Was heißt es, aus einem Land zu kommen, das es nicht mehr gibt?
Die Fotografin Billy Bana ist eine moderne Nomadin, die ihre Herkunft scheinbar hinter sich gelassen hat. Als ihr Vater stirbt, wird Billy von der Vergangenheit eingeholt, ihrem Aufwachsen als Gastarbeiterkind in Wien: Was wurde aus den Träumen ihrer Eltern? Warum kam es zum Bruch mit ihrer Familie? Und wie konnte ihr kleiner Bruder bloß spurlos verschwinden?
Ein brillant erzählter Familienroman über Freiheit und Verantwortung, Liebe und Verlust, Herkunft und Selbstbestimmung.
Die Fotografin Billy Bana ist eine moderne Nomadin, die ihre Herkunft scheinbar hinter sich gelassen hat. Als ihr Vater stirbt, wird Billy von der Vergangenheit eingeholt, ihrem Aufwachsen als Gastarbeiterkind in Wien: Was wurde aus den Träumen ihrer Eltern? Warum kam es zum Bruch mit ihrer Familie? Und wie konnte ihr kleiner Bruder bloß spurlos verschwinden?
Ein brillant erzählter Familienroman über Freiheit und Verantwortung, Liebe und Verlust, Herkunft und Selbstbestimmung.
» Zorn und Stille übertrifft das hochgelobte Debüt, Astronauten , noch weit an analytischer Überzeugungskraft und erzählerischer Farbigkeit.« Paul Jandl NZZ 20200805
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Nachdenklich und fast ein wenig hilflos erzählt Rezensent Rudolf von Bitter über dieses Buch. Die Ausgangslage der "Underdog-Eltern" und die Situation der sich auch von ihnen wieder abkehrenden Kinder ist emotional vielschichtig und verworren. Geschwister, die unterschiedliche Wege wählen, eine Heimat, die sich auflöst, nämlich Jugoslawien, machen die Dinge nicht leichter, findet er. Als "tragische Hauptfigur" im Hintergrund macht er die Mutter aus, der am Ende von der großen Anstrengung des Lebens nichts geblieben ist. Nichts wird erklärlich, so scheint es ihm, dennoch findet der etwas ratlose Kritiker, mit der künstlerischen Karriere der Tochter finge wohl doch "etwas Neues" an - aus einer der Mehrheitsgesellschaft verschlossenen Kultur.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.10.2020Die schwarze Galle des Nachkriegs
Eine Fotografin auf der Flucht vor sich selbst: Sandra Gugic ist in ihrem Roman "Zorn und Stille" der jugoslawischen Katastrophe auf der Spur
Vom possierlichen Nagetier auf dem Schutzumschlag sollte man sich nicht täuschen lassen. Sandra Gugic erzählt in "Zorn und Stille", wie die jugoslawischen Kriege eine serbische Familie in Wien zerreißen. Blut aber fließt in diesem Roman nur einmal: als ein weißer Hase überfahren wird und sein Leben in einer roten Lache aushaucht. Ansonsten meidet Gugic die starken Farben und schrillen Töne. Statt des Blutes, das in den Kriegen vergossen worden ist, fließt die schwarze Galle des Nachkriegs durch ihr Buch. Wütend und melancholisch resümiert es schmerzhafte Verluste und versucht einen letzten Abschied: den von der Überzeugung, im Besitz der einen Wahrheit zu sein.
Verluste gibt es genug. Der Vater ist gestorben, und die Tochter fliegt 2016 nach Belgrad zum Begräbnis. Diese Biljana Banadinovic ist in Wien aufgewachsen, die Eltern waren in den siebziger Jahren aus Jugoslawien nach Österreich ausgewandert. Ihnen hatte sich Biljana vor mehr als zwanzig Jahren als noch Minderjährige entzogen. Sie lebte in einem besetzten Haus und verliebte sich in eine schöne Punkerin. Aus Ira Goldfarb wurde eine umtriebige Galeristin, der Biljana eine Karriere als international bekannte Fotografin und den Künstlernamen Billy Bana verdankt. Doch hält es die Fotografin nirgendwo lange aus, nicht einmal bei der geliebten Ira, und weiß nicht recht, warum.
