«Was, bitte, wäre ich lieber als ich? Alles andere als ich.»
Martin Walsers viel diskutierter Roman über Beziehungen und darüber, was passiert, wenn ein Mann gleich zwei Frauen liebt.
Justus Mall, der früher einmal anders hieß, war Oberregierungsrat, zuständig für Migration, bis er etwas Unbedachtes machte. Seitdem ist er Philosoph, zuständig für alles und nichts. Doch das ist nicht das einzige Dilemma seines Lebens: Er liebt gleich zwei Frauen. Und weil das nicht gehen kann, beginnt er, einen Blog zu schreiben - auf der Suche nach einem Menschen, der genau das ist, was ihm fehlt.
Ein völlig geklärt geschriebener Roman über lauter Ungeklärtes, ein ungeheuerliches, überwältigendes Buch.
Martin Walsers viel diskutierter Roman über Beziehungen und darüber, was passiert, wenn ein Mann gleich zwei Frauen liebt.
Justus Mall, der früher einmal anders hieß, war Oberregierungsrat, zuständig für Migration, bis er etwas Unbedachtes machte. Seitdem ist er Philosoph, zuständig für alles und nichts. Doch das ist nicht das einzige Dilemma seines Lebens: Er liebt gleich zwei Frauen. Und weil das nicht gehen kann, beginnt er, einen Blog zu schreiben - auf der Suche nach einem Menschen, der genau das ist, was ihm fehlt.
Ein völlig geklärt geschriebener Roman über lauter Ungeklärtes, ein ungeheuerliches, überwältigendes Buch.
Sein neuer Briefroman (...) bietet in konzentrierter Form noch immer das, was große Literatur leisten soll: die stillschweigende Aufdeckung des Fehlers im System, den romanhaft camouflierten Hinweis auf den Makel und das Ungereimte. Pia Reinacher Die Weltwoche
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Burkhard Müller kann Martin Walsers neuen Roman seinen Verächtern nicht empfehlen. Wer Walser hasst, wird ihn mit diesem Buch, einem Selbstgespräch von Walser Alter Ego nicht lieben lernen, meint er, auch wenn er etwas leichter, sogar mit Humor zu Werk geht, wie Müller feststellt. Die trotzige Frömmigkeit, die Schwärmerei eines alternden Kavaliers wiederum entdeckt er. Und dass der Autor die Form des Briefromans wählt, scheint Müller auch folgerichtig. Walser wird mit jedem Buch privater, meint er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.04.2018Busen, Beine, Po, Walser
Die Wirklichkeit als hageldichte Folge weiblicher Erscheinungen: Der neue, peinliche Roman
von Martin Walser
Martin Walser ist vor gut einer Woche einundneunzig Jahre alt geworden. Jetzt ist sein neues Buch "Gar alles" erschienen, es spielt zwischen Oktober 2016 und Sommer 2017, erzählt in Form von Briefen, die ein Absender, der sich Justus Mall nennt und Oberregierungsrat im Justizministerium war, in einem Blog an eine Frau, die es da draußen vielleicht gibt, vielleicht auch nicht, in die Welt schickt. Weil er hofft, sie könnte sein Dilemma lösen, dass er zwei Frauen auf einmal liebt: Die eine, mit der er schon ewig lebt, und eine andere, die sich aber vor ihm zurückzieht.
Der Absender hat selbst Bücher veröffentlicht, eins über die Lüge, eins über den Irrtum, und deswegen einen Kritiker mit drei Initialen, DPA, der ihn begleitet und verlässlich verreißt. Eines Abends dann berührt der Absender in der Pause von "Tristan und Isolde" eine Frau mit der Spitze seines Zeigefingers am Schenkel und ist gespielt erschrocken darüber. Am nächsten Tag ist die Sache in der Welt, der Oberregierungsrat wird festgenommen, fällt in Ungnade, kurz darauf ist dieses Buch vorbei, und dankbar schlägt man es zu: Weil die Selbstgefälligkeit unerträglich ist, die einem auf jeder, wirklich jeder Seite dieses Dings begegnet, das Walser und sein Verlag "Roman" genannt haben, das aber nichts als das Zeugnis des ungeheuren Privilegs ist, ein etablierter Schriftsteller zu sein, der im späten Alter seines Ruhms, festbetoniert in seiner unerschütterlicher Weltwichtigkeit, schreibt, was und wie es ihm passt - wird schon gedruckt, gelesen, gefeiert.
