindet, dass man sich nicht darüber wundert, dass nie wirklich aufgelöst wird, ob Tobias über eine sehr lebhafte Phantasie verfügt oder tatsächlich ein Heiliger beziehungsweise Gott selbst ist.
TOBIAS LANGLEY-HUNT
Jakob Nolte, "Kurzes Buch über Tobias". Suhrkamp, 231 Seiten, 22 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Sprunghaft, absurd und sehr lustig.« Julia Hubernagel taz am wochenende 20211212