Im Jahre 1918 sticht Roald Amundsen in See, um den Nordpol zu bezwingen. Vor der tschuktschischen Küste muß die Expedition im Packeis überwintern. Im Polarnebel zeichnen sich die Umrisse einer Siedlung ab. Wer sind die Bewohner? Die einheimischen Polarjäger und der Schamane Kagot beginnen damit, die Fremdlinge und ihre Sitten zu erforschen. Juri Rytcheu kennt die Überlieferungen seiner sibirischen Vorfahren. Sein Wissen bringt er in das vorliegende fesselnde Roman-Epos ein.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.09.1995Schamane mit Kochmütze
Kulturschock am Polarkreis: Ein Roman von Juri Rytchëu
Am 24. September 1919 ankert Roald Amundsen sein Expeditionsschiff "Maud" in der Tschaun-Bucht der Tschuktschensee nördlich des Polarkreises. Hier will er überwintern, um dann im Frühjahr mit dem Treibeis zum Nordpol zu driften. Am Ufer stehen drei Jarangas, Behausungen der Tschuktschen. Einer der russischen Ureinwohner am Ufer ist der Schamane Kagot. Bald besuchen russische Funktionäre der Bolschewiken die kleine Siedlung der Tschuktschen. Der Lehrer Alexej Perschin bleibt als Vertreter der neuen Macht und gründet im "Kampf gegen die Reichen und Schamanen" einen Sowjet.
Zwischen diesen drei Männern, die unterschiedlicher nicht sein können, entwickelt sich in Juri Rytchëus Roman ein kompliziertes Beziehungsgeflecht. Im Spannungsfeld zwischen den naturwissenschaftlichen Interessen des Polarforschers und dem Parteiauftrag des bolschewistischen Weltverbesserers kann sich die mythisch begründete Hochkultur der Tschuktschen nur schwer behaupten.
Amundsen stellt Kagot als Koch an, läßt den Schamanen im Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichten. Perschin lehrt die tschuktschischen Kinder die russische Schriftsprache. Beide stören das Sozialgefüge der kleinen Gemeinschaft und erschüttern ihr Selbstvertrauen. Amundsen beeindruckt die Tschuktschen, die an unbekannte, unbegreifliche Kräfte und Wunder glauben, mit großzügigen Geschenken, Perschin lockt sie mit der Utopie einer neuen Lebensordnung in Gerechtigkeit und Wohlstand.
Amundsen schützt Kagot und seine Tochter, die an Bord der "Maud" leben, aber auch vor der Indoktrination des russischen Lehrers und sogar vor Kagots Großfamilie, die ihm nach dem Leben trachtet. Um das Kind vor einer Epidemie zu retten, an der seine Frau starb, verließ Kagot den Stamm. Damit entzog er sich der Berufung zum Schamanen und muß nun nach uraltem Brauch damit rechnen, durch die Hand seiner Kameraden zu sterben. Als Flüchtling und Abtrünniger ist er isoliert und auf Hilfe angewiesen.
In der ungewohnten Umgebung des Schiffes fällt es ihm schwer, Kontakt zu den "äußeren Kräften" zu halten und wie früher Offenbarungen und Zeichen der großen Götter wahrzunehmen. Seine Gewohnheiten ändern sich. Er schläft nicht mehr auf Fellen in der Jaranga, sondern in der Koje seiner Kajüte. Er wird gewaschen und rasiert, ins Schwitzbad gesteckt und eingekleidet, lernt Kochen und Servieren. Durchdringende Gerüche verursachen heftige Kopfschmerzen. Nachts wartet er vergeblich auf die Stimme seiner verstorbenen Frau. In der Jaranga hatte er ihre Anwesenheit so deutlich gespürt, "daß er unwillkürlich die Hände ausstreckte, um ihren Körper zu berühren". Amundsen bewundert die rasche Anpassung seines schweigsamen, ordentlichen Kochs mit der schneeweißen Mütze. Die Dressur scheint gelungen.
Es ist beeindruckend, wie Rytchëu den zunächst unauffälligen Identitätsverlust des Schamanen beschreibt, seine zunehmende Verstörung, die allmähliche Wesensveränderung der ehemals kontemplativen, mit magischen Kräften begabten Persönlichkeit. In eindringlichen Szenen entwirft der russisch schreibende tschuktschische Erzähler ein Lebensbild Kagots: seine Lehrzeit bei dem greisen Schamanen Amos, den er nach altem Ritus töten mußte, um selbst ein Auserwählter zu werden; die verzweifelte Beschwörung der "äußeren Kräfte" beim Tod seiner Frau; die Rettung des Freundes Amtyn vor dem Ertrinken; die manische Suche nach der letzten Zahl, die magische Kräfte entwickeln soll. "Wer sie erkennt", hofft Kagot, "würde nicht einfach die Zahl gefunden haben, sondern etwas Größeres, vielleicht würde er eine besondere Kraft gewinnen, Scharfsinn, Weisheit, würde die Quelle menschlichen Glücks entdecken, höhere Gerechtigkeit - kurz, alles, wovon der Mensch träumt."