Und es gibt ja genug, die ihm huldigen. Die ihm zuhören, wie er dröhnt und sich selbst salbt. Und die ihm kaum mehr widersprechen, wenn er sich, wie auch in diesem Buch, wie in fast jedem Interview, das Martin Walser gibt, schon wieder am 2013 verstorbenen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki abarbeitet, als dessen Opfer er sich offenbar noch immer fühlt: Diesmal also hat Walser einen Kritiker in seinen "Roman" hineingeschrieben, Dolf Paul Alt, der "Pol" genannt wird, dessen Funktion innerhalb der Geschichte komplett unklar bleibt, nur: "Er hat noch nie etwas, was ich geschrieben habe, gut finden können. So gilt er also im Medienbetrieb als der für mich zuständige Fachmann." Ein Literaturkritiker mit drei Initialen, der "Pol" genannt wird (Reich-Ranicki ist Überlebender des Warschauer Gettos) und dessen Karriere darauf aufbaut, die Bücher des Absenders zu kritisieren: Es ist unangenehm, es ist peinlich, wie sehr Walser das letzte Wort haben will. Er wird es nicht kriegen, vielleicht fängt er deswegen immer wieder davon an.
"Ach, ich teile jetzt besser mit, dass ich an keiner mir auffallenden Frau vorbeigehenden kann, ohne daran zu denken, dass diese Frau grell-schön ist oder erhaben-schön ist", schreibt der Absender im November 2016. "Du kriegst unwillkürlich die Leistung mit, weil die Natur das nie so schaffen würde. Diese Frau hat aus sich ein Kunstwerk gemacht. Oder eine ist irrsinnig weiblich, einfach durch Busen plus Blick. Die Wirklichkeit ist eine hageldichte Folge weiblicher Erscheinungen. Und die sind zur Verführung angelegt, Verführung zum Kauf von irgendwas, und sei es der Frau selbst." Schon erscheinen die ersten Kritiken, die "Gar alles" einen unappetitlichen #MeToo-Roman nennen, weil es hier ständig um "steile Brüste" und "trockene Scheiden" geht und der Erzähler sich von Mädchen und jungen Frauen und Schenkeln umzingelt fühlt. Und jede weibliche Haut, die ihm begegnet, nur ein weiterer Beweis dafür ist, dass nackte weibliche Haut nur für Männer, Bewunderer erschaffen wurde, auf dass sie diese nackte Haut rühmen: "Sink hernieder, Nacht der Liebe, singsangte er und tippte mit einem Zeigefinger auf die gleißende Schenkelrundung, als wolle er sagen: Du, Schenkel, bist die Nacht der Liebe."
Übergriffigkeit zur Minne umzucodieren, den Absender als von seinen Sinnen überwältigten Liebestrottel hinzustellen, der nur "spielen" will, dann aber zum "Zuschauer meines Untergangs" wird: alles schon schwach genug. Walser aber ist noch dazu besessen von der Figur des missverstandenen Naivlings. Auch der Absender in diesem Buch ist wieder so einer: Irgendwas redet aus ihm, irgendwas in ihm macht, dass er eine Frau anfasst, und schon prügeln alle auf ihn ein. Ständig ringt er mit der Sprache, und wie sie doch immerzu scheitert, das in Worte zu fassen, was ist: "Ich kann nur noch sagen, was ich sehe, und was ich sehe, versinkt, wenn ich es sagen will." Oder: "Verzweifeln ist ein Wort, bedeutungslos wie alles, was man sagen kann."
Aber die Lautstärke und Intensität, der aphoristische Gestus, dieses ganze Herausposaunen des gewichtigen Worts vom fehlbaren, unzulänglichen Wort unterminiert den Zweifel dann schon wieder. Eine "choix aus meinem Wörtergarten" schickt der Absender der Unbekannten zum Jahresende 2016, und dann kommen fünf Seiten Erkenntnisse: "Hier sitze ich besser als dort, wo ich lieber wäre" oder "Von Gedichten kann man verlangen, dass sie einem bekannt vorkommen". Klar, und nachts ist es kälter als draußen. Der Firnis des Fiktionalen, mit dem Walser sich und seine Figur zu schützen versucht, ist zu dünn, um den Autor hinter diesen aufgeblasenen Plattitüden nicht genau zu erkennen. Er tut so, als hadere er mit der Macht, die er genießt.