Auf den harschen Kontaktabbruch ihrer Tochter reagieren die hart arbeitenden und durch das fremde Land ohnehin verunsicherten Eltern voller Scham und ratlos; der jüngere Bruder Jonas verliert allen Halt. Dem Zerfall der Familie ist die Struktur des Romans nachgebildet: In "Billy, September 2016", dem ersten von vier Teilen, erzählt die Fotografin von der Kindheit, vom lebenslangen Wunsch, jeder Festlegung als Serbin, Migrantin oder Frau zu entkommen, und vom geliebten Bruder Jonas. Er erscheint überraschend in Wien bei Biljana und Ira, um dann allein zu einer Reise in die Nachfolgestaaten Jugoslawiens aufzubrechen. Im zweiten und dritten Romanteil schildert Biljana das Leben ihrer Eltern Azra und Sima. Der vierte Teil ist dem auf der Reise spurlos verschwundenen Bruder gewidmet. Jonas' Ende bleibt ein Rätsel, doch seine Aufzeichnungen entlasten Biljana von Schuldgefühlen. "Du hast gesagt, wir leben alle in unserer eigenen Version der Wahrheit", schreibt der Bruder und folgert, auch die Schwester habe nicht immer recht. Biljanas Position wird relativiert, und sie sieht plötzlich ein weißes Blatt Papier vor sich.
"Zorn und Stille" ist ein Roman über Abnabelung, Ankommen und Vergessen, ein Bildungsroman und ein Migrationsroman. Sandra Gugic teilt mit ihrer Protagonistin das Lebensalter und die Übersiedlung der Eltern aus Serbien nach Wien in den Siebzigern. Allerdings nimmt das vorsichtig versöhnliche Ende, so erfreulich es in lebensweltlicher Hinsicht ist, dem Roman seinen schwarzgalligen Säurekern. Die ersten hundert Seiten geben einen faszinierenden Einblick in das beschädigte Leben einer Fotografin auf der Flucht vor sich selbst. Die folgenden Teile, in denen Biljana versucht, Mutter, Vater und Bruder zu verstehen, warten mit starken Passagen auf, doch die Intensität lässt nach. Auch die Wahrscheinlichkeit: Wie viel kann eine Tochter, die früh im Streit von den Eltern schied und sie danach nur noch ein-, zweimal traf, von ihnen wissen?
Die jugoslawischen Kriege sind das leere Zentrum des Romans. Auch in Wien erzeugt die Propaganda Fronten. Biljana, "noch ein halbes Kind", wird am Telefon von Fremden gefragt: "Seid ihr Serben oder Kroaten?" Doch das Gift der Propaganda bleibt im Buch ohne Biss. Dass die Eltern plötzlich als Serben empfinden, während die in Österreich aufgewachsene Tochter kollektive Identität zurückweist, wird nur angedeutet. Auch die Stellen, an denen Biljana das Leben der Eltern schildert, erhellen die Konflikte nicht.
Die Auffassung einer bloß individuellen, von der jeweiligen Perspektive abhängigen Wahrheit ist intellektuell wenig überzeugend, wohl aber als innerfamiliäres Friedensangebot verständlich. Wie schwer der radikale Konstruktivismus gleichwohl errungen ist, zeigt nicht nur ein Blick auf den Balkan - auch der Vergleich mit einem Roman, der ebenfalls in Wien entstanden ist, dessen Protagonist ebenfalls zum Begräbnis des Vaters nach Belgrad reist und dessen Verfasser ebenfalls ein Kind nach Österreich ausgewanderter Serben ist: Marko Dinic hat mit "Die guten Tage" eine wütende Suada über dumpf-nationalistische Serben im "Gastarbeiter-Express" verfasst, an der Thomas Bernhard seine Freude gehabt hätte. Dinic scheidet tapfer das Eigene vom Fremden, bezahlt für die rhetorische Kraftübung freilich mit einem surrealen, ins Nichts führenden Ende. Sandra Gugic hat es sich nicht so leichtgemacht. Ihr Buch ist stiller, jedoch nicht ohne Zorn. Und der Fotografin gibt sie ein beeindruckend düsteres Leuchten.
