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In ihrer Parallelgeschichte zum Bestseller Die Kieferninseln schreibt Marion Poschmann humorvoll, poetisch und höchst originell über Kontrollverlust, aufdringliche Freundinnen und aufbegehrende Mütter, über den Frevel an der Natur und ihre fragile Schönheit, über die Dämonisierung von Frauen und die Kraft der Verbundenheit.
Mathildas Mann hat fluchtartig das Haus verlassen, ohne Erklärung. Ob ihr das Sorge bereitet, lässt sie sich nicht anmerken. Sie, die Studienrätin für Mathematik und Musik, betrachtet die Dinge mit nüchterner Gelassenheit. Als eine Freundin aus Kindertagen auftaucht,
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Produktbeschreibung
In ihrer Parallelgeschichte zum Bestseller Die Kieferninseln schreibt Marion Poschmann humorvoll, poetisch und höchst originell über Kontrollverlust, aufdringliche Freundinnen und aufbegehrende Mütter, über den Frevel an der Natur und ihre fragile Schönheit, über die Dämonisierung von Frauen und die Kraft der Verbundenheit.

Mathildas Mann hat fluchtartig das Haus verlassen, ohne Erklärung. Ob ihr das Sorge bereitet, lässt sie sich nicht anmerken. Sie, die Studienrätin für Mathematik und Musik, betrachtet die Dinge mit nüchterner Gelassenheit. Als eine Freundin aus Kindertagen auftaucht, ihre sonst so zurückhaltende Mutter plötzlich über eine geheimnisvolle Macht zu verfügen scheint und sie selbst von Visionen heimgesucht wird, kippt jedoch ihre rationale Welt ins Unheimliche. Hat sie von ihrer Mutter das Zweite Gesicht geerbt? Es kommt zu Waldbränden und skurrilen Heilritualen, es kommt Wind auf, dessen Flüstern ihr seltsam vertraut erscheint. Hört sie tatsächlich den Chor der Erinnyen?
Autorenporträt
Marion Poschmann wurde in Essen geboren und lebt heute in Berlin. Für ihre Lyrik und Prosa wurde sie mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bremer Literaturpreis 2021 für ihren Lyrikband Nimbus und im selben Jahr mit dem WORTMELDUNGEN-Literaturpreis. Zuletzt erhielt sie 2023 den Joseph-Breitbach-Preis für ihr Gesamtwerk.
Rezensionen
»[Poschmann ist] eine der klügsten und renommiertesten deutschsprachigen Autorinnen ihrer Generation ...« Beate Tröger der Freitag 20231116

Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension

C. G. Jung unterscheidet zwischen den seelischen Archetypen Animus für Geist und Gedächtnis und Anima für Wind, Atem und Seele, erinnert Rezensentin Beate Tröger, die in Marion Poschmanns Heldin Mathilda ein Sinnbild der Anima erkennt. Mathilda, Lehrerin und noch immer unter der Knute der strengen Mutter, versucht das Verschwinden des Ehemanns zu verschleiern, bis nach und nach Risse im System auftauchen: Ihr Schriftbild verändert sich, Tassen fallen zu Boden und spätestens wenn Mathilda sich mit Freundinnen in eine Waldhütte zurückzieht, ein gigantischer Sturm aufzieht und endgültig alle Ordnung zusammenbricht, staunt die Kritikerin, wie intellgent, dicht und humorvoll Poschmann das Verdängen der Anima gestaltet: Nicht einfach als simple Darstellung des Geschlechterverhältnisses, sondern als Frage nach allen Facetten des Unheimlichen. Wie Poschmann inneres Erleben und "entfesselte Natur" verknüpft, Verweise und Nebenstränge einflicht und beschreibt, wie alles außer Balance gerät, findet Tröger schlicht meisterhaft.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2023

In einem Jahr mit nach Frauen benannten Tiefdruckgebieten
Das neuntausend Kilometer ferne Gegenstück: Marion Poschmanns neuer Roman "Chor der Erinnyen" ist eine große Gesellschaftsallegorie