TOBIAS RÜTHER
Martin Walser: "Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte". Rowohlt, 112 Seiten, 18 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Wirklichkeit als hageldichte Folge weiblicher Erscheinungen: Der neue, peinliche Roman
von Martin Walser
Martin Walser ist vor gut einer Woche einundneunzig Jahre alt geworden. Jetzt ist sein neues Buch "Gar alles" erschienen, es spielt zwischen Oktober 2016 und Sommer 2017, erzählt in Form von Briefen, die ein Absender, der sich Justus Mall nennt und Oberregierungsrat im Justizministerium war, in einem Blog an eine Frau, die es da draußen vielleicht gibt, vielleicht auch nicht, in die Welt schickt. Weil er hofft, sie könnte sein Dilemma lösen, dass er zwei Frauen auf einmal liebt: Die eine, mit der er schon ewig lebt, und eine andere, die sich aber vor ihm zurückzieht.
Der Absender hat selbst Bücher veröffentlicht, eins über die Lüge, eins über den Irrtum, und deswegen einen Kritiker mit drei Initialen, DPA, der ihn begleitet und verlässlich verreißt. Eines Abends dann berührt der Absender in der Pause von "Tristan und Isolde" eine Frau mit der Spitze seines Zeigefingers am Schenkel und ist gespielt erschrocken darüber. Am nächsten Tag ist die Sache in der Welt, der Oberregierungsrat wird festgenommen, fällt in Ungnade, kurz darauf ist dieses Buch vorbei, und dankbar schlägt man es zu: Weil die Selbstgefälligkeit unerträglich ist, die einem auf jeder, wirklich jeder Seite dieses Dings begegnet, das Walser und sein Verlag "Roman" genannt haben, das aber nichts als das Zeugnis des ungeheuren Privilegs ist, ein etablierter Schriftsteller zu sein, der im späten Alter seines Ruhms, festbetoniert in seiner unerschütterlicher Weltwichtigkeit, schreibt, was und wie es ihm passt - wird schon gedruckt, gelesen, gefeiert.
Und es gibt ja genug, die ihm huldigen. Die ihm zuhören, wie er dröhnt und sich selbst salbt. Und die ihm kaum mehr widersprechen, wenn er sich, wie auch in diesem Buch, wie in fast jedem Interview, das Martin Walser gibt, schon wieder am 2013 verstorbenen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki abarbeitet, als dessen Opfer er sich offenbar noch immer fühlt: Diesmal also hat Walser einen Kritiker in seinen "Roman" hineingeschrieben, Dolf Paul Alt, der "Pol" genannt wird, dessen Funktion innerhalb der Geschichte komplett unklar bleibt, nur: "Er hat noch nie etwas, was ich geschrieben habe, gut finden können. So gilt er also im Medienbetrieb als der für mich zuständige Fachmann." Ein Literaturkritiker mit drei Initialen, der "Pol" genannt wird (Reich-Ranicki ist Überlebender des Warschauer Gettos) und dessen Karriere darauf aufbaut, die Bücher des Absenders zu kritisieren: Es ist unangenehm, es ist peinlich, wie sehr Walser das letzte Wort haben will. Er wird es nicht kriegen, vielleicht fängt er deswegen immer wieder davon an.
"Ach, ich teile jetzt besser mit, dass ich an keiner mir auffallenden Frau vorbeigehenden kann, ohne daran zu denken, dass diese Frau grell-schön ist oder erhaben-schön ist", schreibt der Absender im November 2016. "Du kriegst unwillkürlich die Leistung mit, weil die Natur das nie so schaffen würde. Diese Frau hat aus sich ein Kunstwerk gemacht. Oder eine ist irrsinnig weiblich, einfach durch Busen plus Blick. Die Wirklichkeit ist eine hageldichte Folge weiblicher Erscheinungen. Und die sind zur Verführung angelegt, Verführung zum Kauf von irgendwas, und sei es der Frau selbst." Schon erscheinen die ersten Kritiken, die "Gar alles" einen unappetitlichen #MeToo-Roman nennen, weil es hier ständig um "steile Brüste" und "trockene Scheiden" geht und der Erzähler sich von Mädchen und jungen Frauen und Schenkeln umzingelt fühlt. Und jede weibliche Haut, die ihm begegnet, nur ein weiterer Beweis dafür ist, dass nackte weibliche Haut nur für Männer, Bewunderer erschaffen wurde, auf dass sie diese nackte Haut rühmen: "Sink hernieder, Nacht der Liebe, singsangte er und tippte mit einem Zeigefinger auf die gleißende Schenkelrundung, als wolle er sagen: Du, Schenkel, bist die Nacht der Liebe."