JÖRG PLATH
Sandra Gugic: "Zorn und Stille". Roman.
Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg 2020. 240 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Fotografin auf der Flucht vor sich selbst: Sandra Gugic ist in ihrem Roman "Zorn und Stille" der jugoslawischen Katastrophe auf der Spur
Vom possierlichen Nagetier auf dem Schutzumschlag sollte man sich nicht täuschen lassen. Sandra Gugic erzählt in "Zorn und Stille", wie die jugoslawischen Kriege eine serbische Familie in Wien zerreißen. Blut aber fließt in diesem Roman nur einmal: als ein weißer Hase überfahren wird und sein Leben in einer roten Lache aushaucht. Ansonsten meidet Gugic die starken Farben und schrillen Töne. Statt des Blutes, das in den Kriegen vergossen worden ist, fließt die schwarze Galle des Nachkriegs durch ihr Buch. Wütend und melancholisch resümiert es schmerzhafte Verluste und versucht einen letzten Abschied: den von der Überzeugung, im Besitz der einen Wahrheit zu sein.
Verluste gibt es genug. Der Vater ist gestorben, und die Tochter fliegt 2016 nach Belgrad zum Begräbnis. Diese Biljana Banadinovic ist in Wien aufgewachsen, die Eltern waren in den siebziger Jahren aus Jugoslawien nach Österreich ausgewandert. Ihnen hatte sich Biljana vor mehr als zwanzig Jahren als noch Minderjährige entzogen. Sie lebte in einem besetzten Haus und verliebte sich in eine schöne Punkerin. Aus Ira Goldfarb wurde eine umtriebige Galeristin, der Biljana eine Karriere als international bekannte Fotografin und den Künstlernamen Billy Bana verdankt. Doch hält es die Fotografin nirgendwo lange aus, nicht einmal bei der geliebten Ira, und weiß nicht recht, warum.
Auf den harschen Kontaktabbruch ihrer Tochter reagieren die hart arbeitenden und durch das fremde Land ohnehin verunsicherten Eltern voller Scham und ratlos; der jüngere Bruder Jonas verliert allen Halt. Dem Zerfall der Familie ist die Struktur des Romans nachgebildet: In "Billy, September 2016", dem ersten von vier Teilen, erzählt die Fotografin von der Kindheit, vom lebenslangen Wunsch, jeder Festlegung als Serbin, Migrantin oder Frau zu entkommen, und vom geliebten Bruder Jonas. Er erscheint überraschend in Wien bei Biljana und Ira, um dann allein zu einer Reise in die Nachfolgestaaten Jugoslawiens aufzubrechen. Im zweiten und dritten Romanteil schildert Biljana das Leben ihrer Eltern Azra und Sima. Der vierte Teil ist dem auf der Reise spurlos verschwundenen Bruder gewidmet. Jonas' Ende bleibt ein Rätsel, doch seine Aufzeichnungen entlasten Biljana von Schuldgefühlen. "Du hast gesagt, wir leben alle in unserer eigenen Version der Wahrheit", schreibt der Bruder und folgert, auch die Schwester habe nicht immer recht. Biljanas Position wird relativiert, und sie sieht plötzlich ein weißes Blatt Papier vor sich.
"Zorn und Stille" ist ein Roman über Abnabelung, Ankommen und Vergessen, ein Bildungsroman und ein Migrationsroman. Sandra Gugic teilt mit ihrer Protagonistin das Lebensalter und die Übersiedlung der Eltern aus Serbien nach Wien in den Siebzigern. Allerdings nimmt das vorsichtig versöhnliche Ende, so erfreulich es in lebensweltlicher Hinsicht ist, dem Roman seinen schwarzgalligen Säurekern. Die ersten hundert Seiten geben einen faszinierenden Einblick in das beschädigte Leben einer Fotografin auf der Flucht vor sich selbst. Die folgenden Teile, in denen Biljana versucht, Mutter, Vater und Bruder zu verstehen, warten mit starken Passagen auf, doch die Intensität lässt nach. Auch die Wahrscheinlichkeit: Wie viel kann eine Tochter, die früh im Streit von den Eltern schied und sie danach nur noch ein-, zweimal traf, von ihnen wissen?
