Dass Earthboi, der so alt ist wie das Leben auf der Erde selbst, sich ausgerechnet zu unserer Zeit in menschlicher Form manifestiert, kann kein Zufall sein. Er kennt die Natur und ihre Lebewesen in allen Facetten, er hat ihre Entstehung beobachtet und begleitet. Und nun betrachtet er entsetzt die verheerenden Auswirkungen des Anthropozäns auf die Natur, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Er entwickelt eine App, die UserInnen ein ökologisches Bewusstsein "einpflanzt" und wird zu einem globalen Anführer, einer Art Messias, dessen Anhängerschar stetig wächst. Ist die Rettung des Planeten vereinbar mit der Rettung der Menschheit?Lukas Jüligers "Unfollow" stößt mitten in die Klimadebatte. Kritisch setzt er sich mit aktuellen Fragen auseinander: Gibt es alternative, nachhaltige Lebensentwürfe? Wie gehen wir mit den gewaltigen ökologischen und sozialen Umwälzungen als Folge des Klimawandels um, mit denen wir uns künftig immer stärker konfrontiert sehen werden? Und ist ein Personenkult im digitalen Zeitalter plan- und konstruierbar?
buecher-magazin.de„Immer mehr Tiere verschwanden. Etwas störte den natürlichen Lauf. (…) Mikroplastik zerkratzte seine Kiemen, Ölteppiche verklebten seine Federn, Gase brannten in seinen Lungen.“ Das Bewusstsein der Erde manifestiert sich in einem siebenjährigen Jungen. Er erlebt eine Kindheit „in Langeweile und Überfluss“. Als seine Adoptivmutter immer wieder tote Tiere unter seinem Bett findet, landet er in der Psychiatrie. Er übt eine natürliche Anziehungskraft auf die anderen Kinder aus, und eines dieser Kinder erzählt uns diese Geschichte. Was wir glauben, bleibt uns überlassen. Der Junge flieht aus der Psychiatrie, stiehlt ein Smartphone und ein Solarpanel und wird unter dem Namen @realearthboi zum Influencer. Er lenkt die Aufmerksamkeit des Netzes auf die Zerstörung des Planeten, erfindet eine nachhaltigere Nahrung, programmiert eine Meditations-App und gründet schließlich zusammen mit einem anderen Internet-Wunderkind eine Kommune: Erde, ein Zentrum für „assistierte Evolution“. Lukas Jüligers hübsche, detaillierte, auf eine seltsam entschlossene Weise verspielte Zeichnungen in meist kalten, gedeckten Farben haben dunkle Untertöne. In dieser Geschichte liegt ein Abgrund. Sie ist so vieldeutig, dass sich noch Tage nach der Lektüre mögliche Interpretationen zusammensetzen wie Bilder in einem Kaleidoskop. Vielleicht ist „Unfollow“ die Geschichte einer Befreiung.
© BÜCHERmagazin, Elisabeth Dietz (ed)
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Christoph Haas hat zwei neue Comics zur Klimakatastrophe gelesen. In Lukas Jüligers "Unfollow" wird mit "Earthboi" eine Art Messias in die Umweltzerstörung hineingeboren, der im Wald eine Schar von Influencer-Jünger*innen um sich herum versammelt, erzählt der Kritiker. Er bescheinigt Jüliger ein großes Talent, mit seinen Bildern eine beklemmende Stimmung zu erzeugen, wirft ihm aber zugleich vor, erzählerisch zu viel zu wollen: Durch die gleichzeitige Thematisierung von "Japanophilie und Influencer-Kultur, Klimakrise und Weltrettung, Sekten- und Amokwahn" entstehen dem Rezensenten zufolge einige Unklarheiten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.06.2020Der neue Christus
heißt Earthboi
Verstörend, aktuell: Lukas Jüligers Comic „Unfollow“
erzählt von der Heilssuche im Digitalzeitalter
VON THOMAS VON STEINAECKER
Es ist nicht leicht, ein Messias zu sein. Besonders nicht heute, im Digitalzeitalter, wenn es nicht mehr nur um spirituelle Erleuchtung, sondern um ökologische Erlösung geht. Wer in ihrem Namen ins Feld ziehen und Nachhaltigkeit predigen will, muss Herzen und Köpfe gewinnen und das heißt: die breite Öffentlichkeit. Und da sind keine Evangelien, sondern Video-Channels gefragt, deren Message von einer Millionenschar von Followern in die Welt getragen muss. Allerdings ist das nach wie vor ein dorniger Weg. Noch schneller als früher kann heute der, der gerade noch als Erlöser angebetet wurde, verdammt werden. Heilsbringer zu sein ist ein 24/7-Job und erfordert vollen Einsatz. Die aufmerksame Community ist bei jedem Fehltritt live dabei. Und ist einmal die Credibility zerstört, stehen diverse Formen des Martyriums zur Verfügung. Aber hey, keiner hat gesagt, dass es einfach wird.
