Der junge Abraham Lincoln schlägt sich als mittelmäßiger Prärie-Anwalt durchs Leben. Er hat als Lokalpolitiker ein Haushaltsloch zu verantworten und leidet unter Depressionen. Als er sich in Mary Todd verliebt, erfährt sein Leben eine neue Richtung. Allerdings stellt sich Marys Familie gegen eine Hochzeit, wodurch Lincoln in eine Krise gerät, die ihn an allem zweifeln lässt. Mehr als tausend Kilometer entfernt, an der Ostküste, versucht Henry David Thoreau so unabhängig wie möglich zu leben. Er baut sich eine Hütte im Wald und weigert sich bald auch, Steuern zu zahlen. Als die Steuerbehörde ihn für eine Nacht ins Gefängnis steckt, schreibt er einen folgenreichen Aufsatz über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat, den auch Abraham Lincoln liest und den dieser - als Anwalt und Politiker - nicht akzeptieren kann. Lincoln kämpft sich aus seiner Krise und macht sich auf den Weg, Thoreau zu treffen. Und so kommt es zu einem Zwischenfall, von dem die Weltgeschichte nichts weiß.Sebastian Guhr konstruiert eine raffinierte literarische Fiktion, die glänzend unterhält und Fragen zur politischen Gegenwart stellt. Außerdem treten auf: Ralph Waldo Emerson, Nathaniel Hawthorne und die junge Louisa May Alcott.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Michael Kleeberg hat sein Herbstbuch schon gefunden. Sebastian Guhrs kleiner Roman, der dem Leser Lincoln und Thoreau als junge Käuze präsentiert, überzeugt ihn mit Lakonie und trockenem Humor und einer Dramaturgie, die immer dann einen Gang runterschaltet, wenn es spannend wird. Kleeberg gefällt's, er fühlt sich wie in einem Western von John Ford, wenn er Thoreaus Zweifeln und Lincolns Depressionen beiwohnt, nur dass der Roman ihn auch noch zum Weiterdenken bis in die Gegenwart anregt. Wäre dieser Lincoln heute ein regierungstreuer Legitimist und jener Thoreau vielleicht ein "Querdenker"?, fragt sich Kleeberg.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.09.2021Verantwortungsethiker gegen Querdenker?
Eine Art Western mit ikonoklastischem Prinzip: Sebastian Guhrs Roman "Mr. Lincoln und Mr. Thoreau"
Beim Überfliegen der Neuerscheinungen in meiner Buchhandlung blieb vor kurzem mein Blick an einem Buch mit dem Titel "Mr. Lincoln und Mr. Thoreau" hängen. Da ich trotz meines Interesses an amerikanischer Geschichte und amerikanischer Literatur nichts von einer Verbindung zwischen dem großen Präsidenten und dem legendären Autor wusste, sie nicht einmal automatisch als Zeitgenossen verortet hätte, war meine Neugierde geweckt, und ich schlug das Buch probeweise auf.
Der erste Satz des schlanken, keine 200 Seiten kurzen Romans lautet folgendermaßen: "Abraham Lincoln ist erst achtundzwanzig, aber er sitzt krumm wie ein alter Mann auf seinem Esel, als er in Springfield einreitet. Seinen neuen Zylinder setzt er sich kurz vor der Stadtgrenze auf. Er soll hier eine Assistentenstelle in einer Kanzlei antreten, aber er ist schlecht gelaunt, weil er nur ein Prärieanwalt ist, weil für den Zylinder fast sein ganzes Geld draufgegangen ist und weil er seit Tagen überlegt, wie er die Verlobung mit einer Frau, die er nicht liebt, auflösen kann."