Die jugoslawischen Kriege sind das leere Zentrum des Romans. Auch in Wien erzeugt die Propaganda Fronten. Biljana, "noch ein halbes Kind", wird am Telefon von Fremden gefragt: "Seid ihr Serben oder Kroaten?" Doch das Gift der Propaganda bleibt im Buch ohne Biss. Dass die Eltern plötzlich als Serben empfinden, während die in Österreich aufgewachsene Tochter kollektive Identität zurückweist, wird nur angedeutet. Auch die Stellen, an denen Biljana das Leben der Eltern schildert, erhellen die Konflikte nicht.
Die Auffassung einer bloß individuellen, von der jeweiligen Perspektive abhängigen Wahrheit ist intellektuell wenig überzeugend, wohl aber als innerfamiliäres Friedensangebot verständlich. Wie schwer der radikale Konstruktivismus gleichwohl errungen ist, zeigt nicht nur ein Blick auf den Balkan - auch der Vergleich mit einem Roman, der ebenfalls in Wien entstanden ist, dessen Protagonist ebenfalls zum Begräbnis des Vaters nach Belgrad reist und dessen Verfasser ebenfalls ein Kind nach Österreich ausgewanderter Serben ist: Marko Dinic hat mit "Die guten Tage" eine wütende Suada über dumpf-nationalistische Serben im "Gastarbeiter-Express" verfasst, an der Thomas Bernhard seine Freude gehabt hätte. Dinic scheidet tapfer das Eigene vom Fremden, bezahlt für die rhetorische Kraftübung freilich mit einem surrealen, ins Nichts führenden Ende. Sandra Gugic hat es sich nicht so leichtgemacht. Ihr Buch ist stiller, jedoch nicht ohne Zorn. Und der Fotografin gibt sie ein beeindruckend düsteres Leuchten.
JÖRG PLATH
Sandra Gugic: "Zorn und Stille". Roman.
Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg 2020. 240 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.12.2020Den Eltern voraus
Sandra Gugićs Roman „Zorn und Stille“ über die eigenen Wurzeln
Eine Kleinfamilie serbischer Immigranten in Wien. Die Eltern, Sima und Azra, sind vor fünfzig Jahren als Gastarbeiter gekommen, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen, fernab der traditionellen Dorfhierarchie, in der ein Familienoberhaupt herrscht, der jeweilige Vater, roh, ungebildet und bei Bedarf brutal. Der eine lässt sich Wildbret servieren, während seine Frau nur Grünzeug abkriegt, der andere ist etwas weicher, aber trotzdem in archaischen Traditionen verhaftet.
Azra ist ausgewichen in eine WG nach Belgrad, aber eine ungewollte Schwangerschaft zwingt sie aus Geldmangel zurück ins Elternhaus, wo ihr gelegentlich geholfen wird, wenn auch mit Kommentaren wie: „Gewöhn dich nicht daran. Das Leben ist dir nichts schuldig.“ Ein Jahr lang, ab dem Beginn der Schwangerschaft, hat sich Sima von ihr ferngehalten. Azra hätte sich traditionell anderweitig verheiraten lassen können, aber dazu ist sie zu stolz.
Das Kind, das hier auf die Welt kommen soll, ist Biljana, die Ich-Erzählerin des Romans „Zorn und Stille“ von Sandra Gugić. In ihrem schmalen Buch „Astronauten“ hat Sandra Gugić bereits vom Leben von Jugendlichen geschrieben, deren Eltern die Brücken hinter sich abgebrochen haben. Ihnen fehlt in der Umgebung, in die sie hineingeboren sind, der Boden so sehr wie die Verbundenheit zur Heimat ihrer Eltern. Zu diesem familiären Bruch kommt im Fall ehemaliger Jugoslawen die Umdeklaration der Herkunftsländer und die Feindseligkeit einstiger Landsleute.