Earthboi, die Hauptfigur in Lukas Jüligers drittem Comic „Unfollow“, hat alles, was es zum neuen Christus braucht. Er ist wie eine männliche Greta, nur mit der besseren Backstory. Ein Waisenkind, das Kaspar-Hauser-artig im Wald auftaucht und ebenso schwer autistisch wie wundersam frühreif bereits als Teenie seine Mitmenschen zur Rückkehr zum Urzustand bekehren will. Dafür wird der Junge in die Jugendpsychiatrie gesteckt, wo er unter den anderen Patienten rasch eine getreue Gefolgschaft findet, die ihm zur Flucht verhilft. Fortan lebt er, ein digitaler Mowgli, halbnackt im Wald und schickt seine Botschaften mit dem Laptop vor sich im Gestrüpp in die Welt hinaus. Der Strom kommt von einer geklauten Solarzelle. Und schon beginnt seine Messias-Werdung oder in der Sprache des 21. Jahrhunderts: Er wird zum Posterboy der Sinnsuchenden. „Er passte“, wie es im Comic heißt „in die Zeit, in der die meisten Leute die Welt retten wollten, aber niemand wusste, wo man anfangen sollte.“ Für die Sache reist Earthboi also um den Planeten, posiert mit vom Aussterben bedrohten Tieren, wird vom Time-Magazine aufs Cover gesetzt und entwickelt eine sagenhaft erfolgreiche Meditations-App, die ihre Benutzer glücklich Bäume umarmen und barfuß durchs Gras laufen lässt. Doch das Projekt der Weltrettung fängt damit erst an. Earthboi kauft einen verfallenen Freizeitpark, den er in eine utopische Kommune für seine treuen Follower verwandelt, eine Art Auroville für Digital Natives, in dem die Symbiose mit der Natur mustergültig praktiziert wird, auf dass sich die Menschheit ein Beispiel nehme. Allerdings geschieht nun etwas, was im Playbook des Messias eigentlich nicht vorgesehen ist: Earthboi verliebt sich in die Influencerin Yu und verbringt lieber Zeit mit ihr als mit seiner Community, die wenig Verständnis für die Dinge der Liebe zeigt und beschließt, ihren Erlöser wieder auf den Pfad der Tugend zu führen. Und sei’s mit Gewalt.
Befänden wir uns nicht seit Kurzem in der Corona-Epoche, wäre „Unfollow“ das Buch der Stunde. So ist es aber mindestens das der jüngsten Vergangenheit, mit ihren kindlichen Öko-Aktivisten und den hysterischen Mechanismen einer bigotten Digital-Gesellschaft. Schon in seinem letzten kurzen Comic, „Berenice“, in dem er eine Erzählung Edgar Allan Poes kühn aktualisierte, zeigte Lukas Jüliger, dass er mit der Welt der Chatrooms und Camgirls bestens vertraut ist. Das schmale Buch schaffte es, zum einen die befremdliche Ästhetik aus Infantilität, Japanophilie, Sex und Folter präzise zu analysieren und ihr andererseits trotzdem nicht die Faszination zu nehmen. Dieses Kunststück gelingt auch hier ziemlich bewundernswert. Wie einfach wäre es gewesen, den Stoff in eine beißende Satire zu verwandeln. Jüliger ist aber nie bereit, seinen Protagonisten zu verraten. Earthboi handelt schlafwandlerisch sicher, wirkt dabei aber stets völlig unemotional, wie ferngesteuert. Das macht ihn genauso undurchschaubar wie spannend und damit zur idealen Projektionsfläche.