Übergriffigkeit zur Minne umzucodieren, den Absender als von seinen Sinnen überwältigten Liebestrottel hinzustellen, der nur "spielen" will, dann aber zum "Zuschauer meines Untergangs" wird: alles schon schwach genug. Walser aber ist noch dazu besessen von der Figur des missverstandenen Naivlings. Auch der Absender in diesem Buch ist wieder so einer: Irgendwas redet aus ihm, irgendwas in ihm macht, dass er eine Frau anfasst, und schon prügeln alle auf ihn ein. Ständig ringt er mit der Sprache, und wie sie doch immerzu scheitert, das in Worte zu fassen, was ist: "Ich kann nur noch sagen, was ich sehe, und was ich sehe, versinkt, wenn ich es sagen will." Oder: "Verzweifeln ist ein Wort, bedeutungslos wie alles, was man sagen kann."
Aber die Lautstärke und Intensität, der aphoristische Gestus, dieses ganze Herausposaunen des gewichtigen Worts vom fehlbaren, unzulänglichen Wort unterminiert den Zweifel dann schon wieder. Eine "choix aus meinem Wörtergarten" schickt der Absender der Unbekannten zum Jahresende 2016, und dann kommen fünf Seiten Erkenntnisse: "Hier sitze ich besser als dort, wo ich lieber wäre" oder "Von Gedichten kann man verlangen, dass sie einem bekannt vorkommen". Klar, und nachts ist es kälter als draußen. Der Firnis des Fiktionalen, mit dem Walser sich und seine Figur zu schützen versucht, ist zu dünn, um den Autor hinter diesen aufgeblasenen Plattitüden nicht genau zu erkennen. Er tut so, als hadere er mit der Macht, die er genießt.
TOBIAS RÜTHER
Martin Walser: "Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte". Rowohlt, 112 Seiten, 18 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.04.2018Aber ich war doch immer beiden treu!
Ist das, was da aufblitzt, womöglich sogar Humor? In seinem neuen Band „Gar alles“
schreibt Martin Walser Briefe an eine unbekannte Geliebte
VON BURKHARD MÜLLER
Je älter Martin Walser wird, desto privater wird sein Schreiben. Schon bei seinen letzten Büchern hatte der Leser oft den Eindruck, dass er gar nicht mehr gemeint war, wenn er ein immerhin veröffentlichtes Buch zur Hand nahm, sondern einem Selbstgespräch lauschte. Diesmal hat der Autor – nicht zum ersten Mal – die altertümliche Form des Briefromans gewählt, um von einem älteren Herren zu berichten, der sich, wie auch sonst schon oft, von der Person des Martin Walser schwer unterscheiden lässt, auch wenn er ein paar Jahrzehnte jünger sein dürfte.
Sein Alter Ego heißt Justus Mall, früherer Jurist in einem bayerischen Ministerium und, nach seiner Frühverrentung, ausweislich seiner Visitenkarte beruflich „Philosoph“ – wobei er anmerkt, dass Philosoph sich jeder nennen darf, der nicht genau sicher ist, welchen Wochentag wir heute haben. Seine Briefe schreibt er einer „lieben Unbekannten“, ja einer „lieben unbekannten Geliebten“. Wie aber funktioniert das, wenn man gar nicht weiß, an welche Adresse der Brief sich richtet?
Nun, dieses Ich hat sich einen Blog zugelegt, sodass seine Texte als Streuschüsse in die Welt hinausgehen – im Grunde eine etwas längere Kontaktanzeige. „Ich bin darauf angewiesen, dass es Sie gibt“, schreibt er, oder: „Es muss schon so sein, dass Sie mich erlösen, nicht ich Sie“, und unterzeichnet mit „Ihr mutlos Hoffender“, „Ihr Wartender“, „Ihr Ohnmächtiger“, ja „Ihr was Sie wollen“ und endlich „Ihr Schwächling“. Sein ersehntes Gegenüber will er gewissermaßen aus dem Nichts zu sich herbeisaugen und beginnt zu rätseln, wie die Prinzessin bei Rumpelstilzchen, welchen Namen sie wohl trüge.