Wenn den Wissenschaftlern der Expedition, die alle Erscheinungen der Natur zählten, wogen, maßen, die quantitative Bestimmung des Seins so wichtig war, so fragte sich Kagot, konnten dann die "äußeren Kräfte" nicht über eine Zahl auf ihn einwirken? Aber die farbenprächtigen Bilder der Natur, Eingebungen und Stimmen, die überirdische Musik in ihm werden immer schwächer.
Als der Autor fast fünfundsechzig Jahre nach der Expedition Kagots Enkelin begegnet, erinnert er sich "an die zahlreichen, fast legendären Berichte" über den Schamanen, und er vertieft sich in die Zahlenreihen, die Kagot in das dicke Heft der "Norwegischen Polarexpedition von Roald Amundsen" eingetragen hatte. Fünfundzwanzig Jahre lag es unbeachtet in seinem Schreibtisch. Dann erst entstand ein biographischer Roman über eine authentische Episode aus der Geschichte seines zwölftausend Menschen zählenden Volkes, dessen Sprache erst vor etwa sechzig Jahren schriftlich fixiert wurde.
Rytchëu, der längst als Nationaldichter seines Volkes zu gelten hat, zitiert zwar aus Amundsens Tagebüchern und der Autobiographie des Polarforschers. Doch nicht der gescheiterte Versuch, mit der driftenden "Maud" über die Beringstraße den Nordpol zu erreichen, steht im Mittelpunkt dieses Epos. Rytchëus Thema ist der doppelte Kulturschock der Tschuktschen: ausgelöst durch die Ideologisierungsversuche der Sowjetunion und die Ausbeutungsversuche nordamerikanischer Händler. Der Schamane Kagot verkörpert den Konflikt zwischen der Bewahrung kultureller Traditionen und der Anpassung an die technisierten Lebensbedingungen des zwanzigsten Jahrhunderts. Zuletzt verliert sich KagotsSpur im Treibeis. HANS-PETER KLAUSENITZER
Juri Rytchëu: "Die Suche nach der letzten Zahl". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Charlotte und Leonhard Kossuth. Unionsverlag Zürich 1995. 396 S., geb., 39,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kulturschock am Polarkreis: Ein Roman von Juri Rytchëu
Am 24. September 1919 ankert Roald Amundsen sein Expeditionsschiff "Maud" in der Tschaun-Bucht der Tschuktschensee nördlich des Polarkreises. Hier will er überwintern, um dann im Frühjahr mit dem Treibeis zum Nordpol zu driften. Am Ufer stehen drei Jarangas, Behausungen der Tschuktschen. Einer der russischen Ureinwohner am Ufer ist der Schamane Kagot. Bald besuchen russische Funktionäre der Bolschewiken die kleine Siedlung der Tschuktschen. Der Lehrer Alexej Perschin bleibt als Vertreter der neuen Macht und gründet im "Kampf gegen die Reichen und Schamanen" einen Sowjet.
Zwischen diesen drei Männern, die unterschiedlicher nicht sein können, entwickelt sich in Juri Rytchëus Roman ein kompliziertes Beziehungsgeflecht. Im Spannungsfeld zwischen den naturwissenschaftlichen Interessen des Polarforschers und dem Parteiauftrag des bolschewistischen Weltverbesserers kann sich die mythisch begründete Hochkultur der Tschuktschen nur schwer behaupten.
Amundsen stellt Kagot als Koch an, läßt den Schamanen im Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichten. Perschin lehrt die tschuktschischen Kinder die russische Schriftsprache. Beide stören das Sozialgefüge der kleinen Gemeinschaft und erschüttern ihr Selbstvertrauen. Amundsen beeindruckt die Tschuktschen, die an unbekannte, unbegreifliche Kräfte und Wunder glauben, mit großzügigen Geschenken, Perschin lockt sie mit der Utopie einer neuen Lebensordnung in Gerechtigkeit und Wohlstand.
Amundsen schützt Kagot und seine Tochter, die an Bord der "Maud" leben, aber auch vor der Indoktrination des russischen Lehrers und sogar vor Kagots Großfamilie, die ihm nach dem Leben trachtet. Um das Kind vor einer Epidemie zu retten, an der seine Frau starb, verließ Kagot den Stamm. Damit entzog er sich der Berufung zum Schamanen und muß nun nach uraltem Brauch damit rechnen, durch die Hand seiner Kameraden zu sterben. Als Flüchtling und Abtrünniger ist er isoliert und auf Hilfe angewiesen.