Dieser Eindruck rührt auch von der ungewöhnlichen Erzählperspektive des Buches. Wer hier erzählt, sind die fanatischen Follower der Hauptfigur, die ihr Narrativ der Erlösung auf keinen Fall aufgeben wollen, selbst wenn es den Tod ihres Heilands bedeutet. Keine klassische Geschichte also, sondern das Evangelium nach Earthboi. Bei dieser Prämisse ist man auch bereit, über die offenkundigste Schwäche des Buches hinwegzusehen, die oft hölzern formulierten Texte, und es erscheint logisch, dass Jüliger auf eines der markantesten Mittel des Comics verzichtet, die Sprechblase: Wie in einer Bilderfibel begleiten kurze Texte die in Blau- und Rottönen gehaltenen Zeichnungen. Vor acht Jahren stachen in Jüligers bemerkenswertem Coming-of-Age-Debüt „Vakuum“ sofort die kindlichen Hauptfiguren ins Auge, die mit ihren langen, dünnen Gliedern ausdruckslos in wild wuchernden Landschaften standen, als seien sie Pflanzen oder Pilze – ein Stil, der in „Unfollow“ perfekt der Öko-Message der Erzählung entspricht. Mit diesem heißen Anwärter auf die deutschsprachige Graphic Novel des Jahres ist Jüliger nun sein Meisterstück gelungen: verstörend, originell und höchst aktuell.
Daraus hätte leicht eine Satire
werden können. Aber Jüliger will
seine Hauptfigur nicht verraten
Lukas Jüliger: Unfollow. Reprodukt Verlag, Berlin 2020. 168 Seiten, 18 Euro.
„Er passte“, heißt es in Lukas Jüligers Comic, „in die Zeit, in der die meisten Leute die Welt retten wollten, aber niemand wusste, wo man anfangen sollte.“ Earthboi posiert mit aussterbenden Tierarten.
Abb.:Reprodukt
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
heißt Earthboi
Verstörend, aktuell: Lukas Jüligers Comic „Unfollow“
erzählt von der Heilssuche im Digitalzeitalter
VON THOMAS VON STEINAECKER
Es ist nicht leicht, ein Messias zu sein. Besonders nicht heute, im Digitalzeitalter, wenn es nicht mehr nur um spirituelle Erleuchtung, sondern um ökologische Erlösung geht. Wer in ihrem Namen ins Feld ziehen und Nachhaltigkeit predigen will, muss Herzen und Köpfe gewinnen und das heißt: die breite Öffentlichkeit. Und da sind keine Evangelien, sondern Video-Channels gefragt, deren Message von einer Millionenschar von Followern in die Welt getragen muss. Allerdings ist das nach wie vor ein dorniger Weg. Noch schneller als früher kann heute der, der gerade noch als Erlöser angebetet wurde, verdammt werden. Heilsbringer zu sein ist ein 24/7-Job und erfordert vollen Einsatz. Die aufmerksame Community ist bei jedem Fehltritt live dabei. Und ist einmal die Credibility zerstört, stehen diverse Formen des Martyriums zur Verfügung. Aber hey, keiner hat gesagt, dass es einfach wird.
Earthboi, die Hauptfigur in Lukas Jüligers drittem Comic „Unfollow“, hat alles, was es zum neuen Christus braucht. Er ist wie eine männliche Greta, nur mit der besseren Backstory. Ein Waisenkind, das Kaspar-Hauser-artig im Wald auftaucht und ebenso schwer autistisch wie wundersam frühreif bereits als Teenie seine Mitmenschen zur Rückkehr zum Urzustand bekehren will. Dafür wird der Junge in die Jugendpsychiatrie gesteckt, wo er unter den anderen Patienten rasch eine getreue Gefolgschaft findet, die ihm zur Flucht verhilft. Fortan lebt er, ein digitaler Mowgli, halbnackt im Wald und schickt seine Botschaften mit dem Laptop vor sich im Gestrüpp in die Welt hinaus. Der Strom kommt von einer geklauten Solarzelle. Und schon beginnt seine Messias-Werdung oder in der Sprache des 21. Jahrhunderts: Er wird zum Posterboy der Sinnsuchenden. „Er passte“, wie es im Comic heißt „in die Zeit, in der die meisten Leute die Welt retten wollten, aber niemand wusste, wo man anfangen sollte.“ Für die Sache reist Earthboi also um den Planeten, posiert mit vom Aussterben bedrohten Tieren, wird vom Time-Magazine aufs Cover gesetzt und entwickelt eine sagenhaft erfolgreiche Meditations-App, die ihre Benutzer glücklich Bäume umarmen und barfuß durchs Gras laufen lässt. Doch das Projekt der Weltrettung fängt damit erst an. Earthboi kauft einen verfallenen Freizeitpark, den er in eine utopische Kommune für seine treuen Follower verwandelt, eine Art Auroville für Digital Natives, in dem die Symbiose mit der Natur mustergültig praktiziert wird, auf dass sich die Menschheit ein Beispiel nehme. Allerdings geschieht nun etwas, was im Playbook des Messias eigentlich nicht vorgesehen ist: Earthboi verliebt sich in die Influencerin Yu und verbringt lieber Zeit mit ihr als mit seiner Community, die wenig Verständnis für die Dinge der Liebe zeigt und beschließt, ihren Erlöser wieder auf den Pfad der Tugend zu führen. Und sei’s mit Gewalt.