Mathilda? Doch, die kennen wir, aber was wir bisher über sie wussten, entstammte der Vorstellung ihres Mannes, Gilbert Silvester. Nicht dass er es dabei an objektiven Fakten hätte fehlen lassen: "Sie unterrichtete Musik und Mathematik an einem Gymnasium und bildete Lehrkräfte aus. Sie galt als Koryphäe der Fachdidaktik, als Kommunikationsgenie und Wunderwaffe, sie wurde, gemessen an seinem eigenen Gehalt, sehr gut bezahlt und war äußerst gefragt." Doch da hören wir auch schon jenen Basso continuo des ehelichen Missmutes heraus, der Herrn Silvester zu dem Kurzentschluss getrieben hat, sich ohne jede Ankündigung nach Japan abzusetzen. Solle Mathilda doch sehen, wie sie mit ihrer Beliebtheit allein zurechtkommt: "Nach allem, was passiert war, lag es klar bei ihr, den ersten Schritt zu tun", sagt sich der in neuntausend Kilometer Entfernung Entschwundene. So die Ausgangslage im vor sechs Jahren erschienenen Roman "Die Kieferninseln" von Marion Poschmann. Mathilda selbst sprach darin kein Wort, und den ersten Schritt wollte am Schluss dann doch Gilbert Silvester selbst tun: "Er würde sie anrufen, sagte er sich. Mathilda, Liebste, würde er sagen. Wir treffen uns in Tokyo, nahm er sich vor zu sagen, es ist alles ganz einfach, komm zu mir nach Japan. Die Laubfärbung beginnt."

Nun lernen wir Mathilda richtig kennen: in Poschmanns neuem Roman, "Chor der Erinnyen". Dessen Titel könnte eine Rachephantasie der verlassenen Gattin vermuten lassen, zumal sich in diesem Buch fast ausnahmslos Frauen tummeln. Doch weit gefehlt. Zwar ist Mathilda ratlos über das plötzliche Verschwinden von Gilbert (der namentlich nie erwähnt wird; man muss schon das Vorgängerbuch kennen, um zu wissen, warum und wohin er sich abgesetzt hat), doch ziemlich am Schluss von "Chor der Erinnyen" findet sich eine Passage zur durch die Herbstwinde stapfenden Mathilda - die Erzählhaltung ist dieselbe auktorial-subjektive wie in "Die Kieferninseln" - bei einer Vision: "Sie sah ihren abwesenden Mann, wie sie mit ihm Hand in Hand den herzroten Wald durchwanderte, ein tiefes, schwingendes Rot wie auf einem abstrakten Gemälde, ein Vorhang aus Blattelementen, hinter dem ein zweiter kam und ein nächster und immer so weiter [. . .] Ihr wiedererinnerter, wiedergefundener Gatte, verloren und wiedergefunden, wie sie ihn an der Hand nahm und durch diesen tiefroten Wald führte, durch diese seltsam bekannte Landschaft." Und wer den Vorgängerroman kennt, der weiß, dass hier nicht vom deutschen, sondern vom japanischen Wald die Rede ist und also alles bereitet ist für eine Aussöhnung. Wobei der Anruf, der Mathilda dann beim Spaziergang erreicht, (noch) nicht aus Japan kommt, sondern von ihrer Mutter.

Die ist eine von drei Frauen rund um Mathilda, die in der knapp einwöchigen Frist, von der dieser Roman erzählt, zu Korrektiven werden: Gegenmodellen, aber auch Vorbildern für die Verlassene. Die Mutter, ehedem depressionskrank, hat, von der Tochter bislang unbemerkt, zu neuem Selbstbewusstsein gefunden. Und die Freundinnen Olivia und Birte - Erstere die engste Vertraute und Expertin für Sepulkralkultur, Zweitere nach der Schulzeit für Jahrzehnte verschüttgegangen und nunmehr Caféhausbetreiberin in Nordfriesland - stehen Mathilda unfreiwillig (und in Birtes Fall auch durchaus unerwünscht) ebenfalls bei im Bemühen, sich selbst und damit uns Auskunft zu geben über ein durch den Abgang des Mannes in Zweifel gezogenes Leben, in dem bisher alles mathematisch klar und musikalisch harmonisch erschien. Poschmanns neuer Roman ist eine große Allegorie aufs Frauendasein in unserer Gesellschaft, doch dabei federleicht geschrieben. Und wie eine Feder lässt sie das Ganze auch immer wieder aufwirbeln durch Naturphänomene, deren Mathilda nunmehr immer neu gewahr wird: Sturm vor allem, aber auch Feuer und Vögel.

