Zwölf Etagen Stahl umarmen das Kottbusser Tor, wo das Herz aus Beton seit Anfang der Siebziger in unruhigem Takt schlägt. Gefährlich sei der Kotti, schreibt die Presse, ein sozialer Brennpunkt, Drogenumschlagplatz. Hier, im Gebäuderiegel Neues Zentrum Kreuzberg, leben Mutlu, Baris, Aylin, Stanca, Marianne und Günther. Ihre Geschichten, eine Chronik persönlicher Schicksalsschläge, sind eng verwoben mit dem Leben des Viertels. Als Stanca eines Nachts einen schrecklichen Fund macht und Mutlus Söhne ins Drogenmilieu abzurutschen drohen, bildet sich eine Bürgerwehr. Unbemerkt bleibt dabei eine ganz andere, allumfassende Gefahr, die im Verborgenen an einem eigenen Ende schreibt.Julia Rothenburg erschafft empathische Porträts ihrer Figuren, die jede für sich um eine selbstbestimmte Existenz kämpfen. Ein Bild urbaner Vielstimmigkeit entsteht, das auf Risse hinweist, die einzelne Leben und eine ganze Gemeinschaft auseinanderbrechen lassen können.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Viktoria Willenborg kriegt sich vor lauter Hochachtung über so viel Authentizität in Julia Rothenburgs Kotti-Roman gar nicht mehr ein. Allerdings warnt sie den Leser auch: vor kaputten Figuren, einer schmerzhaft nüchternen Sprache und allerhand Ekligem, Taubendreck, Junkies, "Herumirrende", beengte Wohnverhältnisse etc. Dass die Rezensentin das Kottbusser Tor nur vom Hörensagen kennt, liegt auf der Hand. Nach der Lektüre von Rothenburgs Roman über die "Schande von Berlin" kann sie jetzt immerhin mitreden über Yussuf, Cemal, Günther und die Wut im Bauch der Marginalisierten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.07.2021Die Wut des Kottis
Julia Rothenburg gibt einem Gebäude eine Stimme
Stanca vermietet einen Teil ihrer winzigen Wohnung unter, die Brüder Baris und Burak wetteifern um die Aufmerksamkeit ihres verwitweten Vaters, und der wohnungslose Ario erwacht neben kackenden Tauben unter einer Brücke. Diese Menschen scheint nichts zu einen, und doch haben sie eine Verbindung: das Kottbusser Tor, die Schande von Berlin, voller Junkies und Herumirrender. Julia Rothenburg schlägt mit "Mond über Beton" ein düsteres Fotobuch der Abgehängten auf. Ein wütendes Buch. Anhand von lose verbundenen Mietern des Neuen Kreuzberger Zentrums, kurz NKZ (heute Zentrum Kreuzberg), erzählt sie erdrückend und spannend die Geschichten hinter den sonst geschlossenen Wohnungstüren.
Rothenburg lässt ihre Geschichten innerhalb einer Woche stattfinden. Die sieben Tage als Kapitelüberschriften erinnern daran, obwohl es wirkt wie ein ganzes Leben. Die Autorin bringt Figuren zum Sprechen, die nicht gehört werden, weil die Mehrheitsgesellschaft an ihnen, die in solchen Miet-Ungetümen leben, lieber vorbeieilt. Da ist Aylin, die neben der Arbeit in einem Supermarkt ihre Cousins Baris und Burak erzieht und unter der Belastung fast zerbricht. "Die Wut ist das Einzige in der Leere, das bleibt. Wut ist eine schlechte Füllmasse, porös wie die Zahnfüllungen, die bei ihr immer rausbrechen. Vermutlich weil sie so viel mit den Zähnen knirscht, weil verdammt noch mal alles zum Zähneknirschen ist in dieser Stadt, am Kotti, der genau wie bei Wut oben voll ist mit Beton und Farben, und unten ist nur ätzende Scheiße oder nichts. Ein Nichts!" Die explizite Sprache ist eine Stärke des Romans.