Normalerweise gebe ich einem Buch ein paar Seiten, um mich zu überzeugen und in Bann zu schlagen. Hier war nach diesem ersten Absatz klar, dass ich weiterlesen wollte. So viel lakonische Präzision, so viel martinitrockener Humor zwischen den Wörtern und ein so unerwartetes Setting: Da haben sie, dachte ich mir, endlich mal einen neuen Amerikaner entdeckt, der wirklich interessant ist. Und da die Übersetzung, so viel kann ich beurteilen, sehr gelungen war, blätterte ich nach diesem ersten Satz zurück an den Anfang, um zu sehen, ob ich den Übersetzer kenne, ob es ein bekannter Name war. Aber da stand nichts von einer Übersetzung, und erst jetzt sah ich mir den Klappentext an und las dort über den Autor: "Sebastian Guhr, geboren 1983 in Berlin."
Und nun war ich wirklich, wie es so hässlich heißt, angefixt. Ein mir noch unbekannter deutscher Schriftsteller, der, anstatt die tausendste Geschichte über das Berliner Kulturprekariat zu schreiben, mir eine Art Western präsentiert, dessen erste Szene wie aus einem Film von John Ford wirkt, das nahm mich auf der Stelle so für das Buch ein, dass ich mir sagte: Darüber willst du, es sei denn, es fällt in der Folge fürchterlich ab, etwas schreiben.
Wie man hier sieht, tut es das zum Glück nicht. Im Gegenteil. Von Abraham Lincoln im noch kaum zivilisierten Kaff Springfield im Mittleren Westen springt die Erzählung im zweiten Kapitel zu Henry David Thoreau im beschaulichen Concord, den wir dabei erleben, wie er sich gerade daranmacht, vor der Menschheit und der Zivilisation in die Wälder zu flüchten, auch wenn der nachmals berühmte Walden Pond, an dem er sich dann niederlassen wird, nur gerade drei Meilen vom Ort entfernt liegt, so dass - auch hier wieder die trockene Komik, die den Roman durchzieht - jeden Tag jemand einen Spaziergang macht, um den Weltflüchtling zu besuchen, zu häufig für Thoreaus Geschmack, vor allem seine Mutter.
Vom Anfang bis zum Ende wird dieser Wechsel durchgehalten, einmal Lincoln, einmal Thoreau, und man wartet immer gespannter, wann denn nun die im Titel implizit versprochene Begegnung oder Konfrontation stattfinden wird. Unterdessen merkt man, dass man es mit zwei ausgesprochenen Käuzen zu tun hat. Hier ähnelt die Prämisse des Buches der von Kehlmanns "Vermessung der Welt", wo auch große Gestalten in ihrer allzumenschlichen Kleinheit geschildert wurden.
Henry David Thoreau ist ein junger Mann, dem alles, was er anfängt, misslingt und bei dem nie sicher ist, ob seine Flucht vor der Zivilisation nicht vor allem eine vor sich selbst und der eigenen Unfähigkeit ist.
Noch extremer liegt der Fall bei dem von permanenten Selbstzweifeln und Depressionen, die er "Schwarzer Hund" nennt (auch Hemingway kannte den "Black Dog"), heimgesuchten Lincoln, und man fragt sich ernsthaft, wie dieser Ritter von der traurigen Gestalt jemals hat zu einem der bedeutendsten Präsidenten der amerikanischen Geschichte werden können.
Es sind dann auch die Frauen im Schatten der zwei Männer, die diesen nicht nur den aufrechten Gang, sondern auch eine resolute und freie Entscheidungskraft voraus haben.
Die Gefahr eines solch ikonoklastischen Prinzips ist natürlich immer, dass sich jeder Trottel ermutigt fühlt, sich den außergewöhnlichen Männern überlegen zu fühlen, aber ich glaube nicht, dass das die Intention des Autors gewesen ist.
Was mir besonders gefallen hat, ist, wie er jedes Mal, wenn die Handlung sich zu einem Knoten schürzt, der eigentlich nach einer Explosion verlangt, meine Erwartungen unterläuft und den Showdown verweigert, im Falle der Begegnung der beiden Titelhelden ebenso wie bei einem Duell Lincolns oder dem Moment, in dem Thoreaus Waldeinsamkeit endet.