Marion Poschmann ist Lyrikerin, und das zeigt sich nicht nur darin, dass es insgesamt neun "Chöre" (wie sie selbst diese Gedichte nennt) im neuen Roman gibt, sondern auch an der Sorgfalt, mit der motivische Konstanten ins Textgewebe eingearbeitet sind: neben den genannten auch noch Harpyien, Füße, Herzen - und nicht zuletzt Kreide als Sinnbild der Lehrertätigkeit, aber auch um gängige Assoziationen wie "Kreide fressen" oder Kreidekreischen auf der Tafel zu wecken. Sprachlich ist "Chor der Erinnyen" ein Fest, eine leider nur knapp zweihundert Seiten währende Erholung von all der banal alltagssprachlichen Prosa, die weite Teile der deutschen Gegenwartsliteratur ausmacht: "Sie sah sich selbst mit Engelsgeduld wieder und wieder um den allzu bekannten Teich schreiten, die Frage war doch, wie und warum sie das alles so lange ausgehalten hatte, ob es nicht schon länger an der Zeit gewesen wäre, der Wahrheit ins Auge zu sehen, die Frage war doch, hätte sie nicht selbst längst die Flucht ergreifen müssen, sich einfach vom Boden lösen und in die Luft verschwinden, aber nun war nicht einmal dieser Wendepunkt in ihrem Leben, dieser doch wohl so zu nennende Einschnitt ihre eigene Entscheidung gewesen."

Doch im Jahr der Handlung, zweimal wird das bemerkt, tragen die wüsten Winde Frauennamen, und einmal charakterisiert sich Mathilda selbst als Sturmtief. Immer mehr findet sie zu sich selbst, und immer mehr finden die anderen Frauen um sie zueinander, sodass Mathilda am Schluss allein steht, aber nicht alleinstehend ist. Denn irgendwo in einer fernen Herbstwaldröte ist der namenlose Mann, und wenn beide wieder zusammenkommen sollten, dann wird es kein Paar mehr sein wie vor der Trennung. "Chor der Erinnyen" hat nicht nur die Figur der Mathilda belebt, sondern auch die des Gilbert aus "Die Kieferninseln" verwandelt. Was für ein Kunststück, und womöglich folgt ja auf diese beiden virtuosen Seitenstücke irgendwann noch eine Mitteltafel. ANDREAS PLATTHAUS

Marion Poschmann:

"Chor der Erinnyen".

Roman.

Suhrkamp, Berlin 2023. 191 S., geb., 23,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.10.2023