Da ist der wohnungslose Ario, der sich in jedes schöne Mädchen verliebt, das ihm entgegenkommt. Mit seinem Charme bezirzt er auch Aylin: "Er weiß noch, wie man das macht mit den blitzenden Augen." Doch sein Leben ist nicht nur harmonisch, seine Wohnsituation nervt ihn. Er muss sich den Asphalt mit Tauben teilen, nach denen er Flaschen wirft, wenn sie zu laut schimpfen. "Ein Flügelschlagen, aufgeregtes Gezeter. Aus den Augenwinkeln sieht er die Taube in den blauen Himmel flattern. Es ist schon April, daher der blaue Himmel. Das war die acht Cent wert."
Ihr vielfältiges Personal formiert Rothenburg mit beißender Kritik zur zielgenauen Milieustudie. Das ist das ehrliche Berlin, nicht so wie die Zugezogenen in Mitte es sich schöntrinken. Alle feiern die Stadt für ihren Dreck und ihre Schnauze, aber die wahre Fratze der Gentrifizierung wollen die Gentrifizierer nicht sehen. Der Kotti ist cool, um sich Baklava zu holen, aber dann schnell wieder in die U-Bahn und zurück in den renovierten Altbau mit Frisör im Haus. Rothenburg, selbst in Berlin geboren, legt hier nach ihrem Debüt "Koslik ist krank" aus dem Jahr 2017 und "hell/dunkel", 2019 erschienen, ihr drittes Buch vor. Ihre genauen Beobachtungen machen den Roman lesenswert.
Unterbrochen wird die Geschichte von Texten aus Aushängen der Hausverwaltung und von Zeitungsartikeln, die mal den Fortschritt feiern und mal einen Abgesang auf den Wohnkomplex anstimmen. Die Hassliebe der Presse sammelt sich in den pointierten Monologen des Kottis. Das Gebäude erzählt seine Geschichte, gibt sich Vernichtungsphantasien hin und droht den Menschen: "Bei meiner Grundsteinlegung war alles schon vorbei. Dabei war das Wetter so schön. Wo ich hinsollte, war ein Loch. Schon wieder kamen Journalisten, aber diesmal hatten sie keine freudige Aufregung zu verbreiten, keine Utopie."
Nach Erzählungen über Alltagsärgernisse und simple Geschehnisse gipfelt der Roman im Kampf. Mutlu, Yussuf, Cemal und Günther wollen ihr Viertel gegen die Junkies verteidigen. Die eigentlich friedliebenden Männer fühlen sich so alleingelassen, dass sie zu Baseballschlägern greifen. Das Ende ist abrupt.
"Mond über Beton" ist beeindruckend, weil die marginalisierten Figuren selbst zu Wort kommen. Die nüchterne Sprache schmerzt, aber ist angemessen. Literatur muss auch stören, ekeln und bewegen. Wie dieser bebende Einblick in andere, echte Welten.
VIKTORIA WILLENBORG
Julia Rothenburg: "Mond über Beton". Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2021. 320 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Julia Rothenburg gibt einem Gebäude eine Stimme
Stanca vermietet einen Teil ihrer winzigen Wohnung unter, die Brüder Baris und Burak wetteifern um die Aufmerksamkeit ihres verwitweten Vaters, und der wohnungslose Ario erwacht neben kackenden Tauben unter einer Brücke. Diese Menschen scheint nichts zu einen, und doch haben sie eine Verbindung: das Kottbusser Tor, die Schande von Berlin, voller Junkies und Herumirrender. Julia Rothenburg schlägt mit "Mond über Beton" ein düsteres Fotobuch der Abgehängten auf. Ein wütendes Buch. Anhand von lose verbundenen Mietern des Neuen Kreuzberger Zentrums, kurz NKZ (heute Zentrum Kreuzberg), erzählt sie erdrückend und spannend die Geschichten hinter den sonst geschlossenen Wohnungstüren.
