Die Welt hat sich in den letzten Jahrzehnten rasend schnell verändert: Die Weltbevölkerung und die Lebenserwartung steigen; traditionelle Großkollektive wie Nationen, Konfessionen und Parteien verlieren an Bindekraft; Wissen, das früher in Bibliotheken gespeichert war und mühsam erworben werden musste, steht uns heute überall zur Verfügung. Der Wandel hat längst ein solches Ausmaß erreicht, dass wir laut Michel Serres mit Fug und Recht davon sprechen können, dass die Angehörigen der jungen Generationen einer anderen Spezies angehören: jener der »kleinen Däumlinge«, die mit flinken Fingern ihre Smartphones steuern, sich vernetzen und kommunizieren. Den »kleinen Däumlingen« widmet der große Philosoph Michel Serres diese Liebeserklärung. Fern von jeder technikfeindlichen Kulturkritik fordert er sie auf, ihre Chance zu nutzen und alles neu zu erfinden: die Gesellschaft, das Bildungssystem - und sich selbst.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Theresia Enzensberger fühlt sich von Michel Serres Hymne auf das Internet und die Generation der Däumelinchen, der Touchscreen-User, ein wenig an die Cyber-Utopien der Neunzigerjahre erinnert. "Erfindet euch neu!" war im Original vor dem NSA- und Prism-Skandal erschienen, gesteht die Rezensentin Serres zu, aber sie kommt nicht umhin, seinen unbedingten Glauben an die demokratisierende Wirkung der Neuen Medien ein wenig naiv zu finden, die "Schattenseiten des Internets" sind nicht erst seit 2012 bekannt, weiß Enzensberger. Serres scheint zu vergessen, dass die allermeisten Däumelinchen sich nur an der Oberfläche bewegen und der Code, der sich dahinter versteckt, oft genug von den Spezialisten großer Firmen gestaltet wird, meint die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2013Am Ende der Abstraktionen
Michel Serres macht es sich nicht leicht, das Herz seiner jungen Leser zu gewinnen. "Mit der größten Zuneigung, die ein Großvater zum Ausdruck bringen kann", bezeichnet der dreiundachtzig Jahre alte französische Philosoph jene Leute, die mit ihren beiden Daumen in Höchstgeschwindigkeit auf ihren Smartphones tippen, als kleiner Däumling und Däumelinchen. "Petite Poucette" hatte er sogar seinen Vortrag überschrieben, den er vor zweieinhalb Jahren am Institut de France gehalten und, zum Essay ausgearbeitet, inzwischen als Buch veröffentlicht hat. Sein deutscher Verlag verkauft das Büchlein mit der pathetischen Überschrift "Erfindet euch neu!" als "Liebeserklärung an die vernetzte Generation" (Edition Suhrkamp, Berlin 2013. 69 S., br., 8,- [Euro]).
Und doch wendet sich Serres mit keinem Wort an diese Jüngeren direkt, er beschreibt sie in ihrem eigenen Geschichts-, Orts- und Körperbewusstsein, ihrer Sprache, Kommunikationshaltung und Arbeitsauffassung, die sich von den früheren fundamental unterscheidet. Um sich dann mit Verve auf ihre Seite zu schlagen: Heute, stellt Serres fest, gehorche "das Objektive, das Kollektive, das Technologische, das Organisatorische" weit eher ihren Verfahren, die der Philosoph "das algorithmische oder prozedurale Kognitive" nennt, als "den deklarativen Abstraktionen, wie sie mehr als zwei Jahrtausende von einer aus den Natur- und Geisteswissenschaften sich speisenden Philosophie gefeiert wurden".
Dass sich das alte Gegenüber von Sprechendem und Zuhörern auflöst, dass nicht nur die Schüler nicht mehr stillsitzen, sondern keine einzige Versammlung Erwachsener ohne Getuschel und Geschwätz auskommt, stört Serres kaum. Er sieht uns an der Schwelle eines zweiten oralen Zeitalters, in dem sich reale und virtuelle Stimmen mit den virtuellen Schrifterzeugnissen mischen. Zwei Neuerungen hebt er hervor: Einerseits sei die einseitiger Rede zugrundeliegende Inkompetenzunterstellung der Zuhörer unhaltbar geworden. Andererseits sehe sich jeder in der Lage, die anderen, und seien es die Oberen, seien es die großen Institutionen, zu beurteilen. "Gemeinsam mit anderen ihresgleichen, denen sie Kompetenz unterstellen", schreibt Serres, "belehren uns die kleinen Däumlinge, die sich im Übrigen ihrer selbst nicht so sicher sind, mit ihrer diffusen Stimme darüber, dass jene Dinosaurier, die umso mehr Platz beanspruchen, als sie im Aussterben begriffen sind, die Emergenz neuer Kompetenzen ignorieren."