Befänden wir uns nicht seit Kurzem in der Corona-Epoche, wäre „Unfollow“ das Buch der Stunde. So ist es aber mindestens das der jüngsten Vergangenheit, mit ihren kindlichen Öko-Aktivisten und den hysterischen Mechanismen einer bigotten Digital-Gesellschaft. Schon in seinem letzten kurzen Comic, „Berenice“, in dem er eine Erzählung Edgar Allan Poes kühn aktualisierte, zeigte Lukas Jüliger, dass er mit der Welt der Chatrooms und Camgirls bestens vertraut ist. Das schmale Buch schaffte es, zum einen die befremdliche Ästhetik aus Infantilität, Japanophilie, Sex und Folter präzise zu analysieren und ihr andererseits trotzdem nicht die Faszination zu nehmen. Dieses Kunststück gelingt auch hier ziemlich bewundernswert. Wie einfach wäre es gewesen, den Stoff in eine beißende Satire zu verwandeln. Jüliger ist aber nie bereit, seinen Protagonisten zu verraten. Earthboi handelt schlafwandlerisch sicher, wirkt dabei aber stets völlig unemotional, wie ferngesteuert. Das macht ihn genauso undurchschaubar wie spannend und damit zur idealen Projektionsfläche.
Dieser Eindruck rührt auch von der ungewöhnlichen Erzählperspektive des Buches. Wer hier erzählt, sind die fanatischen Follower der Hauptfigur, die ihr Narrativ der Erlösung auf keinen Fall aufgeben wollen, selbst wenn es den Tod ihres Heilands bedeutet. Keine klassische Geschichte also, sondern das Evangelium nach Earthboi. Bei dieser Prämisse ist man auch bereit, über die offenkundigste Schwäche des Buches hinwegzusehen, die oft hölzern formulierten Texte, und es erscheint logisch, dass Jüliger auf eines der markantesten Mittel des Comics verzichtet, die Sprechblase: Wie in einer Bilderfibel begleiten kurze Texte die in Blau- und Rottönen gehaltenen Zeichnungen. Vor acht Jahren stachen in Jüligers bemerkenswertem Coming-of-Age-Debüt „Vakuum“ sofort die kindlichen Hauptfiguren ins Auge, die mit ihren langen, dünnen Gliedern ausdruckslos in wild wuchernden Landschaften standen, als seien sie Pflanzen oder Pilze – ein Stil, der in „Unfollow“ perfekt der Öko-Message der Erzählung entspricht. Mit diesem heißen Anwärter auf die deutschsprachige Graphic Novel des Jahres ist Jüliger nun sein Meisterstück gelungen: verstörend, originell und höchst aktuell.
Daraus hätte leicht eine Satire
werden können. Aber Jüliger will
seine Hauptfigur nicht verraten
Lukas Jüliger: Unfollow. Reprodukt Verlag, Berlin 2020. 168 Seiten, 18 Euro.
„Er passte“, heißt es in Lukas Jüligers Comic, „in die Zeit, in der die meisten Leute die Welt retten wollten, aber niemand wusste, wo man anfangen sollte.“ Earthboi posiert mit aussterbenden Tierarten.
Abb.:Reprodukt
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.07.2020Dieses wunderbare Füllegefühl
Die Gegenwart in gezeichnete Bilder zu fassen ist schwer. Lukas Jüliger hatte es 2013 mit seinem Comic-Debüt getan. Mit "Unfollow" trifft er nun abermals den Nerv der Zeit.