Windsbraut
Marion Poschmann erzählt von einer Frau, die alle Grenzen der Wahrnehmung
durchbricht. So etwas ist ihr auch selbst widerfahren: durch japanische Gedichte
VON MARIE SCHMIDT
Die Sorte Ehestreit soll es geben, die einer der Partner nur mit sich ausmacht. In einer Art innerem Dialog, der rasch eskaliert. Wenn davon dann etwas zum Anderen vordringt, ist der (oder die) wie vor den Kopf gestoßen. Von so etwas hat die Schriftstellerin Marion Poschmann in ihrem Roman „Die Kieferninseln“ erzählt: „Er hatte geträumt, dass seine Frau ihn betrog. Gilbert Silvester erwachte und war außer sich.“
Diese Figur bricht in heilloser Wut auf, und fliegt eher zufällig nach Japan, wo Gilbert, hauptberuflich Privatdozent und Experte „für Bartfrisuren“, versucht, einen suizidalen jungen Mann vom Sterben abzuhalten, indem er mit ihm die schönsten Todesorte des Landes bereist. Das ultimative Ziel wird die aus der klassischen japanischen Literatur bekannte „Bucht der Kieferninseln“. Ein Ort, der geografisch und seelisch so weit wie auf Erden möglich entfernt ist von der in Ungleichgewicht geratenen Ehe mit Mathilda. Eine Metapher für Ende und Neuanfang.
Jetzt hat Marion Poschmann, für ihr Talent zur Darstellung des Geistigen in der Natur, des Uneindeutigen im Konkreten, der Wiederkehr des Mystischen in der vom technischen Fortschritt ruinierten Welt hoch gepriesene Lyrikerin und Romanschriftstellerin, eine Fortsetzung dieses Buches herausgebracht. Oder eigentlich zwei.
Die eine, der Roman „Chor der Erinnyen“ ist auch ohne „Die Kieferninsel“ gelesen zu haben, verständlich. Wenn man den Vorgänger aber kennt, liest er sich wie die Parallelgeschichte: Mathilda, Lehrerin für Mathematik und Musik, nutzt, nachdem ihr Mann „wegen irgendeiner unbegreiflichen Kleinigkeit“ das Haus verlassen hat, ihre Zeit allein, um sich mit ihrer überscharfen Sensibilität für Atmosphären sowohl unter Mitmenschen als auch in der Natur zu beschäftigen, die sich zu einer überwältigenden Wahrnehmung des Übersinnlichen steigert.
Im Zusammenleben mit Mann, Mutter, Kollegen, Schülern, Freunden spielt Mathilda die Rolle der Vernünftigen und Kontrollierten. Aber auch sie hat, wie schon ihre Mutter, Geistererscheinungen: „Meist sind es Freundinnen, die mich heimsuchen, Freundinnen, die ich manchmal jahrelang nicht gesehen habe“. Nachdem sich zum Beispiel eine gewisse Birte gezeigt hat, „fragil, sehr still, mit hängenden Armen stand sie da, seltsam durchscheinend, knochig“, sitzt dieselbe Freundin am nächsten Morgen real in Mathildas Küche. Und scheint ihr Leben besiedeln zu wollen, kommt wie selbstverständlich mit zum Besuch bei der Mutter und zum Ausflug in die Waldhütte einer weiteren alten Freundin, Olivia.
So kommen die „drei wieder zusamm’“ wie die drei Hexen, die Theodor Fontane metrisch ungelenk aus Shakespeares „Macbeth“ herbeizitiert hat, damit sie in seiner Ballade „Die Brück’ am Tay“ Feuer legen. Bei Poschmann wandern die Freundinnen durch einen unter Trockenheit, Borkenkäferbefall und Überhandnehmen von Nadelbäumen leidenden Wald, gabeln zwei Wanderer auf, deren „virile Aktionsbereitschaft“ Mathilda so missfällt wie ihre „synthetische Sportkleidung“ und bald schwelt ein Waldbrand in der Umgebung.
In Abwesenheit ihres Mannes zeigt sich, welch disziplinierende Funktion die Ehe offenbar in Mathildas Leben erfüllt, denn ohne ihn löst sich ihre vernünftige Beherrschtheit völlig auf in nervöser Durchlässigkeit: Ihr Bewusstsein, ihr Selbst verschmilzt mit „Nebel und Wind“, mit Gerüchen und Stimmungen, mit „Schatten und Formlosigkeit“, die in ihrer geschmackvollen Wohnungseinrichtung lauern, mit den uralten Stimmen der Rachegöttinen, der Erinnyen, die im Gejaule unmotivierter Musikschülerinnen zu hören sind. Ein vergleichbar „ozeanisches Gefühl“ hat Sigmund Freud skeptisch beobachtet als „ein Gefühl der unauflösbaren Verbundenheit, der Zusammengehörigkeit mit der Außenwelt“, das vom Individuum gesehen etwas Regressives habe. Im Sinne einer Empathie für ökologische Gesamtzusammenhänge wirkt es in Marion Poschmanns Roman aber eher progressiv.
Nur wie soll man es verstehen, dass ausgerechnet ein bourgeoises, kinderloses Ehepaar in der Midlife-Crisis durch Marion Poschmanns Romane als geeignetes Medium vorgestellt wird, um den Kontakt zum Tod im Leben, den übersinnlichen Mächten, einer weltumspannenden Perspektive herzustellen? Und zwar nicht durch spirituelle Strategien, Yoga, Meditation, Drogenexperimente, sondern in einer unwillkürlichen Naivität, die Poschmann offensichtlich gerade der Bildungsbürgerlichkeit ihrer Figuren zuschreibt.