Gugić erzählt vor diesem Hintergrund von verschiedenen Lebensentscheidungen: Einer würde sich gerne für die Naturwissenschaften und eine bürgerliche Karriere entscheiden, eine andere versucht, das Fremde an sich in eine künstlerische Laufbahn mitzunehmen, der Dritte verschafft sich durch befremdliche Gewaltakte Aufmerksamkeit. Unter ähnlich unsicheren Bedingungen wachsen im jüngsten Roman von Sandra Gugić auch Biljana und ihr Bruder Jonas Neven auf, und womöglich teilen sie die Lebensumstände kommender Desperados, wie jüngst des Attentäters in Wien. Die Familie bekommt anonyme Anrufe: „Seid ihr Serben oder Kroaten?“, und die Spötteleien an Simas Arbeitsplatz lassen ahnen, wie der Bürgerkrieg ins neue Leben hineinreicht. Später nimmt Azra immerhin noch Notiz davon, wenn wieder einer der serbischen Kommandeure geschnappt worden ist, die im westlichen Europa als Täter gelten, aber nicht bei ihr. Azra und Sima haben geschuftet und gespart für ihre Familie, die zwei Kinder und ihr Haus: „Sie hatten sich jeden dieser Räume erarbeitet. Die Freiheit, Türen zu haben, die man hinter sich schließen konnte.“
Auch in der Welt ihrer Arbeitgeber ist so ein Eigenheim zwar ein Statussymbol, aber sie bleiben Neuankömmlinge, die die einheimischen Standards von Stil, Sprache und Schulbildung nicht aufweisen können. Die Kinder kennen die Codes, bemerken die Üblichkeiten, und können abschätzen, wie sehr die Eltern Außenseiter geblieben sind. Welcher Spalt zwischen ihren Möglichkeiten und der Wirklichkeit klafft. Duckmäuserisch unterlegene Eltern sind peinlich. Hatten sich die Eltern, als sie jung waren, einem archaischen Paternalismus entzogen, so entziehen sich ihre eigenen Kinder jetzt den Underdog-Eltern.
Biljana entdeckt bei den Punkern ihrer Nachbarschaft den Freiraum, der ihr eine Existenz aus eigenem Recht ermöglicht. Sie wird Fotokünstlerin und ist damit auf gutem Wege. Marktgerecht banalisiert sie ihren Namen, Biljana Banadinović, zu Billy Bana. Die Eltern schließt sie aus ihrer neuen Identität rigoros aus. Ihr jüngerer Bruder, der immer ihr naiv hilfloser Bewunderer war, bleibt auf der Suche nach seinem eigenen Weg im Nachkriegsserbien verschollen.
Billys Sichtweise dominiert, aber Azra ist die tragische Hauptfigur dieses Romans. Erst bei der Beisetzung Simas stellt sich heraus, dass er sich eine kleine Wohnung in Belgrad verschafft hat, nur für sich allein. Indes sollte Azra zu Hause immer wieder auf Fotos umgekommener junger Männer ihren Sohn identifizieren. Jahre später meldet sich eine Frau, die seine Reisetasche im Fundbüro ersteigert hat und auf den Rückseiten der Fotos, die ihm seine Schwester geschenkt hatte, diffuse Notate findet. So sehr sie immer ihren Stolz und ihren Willen behauptet hat, muss Azra jetzt hinnehmen, dass kaum etwas bleibt. Was einmal gegolten hat, die Werte der Heimat, ihre Leistung und die Emanzipation im neuen Leben, nichts hat mehr einen Wert, nicht einmal ihre Rolle als Mutter. Sie versteht nicht, dass ihre Tochter dasselbe tut wie sie seinerzeit: Sich eine neue Welt erschließen, die sich den Eltern entzieht.