Als Lukas Jüliger 2013 seinen Comic "Vakuum" herausbrachte, war das eines der verblüffendsten deutschen Debüts in dieser Erzählform. Denn Jüliger kam aus dem Nichts, konnte aber scheinbar schon alles: Er zeichnete, als hätte er bei Hayao Miyazaki einen Meisterkurs belegt (und war während des Studiums an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften doch nicht einmal in der Klasse von Anke Feuchtenberger gewesen). Er schrieb, als wollte er eine Essenz der Comic-of-Age-Literatur seit dem "Fänger im Roggen" gewinnen (und war dabei doch so eigenständig, dass man sich seinen Stoff nur in der unmittelbaren Gegenwart angesiedelt vorstellen konnte - sowohl inhaltlich wie äußerlich). Er konzipierte Panel-Arrangements, die den Bildsequenzen die seitenarchitektonische Stabilität eines Gebirges verliehen (und ließ doch auch immer wieder sichtbar werden, auf welch schwankendem Grund sich seine Geschichte bewegte). Man las diesen Band wie ein Generationenfanal (obwohl es kaum einen Autor gibt, der weniger von sich preisgibt als der 1988 geborene Jüliger; auf seiner Homepage beschränken sich die Angaben zur Person auf "currently living and working in Berlin"). Dass "Vakuum" bei Reprodukt erschien, dem deutschen Verlag mit dem größten Renommee in Sachen anspruchsvoller Comics, tat ein Übriges. Man könnte es paradox ausdrücken: "Vakuum" erzeugte ein Füllegefühl.
Und dann tatsächlich wieder nichts. Fünf Jahre lang nichts. Bis in der von Isabel Kreitz beim Carlsen Verlag herausgegebenen Schauercomicreihe "Die Unheimlichen" - mit Interpretationen klassischer Horrorgeschichten - Jüligers Umsetzung von Edgar Allan Poes Erzählung "Berenice" erschien und sich das Füllegefühl sofort wieder einstellte, trotz der bescheidenen Länge und der fremden Vorlage. Poes tragischer Spuk wurde unter Jüligers Feder absolut modern, weil der ihn in einer Welt der Internet-Mangakultur ansiedelte, in der die Kategorien von Erleben und Überleben ähnlich phantastische Züge aufweisen wie in der Gruselgeschichte aus dem neunzehnten Jahrhundert. 2018 war aber auch bekanntgeworden, dass Jüliger schon seit Jahren an einem großen eigenen Projekt saß, das sich um einen Influencer in den sozialen Medien drehen sollte. "Berenice" war offenbar so etwas wie die Fingerübung dazu.
Nun ist dieser große Comic da, wieder bei Reprodukt erschienen, und er heißt "Unfollow". Der Titel weist bereits auf den dystopischen Charakter der Geschichte hin, denn in einer Welt, in der die Zahl der Follower alles bedeutet, ist die Option "unfollow" Ausdruck von Verweigerung. Es ist bei Jüliger der Influencer selbst, der das followship mit seiner Gemeinde aufkündigt; die Folgen der resultierenden Enttäuschung für das erzählende "Wir" des Comics sind dessen eigentliches Thema.
Fixpunkt des Geschehens ist Earthboi, ein junger Mann unbestimmten Alters, der in einem Heim für verhaltensauffällige Jugendliche aufgewachsen ist und danach als Youtuber mit Videos übers natürliche Leben einen Kult um seine Person entfesselt hat, die dem eigenen Anspruch an Integrität nicht mehr gerecht werden kann. Anfangs wird Earthboi alles zum Erfolg, bis hin zur Liebe seiner Bewunderin Yu, die wie eine Wiedergängerin des Mangamädchens aus Jüligers "Berenice" erscheint. Sie hält Earthboi noch die Treue, als das kollektive "Wir" sich gegen ihn wendet, doch zu retten ist in der manichäischen Welt der sozialen Medien für niemanden etwas. "Unfollow" ist das desillusionierende Porträt des geplatzten Traums von Partizipation im Netz. Der Influencer bleibt ebenso allein wie seine Follower.
Jüliger findet für diese Geschichte eine graphische Form, die durch Verzicht auf Sprechblasen, Panelumrahmungen und Lautmalereien die Instagram-Ästhetik in den Comic überführt: Die Texte wirken wie Kommentare zu den Panels, obwohl sie autonom erzählen. Auch "Unfollow" wirkt wie ein Fanal. Nur diesmal nicht das einer Generation, sondern einer Kommunikationsstruktur.
ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Gegenwart in gezeichnete Bilder zu fassen ist schwer. Lukas Jüliger hatte es 2013 mit seinem Comic-Debüt getan. Mit "Unfollow" trifft er nun abermals den Nerv der Zeit.