Monika nicht, das fühlt er. Barbara vielleicht? „Dann sind Sie hochmütig.“ Daniela? Zu vernunftbetont. Elke oder Ellen? Sie leisten viel mit wenig Aufwand. „Dorothea kommt vor zu Herzen gehender Schwerfälligkeit durch keine Tür.“ Wie man sieht, ist der ergebene Anbeter der Frauen durchaus zu kleinen Bosheiten fähig.
Vom Oktober 2016 bis „hoch im Sommer“ 2017 schreibt dieses Ich unermüdlich, offenbar ohne auf positive Resonanz zu stoßen. Die potenziellen Adressatinnen mochten gewarnt sein von dem, was er nur allzu gern bekennt: dass er sich qualvoll aufreibe zwischen zwei Frauen, der altgedienten Gattin Gerda einerseits, andererseits der in Amerika forschenden Biologin Silke, die sich ihm als himmlische Erscheinung aufdrängte. Ihr gilt die Schwärmerei des altmodischen Kavaliers: „Aber die Augen. Himmelblau. So blau waren noch keine Augen. Und dieser Mund! Ein wohlgeschwungener, aber schwerer Vorhang für ein gleißend weißes Zähnetheater.“
Beide Frauen drängen ihn zur Entscheidung, eine Forderung, die zu erfüllen er sich außerstande sieht. „Ich bin beiden treu. Wie es mehr als eine Art Liebe gibt, gibt es auch mehr als eine Art Treue.“ Im Grunde hält er solche Treue dem ganzen weiblichen Geschlecht, besonders dessen jüngeren Vertreterinnen; sie bieten sich ihm dar wie eine einzige „Weibsattacke“, eine „Anmacharmee“, die nicht zu ahnen scheinen, was sie anrichten, wenn sie vor seinen Augen ein heruntergerutschtes Trägerchen hochziehen. „Und so gut wie immer erlebe ich dann: Die Brandstifterin hat es nicht so gemeint. Sie war schon wieder anderweitig beschäftigt.“
Man muss den Briefschreiber wörtlich zitieren, um diese eigenwillige Mischung aus Verehrung und Groll anschaulich werden zu lassen. Leute wie Justus Mall haben es zunehmend schwer in einer Stimmungslage, die von der „Me Too“-Diskussion geprägt wird. Wie sich allmählich herausschält, hat auch seine Frühverrentung mit einem Vorfall zu tun, der ihm den Ruf eines „Grapschers“ einbrachte und Weiterungen nach sich zog, während er den ganzen Aufruhr mit dem ungläubigen Erstaunen des Operettentenors betrachtet: Und ich hab sie doch nur auf die Schulter geküsst!
Wer Walser, besonders seine letzten Bücher, kennt, wird manches entdecken, das ihm vertraut erscheint. Da ist eine gewisse trotzige Frömmigkeit, die sich im Alter neu hervorwagt. Da ist der publizistische Gegenspieler – Dolf Paul Alt heißt er diesmal, abgekürzt DPA –, der mit hämischem Vorsatz alles so übel missversteht, wie er irgend kann. Da ist die Ranküne gegen eine bestimmte Art mittelalter Damen, die meinen, dem romantischen Gentleman mangelnde Haltung und Altersgeilheit vorwerfen zu müssen. Und nicht zuletzt gibt es eine mystisch grundierte Neigung zum knappen Genre, das mit dem Zeilenbruch arbeitet. „Was soll ich denn tun/“, heißt es da beispielsweise, „wenn ich nicht tun kann,/ was ich soll.“
Dass Silke, die eine der beiden Frauen, denen er die Treue hält, eine halbe Amerikanerin ist, bietet Gelegenheit, in ihrem Namen ein sehr hübsches und agiles Poem über „squirrels“ einzuflechten. Auch den Aphorismus handhabt der selbsternannte Philosoph in einer Weise, dass er viel von seinem mürrischen Gewicht verliert. „Mein Koffer sagt, wo immer er steht: Du gehörst nicht hierher.“ Das ist traurig und licht zugleich. „Gestehe nichts. Leugne. Leugne nicht nur, behaupte das Gegenteil. Lüge!“ Dem lässt sich ein gewisser frecher Charme nicht absprechen. „Denken wie die Schwäne schwimmen. Über dem eigenen Bild und von selbst.“ Ja, das wäre ein schönes Ideal! Und nur ein bisschen eitel. „Vom Rechthabenmüssen zermürbt.“
Doch das hat Justus Mall und hat wohl auch Walser hinter sich. Sie müssen nicht mehr recht haben. An Debatten nehmen sie nicht mehr teil, sie begnügen sich, zu sein, was sie eben sind, ohne sich um den Anstoß zu bekümmern, den sie erregen könnten. Wer Walser nicht liebt (und das sind etliche), wird ihn hier nicht lieben lernen. Aber seine Eigenart nimmt hier eine leichtere und schlankere Gestalt an, als man sie früher von ihm kannte. (Ein gewisser Erdenrest von Ressentiment bleibt freilich immer.) Ja, in der absurden Grundkonstruktion des Ganzen blitzt sogar etwas wie Humor auf.