„Zorn und Stille“ beginnt mit Billys Aufbruch nach Belgrad zur Beerdigung des Vaters, voller Widerwillen, weil ihr die Erinnerungen hochkommen. Um das zu veranschaulichen, greift die Autorin, zum Glück nur am Anfang, tief in die Werkzeugschachtel mit den emotions. Für das ungeklärte Durcheinander von bestandenen Kämpfen und erduldeten Niederlagen der Eltern und für ihre eigenen, hat Billy auch im Rückblick keine Erklärung. Aber da, wo sie jetzt steht, fängt etwas Neues an für sie. Sandra Gugić erzählt aus einer Welt, die sich der Gesellschaft, zu der sie parallel besteht, noch nicht erschlossen hat.
RUDOLF VON BITTER
Sandra Gugić: Zorn und Stille. Roman. Hoffmann und Campe, Hamburg 2020. 240 Seiten, 24 Euro.
„Die Freiheit, Türen zu haben,
die man
hinter sich schließen konnte.“
Die Mutter versteht nicht,
dass ihre Tochter dasselbe tut
wie sie seinerzeit
Die Autorin Sandra Gugić.
Foto: Dirk Skiba
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Sandra Gugićs Roman „Zorn und Stille“ über die eigenen Wurzeln
Eine Kleinfamilie serbischer Immigranten in Wien. Die Eltern, Sima und Azra, sind vor fünfzig Jahren als Gastarbeiter gekommen, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen, fernab der traditionellen Dorfhierarchie, in der ein Familienoberhaupt herrscht, der jeweilige Vater, roh, ungebildet und bei Bedarf brutal. Der eine lässt sich Wildbret servieren, während seine Frau nur Grünzeug abkriegt, der andere ist etwas weicher, aber trotzdem in archaischen Traditionen verhaftet.
Azra ist ausgewichen in eine WG nach Belgrad, aber eine ungewollte Schwangerschaft zwingt sie aus Geldmangel zurück ins Elternhaus, wo ihr gelegentlich geholfen wird, wenn auch mit Kommentaren wie: „Gewöhn dich nicht daran. Das Leben ist dir nichts schuldig.“ Ein Jahr lang, ab dem Beginn der Schwangerschaft, hat sich Sima von ihr ferngehalten. Azra hätte sich traditionell anderweitig verheiraten lassen können, aber dazu ist sie zu stolz.
Das Kind, das hier auf die Welt kommen soll, ist Biljana, die Ich-Erzählerin des Romans „Zorn und Stille“ von Sandra Gugić. In ihrem schmalen Buch „Astronauten“ hat Sandra Gugić bereits vom Leben von Jugendlichen geschrieben, deren Eltern die Brücken hinter sich abgebrochen haben. Ihnen fehlt in der Umgebung, in die sie hineingeboren sind, der Boden so sehr wie die Verbundenheit zur Heimat ihrer Eltern. Zu diesem familiären Bruch kommt im Fall ehemaliger Jugoslawen die Umdeklaration der Herkunftsländer und die Feindseligkeit einstiger Landsleute.