In der ungewohnten Umgebung des Schiffes fällt es ihm schwer, Kontakt zu den "äußeren Kräften" zu halten und wie früher Offenbarungen und Zeichen der großen Götter wahrzunehmen. Seine Gewohnheiten ändern sich. Er schläft nicht mehr auf Fellen in der Jaranga, sondern in der Koje seiner Kajüte. Er wird gewaschen und rasiert, ins Schwitzbad gesteckt und eingekleidet, lernt Kochen und Servieren. Durchdringende Gerüche verursachen heftige Kopfschmerzen. Nachts wartet er vergeblich auf die Stimme seiner verstorbenen Frau. In der Jaranga hatte er ihre Anwesenheit so deutlich gespürt, "daß er unwillkürlich die Hände ausstreckte, um ihren Körper zu berühren". Amundsen bewundert die rasche Anpassung seines schweigsamen, ordentlichen Kochs mit der schneeweißen Mütze. Die Dressur scheint gelungen.
Es ist beeindruckend, wie Rytchëu den zunächst unauffälligen Identitätsverlust des Schamanen beschreibt, seine zunehmende Verstörung, die allmähliche Wesensveränderung der ehemals kontemplativen, mit magischen Kräften begabten Persönlichkeit. In eindringlichen Szenen entwirft der russisch schreibende tschuktschische Erzähler ein Lebensbild Kagots: seine Lehrzeit bei dem greisen Schamanen Amos, den er nach altem Ritus töten mußte, um selbst ein Auserwählter zu werden; die verzweifelte Beschwörung der "äußeren Kräfte" beim Tod seiner Frau; die Rettung des Freundes Amtyn vor dem Ertrinken; die manische Suche nach der letzten Zahl, die magische Kräfte entwickeln soll. "Wer sie erkennt", hofft Kagot, "würde nicht einfach die Zahl gefunden haben, sondern etwas Größeres, vielleicht würde er eine besondere Kraft gewinnen, Scharfsinn, Weisheit, würde die Quelle menschlichen Glücks entdecken, höhere Gerechtigkeit - kurz, alles, wovon der Mensch träumt."
Wenn den Wissenschaftlern der Expedition, die alle Erscheinungen der Natur zählten, wogen, maßen, die quantitative Bestimmung des Seins so wichtig war, so fragte sich Kagot, konnten dann die "äußeren Kräfte" nicht über eine Zahl auf ihn einwirken? Aber die farbenprächtigen Bilder der Natur, Eingebungen und Stimmen, die überirdische Musik in ihm werden immer schwächer.
Als der Autor fast fünfundsechzig Jahre nach der Expedition Kagots Enkelin begegnet, erinnert er sich "an die zahlreichen, fast legendären Berichte" über den Schamanen, und er vertieft sich in die Zahlenreihen, die Kagot in das dicke Heft der "Norwegischen Polarexpedition von Roald Amundsen" eingetragen hatte. Fünfundzwanzig Jahre lag es unbeachtet in seinem Schreibtisch. Dann erst entstand ein biographischer Roman über eine authentische Episode aus der Geschichte seines zwölftausend Menschen zählenden Volkes, dessen Sprache erst vor etwa sechzig Jahren schriftlich fixiert wurde.
Rytchëu, der längst als Nationaldichter seines Volkes zu gelten hat, zitiert zwar aus Amundsens Tagebüchern und der Autobiographie des Polarforschers. Doch nicht der gescheiterte Versuch, mit der driftenden "Maud" über die Beringstraße den Nordpol zu erreichen, steht im Mittelpunkt dieses Epos. Rytchëus Thema ist der doppelte Kulturschock der Tschuktschen: ausgelöst durch die Ideologisierungsversuche der Sowjetunion und die Ausbeutungsversuche nordamerikanischer Händler. Der Schamane Kagot verkörpert den Konflikt zwischen der Bewahrung kultureller Traditionen und der Anpassung an die technisierten Lebensbedingungen des zwanzigsten Jahrhunderts. Zuletzt verliert sich KagotsSpur im Treibeis. HANS-PETER KLAUSENITZER
Juri Rytchëu: "Die Suche nach der letzten Zahl". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Charlotte und Leonhard Kossuth. Unionsverlag Zürich 1995. 396 S., geb., 39,- DM.
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»Rytchëu erfüllt seine Geschichte mit einer Wärme, die die Kälte und das Eis vergessen lässt. Ein Márquez der Eiswüste.« Frank Schorneck foglio