Martin Walser: Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte. Rowohlt-Verlag, Reinbek 2018. 107 Seiten, 18 Euro.
Sein ersehntes Gegenüber will
er gewissermaßen aus
dem Nichts zu sich herbeisaugen
An Debatten muss er sich nicht mehr beteiligen: Martin Walser in Überlingen.
Foto: Patrick Seeger / dpa
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Ist das, was da aufblitzt, womöglich sogar Humor? In seinem neuen Band „Gar alles“
schreibt Martin Walser Briefe an eine unbekannte Geliebte
VON BURKHARD MÜLLER
Je älter Martin Walser wird, desto privater wird sein Schreiben. Schon bei seinen letzten Büchern hatte der Leser oft den Eindruck, dass er gar nicht mehr gemeint war, wenn er ein immerhin veröffentlichtes Buch zur Hand nahm, sondern einem Selbstgespräch lauschte. Diesmal hat der Autor – nicht zum ersten Mal – die altertümliche Form des Briefromans gewählt, um von einem älteren Herren zu berichten, der sich, wie auch sonst schon oft, von der Person des Martin Walser schwer unterscheiden lässt, auch wenn er ein paar Jahrzehnte jünger sein dürfte.
Sein Alter Ego heißt Justus Mall, früherer Jurist in einem bayerischen Ministerium und, nach seiner Frühverrentung, ausweislich seiner Visitenkarte beruflich „Philosoph“ – wobei er anmerkt, dass Philosoph sich jeder nennen darf, der nicht genau sicher ist, welchen Wochentag wir heute haben. Seine Briefe schreibt er einer „lieben Unbekannten“, ja einer „lieben unbekannten Geliebten“. Wie aber funktioniert das, wenn man gar nicht weiß, an welche Adresse der Brief sich richtet?
Nun, dieses Ich hat sich einen Blog zugelegt, sodass seine Texte als Streuschüsse in die Welt hinausgehen – im Grunde eine etwas längere Kontaktanzeige. „Ich bin darauf angewiesen, dass es Sie gibt“, schreibt er, oder: „Es muss schon so sein, dass Sie mich erlösen, nicht ich Sie“, und unterzeichnet mit „Ihr mutlos Hoffender“, „Ihr Wartender“, „Ihr Ohnmächtiger“, ja „Ihr was Sie wollen“ und endlich „Ihr Schwächling“. Sein ersehntes Gegenüber will er gewissermaßen aus dem Nichts zu sich herbeisaugen und beginnt zu rätseln, wie die Prinzessin bei Rumpelstilzchen, welchen Namen sie wohl trüge.
Monika nicht, das fühlt er. Barbara vielleicht? „Dann sind Sie hochmütig.“ Daniela? Zu vernunftbetont. Elke oder Ellen? Sie leisten viel mit wenig Aufwand. „Dorothea kommt vor zu Herzen gehender Schwerfälligkeit durch keine Tür.“ Wie man sieht, ist der ergebene Anbeter der Frauen durchaus zu kleinen Bosheiten fähig.