Es gibt nur eines, was diese kleine, optimistische Schrift des so unbekümmert jung wirkenden Philosophen doch alt wirken lässt: Sie wurde verfasst vor einer der größten Verunsicherungen des Netzes und seiner Benutzer, der Enthüllung der unglaublichen Überwachungsmaschine, mit der die digitalen Fingerabdrücke von Däumling und Däumelinchen gespeichert, abgeglichen, ausgewertet und vermarktet werden. Nur so kann Serres ohne jeden dunklen Schatten eine fünfte Gewalt zu den vertrauten vier treten sehen, jene der Daten.
FRIDTJOF KÜCHEMANN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Michel Serres macht es sich nicht leicht, das Herz seiner jungen Leser zu gewinnen. "Mit der größten Zuneigung, die ein Großvater zum Ausdruck bringen kann", bezeichnet der dreiundachtzig Jahre alte französische Philosoph jene Leute, die mit ihren beiden Daumen in Höchstgeschwindigkeit auf ihren Smartphones tippen, als kleiner Däumling und Däumelinchen. "Petite Poucette" hatte er sogar seinen Vortrag überschrieben, den er vor zweieinhalb Jahren am Institut de France gehalten und, zum Essay ausgearbeitet, inzwischen als Buch veröffentlicht hat. Sein deutscher Verlag verkauft das Büchlein mit der pathetischen Überschrift "Erfindet euch neu!" als "Liebeserklärung an die vernetzte Generation" (Edition Suhrkamp, Berlin 2013. 69 S., br., 8,- [Euro]).
Und doch wendet sich Serres mit keinem Wort an diese Jüngeren direkt, er beschreibt sie in ihrem eigenen Geschichts-, Orts- und Körperbewusstsein, ihrer Sprache, Kommunikationshaltung und Arbeitsauffassung, die sich von den früheren fundamental unterscheidet. Um sich dann mit Verve auf ihre Seite zu schlagen: Heute, stellt Serres fest, gehorche "das Objektive, das Kollektive, das Technologische, das Organisatorische" weit eher ihren Verfahren, die der Philosoph "das algorithmische oder prozedurale Kognitive" nennt, als "den deklarativen Abstraktionen, wie sie mehr als zwei Jahrtausende von einer aus den Natur- und Geisteswissenschaften sich speisenden Philosophie gefeiert wurden".
Dass sich das alte Gegenüber von Sprechendem und Zuhörern auflöst, dass nicht nur die Schüler nicht mehr stillsitzen, sondern keine einzige Versammlung Erwachsener ohne Getuschel und Geschwätz auskommt, stört Serres kaum. Er sieht uns an der Schwelle eines zweiten oralen Zeitalters, in dem sich reale und virtuelle Stimmen mit den virtuellen Schrifterzeugnissen mischen. Zwei Neuerungen hebt er hervor: Einerseits sei die einseitiger Rede zugrundeliegende Inkompetenzunterstellung der Zuhörer unhaltbar geworden. Andererseits sehe sich jeder in der Lage, die anderen, und seien es die Oberen, seien es die großen Institutionen, zu beurteilen. "Gemeinsam mit anderen ihresgleichen, denen sie Kompetenz unterstellen", schreibt Serres, "belehren uns die kleinen Däumlinge, die sich im Übrigen ihrer selbst nicht so sicher sind, mit ihrer diffusen Stimme darüber, dass jene Dinosaurier, die umso mehr Platz beanspruchen, als sie im Aussterben begriffen sind, die Emergenz neuer Kompetenzen ignorieren."
Es gibt nur eines, was diese kleine, optimistische Schrift des so unbekümmert jung wirkenden Philosophen doch alt wirken lässt: Sie wurde verfasst vor einer der größten Verunsicherungen des Netzes und seiner Benutzer, der Enthüllung der unglaublichen Überwachungsmaschine, mit der die digitalen Fingerabdrücke von Däumling und Däumelinchen gespeichert, abgeglichen, ausgewertet und vermarktet werden. Nur so kann Serres ohne jeden dunklen Schatten eine fünfte Gewalt zu den vertrauten vier treten sehen, jene der Daten.
FRIDTJOF KÜCHEMANN
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»Es gibt nur eines, was diese kleine, optimistische Schrift des so unbekümmert jung wirkenden Philosophen doch alt wirken lässt: Sie wurde verfasst vor einer der größten Verunsicherungen des Netzes und seiner Benutzer, der Enthüllung der unglaublichen Überwachungsmaschine ... « Fridtjof Küchemann Frankfurter Allgemeine Zeitung 20131007