Aus dem Text selbst überträgt sich auf die Leserin einiges Ressentiment gegen das Milieu, in dem er spielt („Als Musiklehrer konnte man nur leben, wenn einem Musik nichts bedeutete“). Die süffisante Darstellung des Akademikers Gilbert in „Die Kieferninsel“ geht im zweiten Roman zwar in eine Art staunenden Ernst über. Darin ist nun aber noch schwerer zu erkennen, ob das Preziosenhafte der Erzählweise zur Charakterisierung der Figuren gehört, oder ob sich Poschmanns Stil darin als raffiniert gefällt. Etwa in der Liebe zu Begriffsreihen, besonders häufig Dreischritten: „In der Stimme ihrer Mutter plötzlich etwas Triumphales, Triangulierendes, leicht Tückisches.“ Wobei man als Bildungsbürger bemerken mag, dass auch die titelgebenden Rachegöttinnen der Mythologie nach zu dritt auftreten, also in der Dreiheit womöglich ein Strukturprinzip liegt.
Am Ende einiger Kapitel gleitet der „Chor der Erinnyen“ in freie Verse, in Gedichte über. Allerdings nicht in die dreizeilig streng geformten Haikus, die in „Die Kieferninseln“ eine Rolle spielen. Hier gibt vielleicht ein drittes Buch Aufschluss, das Marion Poschmann in diesem Frühjahr zusammen mit der einzigartigen, auf Deutsch wie auf Japanischen schreibenden Dichterin Yoko Tawada herausgegeben hat. Es heißt „Eine raffinierte Grenze aus Licht“ und versammelt japanische Lyrik der Gegenwart.
Wobei Tawada und Poschmann in ihren Vor- respektive Nachworten bemerken, dass die traditionellen Formen von Haiku- und Tanka-Dichtung noch heute von einigen Millionen Japanern gepflegt werden. Es gebe allerdings fast keine Überschneidungen dieser Kultur zur freieren Shi-Dichtung, die der Band präsentiert. Es handele sich um eine „Parallelwelt“. Die entsprechend voneinander abgeschnittenen geistigen Welten der Eheleute Mathilda und Gilbert sind also durch exklusive lyrische Formen markiert.
Poschmann und Tawada berichten eindrucksvoll von den Bedenken japanischer Kolleginnen und Kollegen, was die Übersetzbarkeit ihrer Gedichte anging. Sie seien angebracht, weil die Zeichen- und Sprachlogik so völlig anders sei, als die des Deutschen: „die ins Extreme getriebene Sensibilität sowohl von Produzent als auch Rezipient in Kombination mit einem außerordentlichen Perfektionismus sei Ausländern nicht vermittelbar“.
Man hat die Nachbildung der Gedichte dann doch gewagt, indem man Tandems bildete aus sprachkundigen Experten und deutschsprachigen Dichterinnen und Übersetzern, unter anderen Ilma Rakusa, Michael Krüger, Lutz Seiler, Monika Rinck, sowie Poschmann und Tawada selbst. Dabei stellt Poschmann fest, dass die japanische Grammatik lyrisches Sprechen erlaubt, bei dem offen bleibt, „ob es sich um ein lyrisches Ich, ein Du, Wir oder eine gänzlich unbestimmte Größe handelt“: „das Subjekt tritt hinter das Geschehen nahezu vollständig zurück. Es verräumlicht sich im poetischen Feld, Innen und Außen durchdringen einander, das Gedicht behält eine Uneindeutigkeit, die einen Teil des Reizes ausmacht, das Schillern und Vibrieren ist gewissermaßen poetisches Prinzip.“
Womöglich liest sich der Roman „Chor der Erinnyen“ entspannter, wenn man ihn als Versuch versteht, eine solche von der japanischen Sprache ermöglichte Weltwahrnehmung aufgelöster Subjektivität in deutsche Prosa zu bringen. Poschmann verbildlicht den Versuch, wo sie beschreibt, wie Mathilda Tagebuch schreibt: Ihre Handschrift wird zusehends undeutlich und verwandelt sich unter ihren Augen zu einem Cy-Twombly-haften „Gewölle“, schieren Schraffuren, die das Weiß der Seite tilgen, bis die Striche schließlich auf dem Papier nur noch Schatten, Strömungen hinterlassen, wie der Wind.
Sind Bildungsbürger besonders
naiv und drum
begabt fürs Metaphysische?
„Das Subjekt tritt
hinter das Geschehen
nahezu vollständig
zurück.“
„Das Naturtheater von Oklahoma“ beschreibt Franz Kafka im berühmten Textfragment, das zu seinem Roman „Der Verschollene“ gehört, eigentlich als hoffnungsvolles Szenario. Aber auf den Befehl „Kafka“ antwortet die KI immer mit Düsternis.
Foto: midjourney/Florian Gmach
Marion Poschmann:
Chor der Erinnyen.
Roman.
Suhrkamp, Berlin 2023. 189 Seiten, 24 Euro.
Marion Poschmann,
Yoko Tawada (Hg.):
Eine raffinierte
Grenze aus Licht.
Japanische Dichtung der Gegenwart. Wallstein, Göttingen 2023.
207 Seiten, 22 Euro.
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