Vom Oktober 2016 bis „hoch im Sommer“ 2017 schreibt dieses Ich unermüdlich, offenbar ohne auf positive Resonanz zu stoßen. Die potenziellen Adressatinnen mochten gewarnt sein von dem, was er nur allzu gern bekennt: dass er sich qualvoll aufreibe zwischen zwei Frauen, der altgedienten Gattin Gerda einerseits, andererseits der in Amerika forschenden Biologin Silke, die sich ihm als himmlische Erscheinung aufdrängte. Ihr gilt die Schwärmerei des altmodischen Kavaliers: „Aber die Augen. Himmelblau. So blau waren noch keine Augen. Und dieser Mund! Ein wohlgeschwungener, aber schwerer Vorhang für ein gleißend weißes Zähnetheater.“
Beide Frauen drängen ihn zur Entscheidung, eine Forderung, die zu erfüllen er sich außerstande sieht. „Ich bin beiden treu. Wie es mehr als eine Art Liebe gibt, gibt es auch mehr als eine Art Treue.“ Im Grunde hält er solche Treue dem ganzen weiblichen Geschlecht, besonders dessen jüngeren Vertreterinnen; sie bieten sich ihm dar wie eine einzige „Weibsattacke“, eine „Anmacharmee“, die nicht zu ahnen scheinen, was sie anrichten, wenn sie vor seinen Augen ein heruntergerutschtes Trägerchen hochziehen. „Und so gut wie immer erlebe ich dann: Die Brandstifterin hat es nicht so gemeint. Sie war schon wieder anderweitig beschäftigt.“
Man muss den Briefschreiber wörtlich zitieren, um diese eigenwillige Mischung aus Verehrung und Groll anschaulich werden zu lassen. Leute wie Justus Mall haben es zunehmend schwer in einer Stimmungslage, die von der „Me Too“-Diskussion geprägt wird. Wie sich allmählich herausschält, hat auch seine Frühverrentung mit einem Vorfall zu tun, der ihm den Ruf eines „Grapschers“ einbrachte und Weiterungen nach sich zog, während er den ganzen Aufruhr mit dem ungläubigen Erstaunen des Operettentenors betrachtet: Und ich hab sie doch nur auf die Schulter geküsst!
Wer Walser, besonders seine letzten Bücher, kennt, wird manches entdecken, das ihm vertraut erscheint. Da ist eine gewisse trotzige Frömmigkeit, die sich im Alter neu hervorwagt. Da ist der publizistische Gegenspieler – Dolf Paul Alt heißt er diesmal, abgekürzt DPA –, der mit hämischem Vorsatz alles so übel missversteht, wie er irgend kann. Da ist die Ranküne gegen eine bestimmte Art mittelalter Damen, die meinen, dem romantischen Gentleman mangelnde Haltung und Altersgeilheit vorwerfen zu müssen. Und nicht zuletzt gibt es eine mystisch grundierte Neigung zum knappen Genre, das mit dem Zeilenbruch arbeitet. „Was soll ich denn tun/“, heißt es da beispielsweise, „wenn ich nicht tun kann,/ was ich soll.“
Dass Silke, die eine der beiden Frauen, denen er die Treue hält, eine halbe Amerikanerin ist, bietet Gelegenheit, in ihrem Namen ein sehr hübsches und agiles Poem über „squirrels“ einzuflechten. Auch den Aphorismus handhabt der selbsternannte Philosoph in einer Weise, dass er viel von seinem mürrischen Gewicht verliert. „Mein Koffer sagt, wo immer er steht: Du gehörst nicht hierher.“ Das ist traurig und licht zugleich. „Gestehe nichts. Leugne. Leugne nicht nur, behaupte das Gegenteil. Lüge!“ Dem lässt sich ein gewisser frecher Charme nicht absprechen. „Denken wie die Schwäne schwimmen. Über dem eigenen Bild und von selbst.“ Ja, das wäre ein schönes Ideal! Und nur ein bisschen eitel. „Vom Rechthabenmüssen zermürbt.“
Doch das hat Justus Mall und hat wohl auch Walser hinter sich. Sie müssen nicht mehr recht haben. An Debatten nehmen sie nicht mehr teil, sie begnügen sich, zu sein, was sie eben sind, ohne sich um den Anstoß zu bekümmern, den sie erregen könnten. Wer Walser nicht liebt (und das sind etliche), wird ihn hier nicht lieben lernen. Aber seine Eigenart nimmt hier eine leichtere und schlankere Gestalt an, als man sie früher von ihm kannte. (Ein gewisser Erdenrest von Ressentiment bleibt freilich immer.) Ja, in der absurden Grundkonstruktion des Ganzen blitzt sogar etwas wie Humor auf.
Martin Walser: Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte. Rowohlt-Verlag, Reinbek 2018. 107 Seiten, 18 Euro.
Sein ersehntes Gegenüber will
er gewissermaßen aus
dem Nichts zu sich herbeisaugen
An Debatten muss er sich nicht mehr beteiligen: Martin Walser in Überlingen.
Foto: Patrick Seeger / dpa
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