Rothenburg lässt ihre Geschichten innerhalb einer Woche stattfinden. Die sieben Tage als Kapitelüberschriften erinnern daran, obwohl es wirkt wie ein ganzes Leben. Die Autorin bringt Figuren zum Sprechen, die nicht gehört werden, weil die Mehrheitsgesellschaft an ihnen, die in solchen Miet-Ungetümen leben, lieber vorbeieilt. Da ist Aylin, die neben der Arbeit in einem Supermarkt ihre Cousins Baris und Burak erzieht und unter der Belastung fast zerbricht. "Die Wut ist das Einzige in der Leere, das bleibt. Wut ist eine schlechte Füllmasse, porös wie die Zahnfüllungen, die bei ihr immer rausbrechen. Vermutlich weil sie so viel mit den Zähnen knirscht, weil verdammt noch mal alles zum Zähneknirschen ist in dieser Stadt, am Kotti, der genau wie bei Wut oben voll ist mit Beton und Farben, und unten ist nur ätzende Scheiße oder nichts. Ein Nichts!" Die explizite Sprache ist eine Stärke des Romans.
Da ist der wohnungslose Ario, der sich in jedes schöne Mädchen verliebt, das ihm entgegenkommt. Mit seinem Charme bezirzt er auch Aylin: "Er weiß noch, wie man das macht mit den blitzenden Augen." Doch sein Leben ist nicht nur harmonisch, seine Wohnsituation nervt ihn. Er muss sich den Asphalt mit Tauben teilen, nach denen er Flaschen wirft, wenn sie zu laut schimpfen. "Ein Flügelschlagen, aufgeregtes Gezeter. Aus den Augenwinkeln sieht er die Taube in den blauen Himmel flattern. Es ist schon April, daher der blaue Himmel. Das war die acht Cent wert."
Ihr vielfältiges Personal formiert Rothenburg mit beißender Kritik zur zielgenauen Milieustudie. Das ist das ehrliche Berlin, nicht so wie die Zugezogenen in Mitte es sich schöntrinken. Alle feiern die Stadt für ihren Dreck und ihre Schnauze, aber die wahre Fratze der Gentrifizierung wollen die Gentrifizierer nicht sehen. Der Kotti ist cool, um sich Baklava zu holen, aber dann schnell wieder in die U-Bahn und zurück in den renovierten Altbau mit Frisör im Haus. Rothenburg, selbst in Berlin geboren, legt hier nach ihrem Debüt "Koslik ist krank" aus dem Jahr 2017 und "hell/dunkel", 2019 erschienen, ihr drittes Buch vor. Ihre genauen Beobachtungen machen den Roman lesenswert.
Unterbrochen wird die Geschichte von Texten aus Aushängen der Hausverwaltung und von Zeitungsartikeln, die mal den Fortschritt feiern und mal einen Abgesang auf den Wohnkomplex anstimmen. Die Hassliebe der Presse sammelt sich in den pointierten Monologen des Kottis. Das Gebäude erzählt seine Geschichte, gibt sich Vernichtungsphantasien hin und droht den Menschen: "Bei meiner Grundsteinlegung war alles schon vorbei. Dabei war das Wetter so schön. Wo ich hinsollte, war ein Loch. Schon wieder kamen Journalisten, aber diesmal hatten sie keine freudige Aufregung zu verbreiten, keine Utopie."
Nach Erzählungen über Alltagsärgernisse und simple Geschehnisse gipfelt der Roman im Kampf. Mutlu, Yussuf, Cemal und Günther wollen ihr Viertel gegen die Junkies verteidigen. Die eigentlich friedliebenden Männer fühlen sich so alleingelassen, dass sie zu Baseballschlägern greifen. Das Ende ist abrupt.
"Mond über Beton" ist beeindruckend, weil die marginalisierten Figuren selbst zu Wort kommen. Die nüchterne Sprache schmerzt, aber ist angemessen. Literatur muss auch stören, ekeln und bewegen. Wie dieser bebende Einblick in andere, echte Welten.
VIKTORIA WILLENBORG
Julia Rothenburg: "Mond über Beton". Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2021. 320 S., geb., 22,- [Euro].
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