Als Lukas Jüliger 2013 seinen Comic "Vakuum" herausbrachte, war das eines der verblüffendsten deutschen Debüts in dieser Erzählform. Denn Jüliger kam aus dem Nichts, konnte aber scheinbar schon alles: Er zeichnete, als hätte er bei Hayao Miyazaki einen Meisterkurs belegt (und war während des Studiums an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften doch nicht einmal in der Klasse von Anke Feuchtenberger gewesen). Er schrieb, als wollte er eine Essenz der Comic-of-Age-Literatur seit dem "Fänger im Roggen" gewinnen (und war dabei doch so eigenständig, dass man sich seinen Stoff nur in der unmittelbaren Gegenwart angesiedelt vorstellen konnte - sowohl inhaltlich wie äußerlich). Er konzipierte Panel-Arrangements, die den Bildsequenzen die seitenarchitektonische Stabilität eines Gebirges verliehen (und ließ doch auch immer wieder sichtbar werden, auf welch schwankendem Grund sich seine Geschichte bewegte). Man las diesen Band wie ein Generationenfanal (obwohl es kaum einen Autor gibt, der weniger von sich preisgibt als der 1988 geborene Jüliger; auf seiner Homepage beschränken sich die Angaben zur Person auf "currently living and working in Berlin"). Dass "Vakuum" bei Reprodukt erschien, dem deutschen Verlag mit dem größten Renommee in Sachen anspruchsvoller Comics, tat ein Übriges. Man könnte es paradox ausdrücken: "Vakuum" erzeugte ein Füllegefühl.
Und dann tatsächlich wieder nichts. Fünf Jahre lang nichts. Bis in der von Isabel Kreitz beim Carlsen Verlag herausgegebenen Schauercomicreihe "Die Unheimlichen" - mit Interpretationen klassischer Horrorgeschichten - Jüligers Umsetzung von Edgar Allan Poes Erzählung "Berenice" erschien und sich das Füllegefühl sofort wieder einstellte, trotz der bescheidenen Länge und der fremden Vorlage. Poes tragischer Spuk wurde unter Jüligers Feder absolut modern, weil der ihn in einer Welt der Internet-Mangakultur ansiedelte, in der die Kategorien von Erleben und Überleben ähnlich phantastische Züge aufweisen wie in der Gruselgeschichte aus dem neunzehnten Jahrhundert. 2018 war aber auch bekanntgeworden, dass Jüliger schon seit Jahren an einem großen eigenen Projekt saß, das sich um einen Influencer in den sozialen Medien drehen sollte. "Berenice" war offenbar so etwas wie die Fingerübung dazu.
Nun ist dieser große Comic da, wieder bei Reprodukt erschienen, und er heißt "Unfollow". Der Titel weist bereits auf den dystopischen Charakter der Geschichte hin, denn in einer Welt, in der die Zahl der Follower alles bedeutet, ist die Option "unfollow" Ausdruck von Verweigerung. Es ist bei Jüliger der Influencer selbst, der das followship mit seiner Gemeinde aufkündigt; die Folgen der resultierenden Enttäuschung für das erzählende "Wir" des Comics sind dessen eigentliches Thema.
Fixpunkt des Geschehens ist Earthboi, ein junger Mann unbestimmten Alters, der in einem Heim für verhaltensauffällige Jugendliche aufgewachsen ist und danach als Youtuber mit Videos übers natürliche Leben einen Kult um seine Person entfesselt hat, die dem eigenen Anspruch an Integrität nicht mehr gerecht werden kann. Anfangs wird Earthboi alles zum Erfolg, bis hin zur Liebe seiner Bewunderin Yu, die wie eine Wiedergängerin des Mangamädchens aus Jüligers "Berenice" erscheint. Sie hält Earthboi noch die Treue, als das kollektive "Wir" sich gegen ihn wendet, doch zu retten ist in der manichäischen Welt der sozialen Medien für niemanden etwas. "Unfollow" ist das desillusionierende Porträt des geplatzten Traums von Partizipation im Netz. Der Influencer bleibt ebenso allein wie seine Follower.
Jüliger findet für diese Geschichte eine graphische Form, die durch Verzicht auf Sprechblasen, Panelumrahmungen und Lautmalereien die Instagram-Ästhetik in den Comic überführt: Die Texte wirken wie Kommentare zu den Panels, obwohl sie autonom erzählen. Auch "Unfollow" wirkt wie ein Fanal. Nur diesmal nicht das einer Generation, sondern einer Kommunikationsstruktur.
ANDREAS PLATTHAUS
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