Gugić erzählt vor diesem Hintergrund von verschiedenen Lebensentscheidungen: Einer würde sich gerne für die Naturwissenschaften und eine bürgerliche Karriere entscheiden, eine andere versucht, das Fremde an sich in eine künstlerische Laufbahn mitzunehmen, der Dritte verschafft sich durch befremdliche Gewaltakte Aufmerksamkeit. Unter ähnlich unsicheren Bedingungen wachsen im jüngsten Roman von Sandra Gugić auch Biljana und ihr Bruder Jonas Neven auf, und womöglich teilen sie die Lebensumstände kommender Desperados, wie jüngst des Attentäters in Wien. Die Familie bekommt anonyme Anrufe: „Seid ihr Serben oder Kroaten?“, und die Spötteleien an Simas Arbeitsplatz lassen ahnen, wie der Bürgerkrieg ins neue Leben hineinreicht. Später nimmt Azra immerhin noch Notiz davon, wenn wieder einer der serbischen Kommandeure geschnappt worden ist, die im westlichen Europa als Täter gelten, aber nicht bei ihr. Azra und Sima haben geschuftet und gespart für ihre Familie, die zwei Kinder und ihr Haus: „Sie hatten sich jeden dieser Räume erarbeitet. Die Freiheit, Türen zu haben, die man hinter sich schließen konnte.“
Auch in der Welt ihrer Arbeitgeber ist so ein Eigenheim zwar ein Statussymbol, aber sie bleiben Neuankömmlinge, die die einheimischen Standards von Stil, Sprache und Schulbildung nicht aufweisen können. Die Kinder kennen die Codes, bemerken die Üblichkeiten, und können abschätzen, wie sehr die Eltern Außenseiter geblieben sind. Welcher Spalt zwischen ihren Möglichkeiten und der Wirklichkeit klafft. Duckmäuserisch unterlegene Eltern sind peinlich. Hatten sich die Eltern, als sie jung waren, einem archaischen Paternalismus entzogen, so entziehen sich ihre eigenen Kinder jetzt den Underdog-Eltern.
Biljana entdeckt bei den Punkern ihrer Nachbarschaft den Freiraum, der ihr eine Existenz aus eigenem Recht ermöglicht. Sie wird Fotokünstlerin und ist damit auf gutem Wege. Marktgerecht banalisiert sie ihren Namen, Biljana Banadinović, zu Billy Bana. Die Eltern schließt sie aus ihrer neuen Identität rigoros aus. Ihr jüngerer Bruder, der immer ihr naiv hilfloser Bewunderer war, bleibt auf der Suche nach seinem eigenen Weg im Nachkriegsserbien verschollen.
Billys Sichtweise dominiert, aber Azra ist die tragische Hauptfigur dieses Romans. Erst bei der Beisetzung Simas stellt sich heraus, dass er sich eine kleine Wohnung in Belgrad verschafft hat, nur für sich allein. Indes sollte Azra zu Hause immer wieder auf Fotos umgekommener junger Männer ihren Sohn identifizieren. Jahre später meldet sich eine Frau, die seine Reisetasche im Fundbüro ersteigert hat und auf den Rückseiten der Fotos, die ihm seine Schwester geschenkt hatte, diffuse Notate findet. So sehr sie immer ihren Stolz und ihren Willen behauptet hat, muss Azra jetzt hinnehmen, dass kaum etwas bleibt. Was einmal gegolten hat, die Werte der Heimat, ihre Leistung und die Emanzipation im neuen Leben, nichts hat mehr einen Wert, nicht einmal ihre Rolle als Mutter. Sie versteht nicht, dass ihre Tochter dasselbe tut wie sie seinerzeit: Sich eine neue Welt erschließen, die sich den Eltern entzieht.
„Zorn und Stille“ beginnt mit Billys Aufbruch nach Belgrad zur Beerdigung des Vaters, voller Widerwillen, weil ihr die Erinnerungen hochkommen. Um das zu veranschaulichen, greift die Autorin, zum Glück nur am Anfang, tief in die Werkzeugschachtel mit den emotions. Für das ungeklärte Durcheinander von bestandenen Kämpfen und erduldeten Niederlagen der Eltern und für ihre eigenen, hat Billy auch im Rückblick keine Erklärung. Aber da, wo sie jetzt steht, fängt etwas Neues an für sie. Sandra Gugić erzählt aus einer Welt, die sich der Gesellschaft, zu der sie parallel besteht, noch nicht erschlossen hat.
RUDOLF VON BITTER
Sandra Gugić: Zorn und Stille. Roman. Hoffmann und Campe, Hamburg 2020. 240 Seiten, 24 Euro.
„Die Freiheit, Türen zu haben,
die man
hinter sich schließen konnte.“
Die Mutter versteht nicht,
dass ihre Tochter dasselbe tut
wie sie seinerzeit
Die Autorin Sandra Gugić.
Foto: Dirk Skiba
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