An den Anfang des Buches hat Sebastian Guhr eine Anmerkung gesetzt, in der er sagt, er habe eine vergangene Welt konstruiert, um etwas über die heutige auszusagen. Das erlaubt dem Leser, nach der Lektüre weiter zu denken und zu fragen: Geht es um eine Konfrontation zwischen dem Verantwortungsethiker Lincoln und dem Gesinnungsethiker Thoreau? Kann man den späteren Präsidenten als einen gesetzestreuen Legitimisten sehen und Thoreau als eine Art individualistischen Querdenker? Was ist eine Meinung oder Überzeugung wert, die sich nicht in einer Tat bewährt?
Es ist jedenfalls eine der Qualitäten dieses leichthändig und unterhaltsam erzählten Romans, dass die Fragen, die er aufwirft oder streift, einen noch lange nach der Lektüre weiterbeschäftigen. MICHAEL KLEEBERG.
Sebastian Guhr: "Mr. Lincoln und Mr. Thoreau". Roman.
Marix Verlag, Wiesbaden 2021. 192 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Art Western mit ikonoklastischem Prinzip: Sebastian Guhrs Roman "Mr. Lincoln und Mr. Thoreau"
Beim Überfliegen der Neuerscheinungen in meiner Buchhandlung blieb vor kurzem mein Blick an einem Buch mit dem Titel "Mr. Lincoln und Mr. Thoreau" hängen. Da ich trotz meines Interesses an amerikanischer Geschichte und amerikanischer Literatur nichts von einer Verbindung zwischen dem großen Präsidenten und dem legendären Autor wusste, sie nicht einmal automatisch als Zeitgenossen verortet hätte, war meine Neugierde geweckt, und ich schlug das Buch probeweise auf.
Der erste Satz des schlanken, keine 200 Seiten kurzen Romans lautet folgendermaßen: "Abraham Lincoln ist erst achtundzwanzig, aber er sitzt krumm wie ein alter Mann auf seinem Esel, als er in Springfield einreitet. Seinen neuen Zylinder setzt er sich kurz vor der Stadtgrenze auf. Er soll hier eine Assistentenstelle in einer Kanzlei antreten, aber er ist schlecht gelaunt, weil er nur ein Prärieanwalt ist, weil für den Zylinder fast sein ganzes Geld draufgegangen ist und weil er seit Tagen überlegt, wie er die Verlobung mit einer Frau, die er nicht liebt, auflösen kann."
Normalerweise gebe ich einem Buch ein paar Seiten, um mich zu überzeugen und in Bann zu schlagen. Hier war nach diesem ersten Absatz klar, dass ich weiterlesen wollte. So viel lakonische Präzision, so viel martinitrockener Humor zwischen den Wörtern und ein so unerwartetes Setting: Da haben sie, dachte ich mir, endlich mal einen neuen Amerikaner entdeckt, der wirklich interessant ist. Und da die Übersetzung, so viel kann ich beurteilen, sehr gelungen war, blätterte ich nach diesem ersten Satz zurück an den Anfang, um zu sehen, ob ich den Übersetzer kenne, ob es ein bekannter Name war. Aber da stand nichts von einer Übersetzung, und erst jetzt sah ich mir den Klappentext an und las dort über den Autor: "Sebastian Guhr, geboren 1983 in Berlin."
Und nun war ich wirklich, wie es so hässlich heißt, angefixt. Ein mir noch unbekannter deutscher Schriftsteller, der, anstatt die tausendste Geschichte über das Berliner Kulturprekariat zu schreiben, mir eine Art Western präsentiert, dessen erste Szene wie aus einem Film von John Ford wirkt, das nahm mich auf der Stelle so für das Buch ein, dass ich mir sagte: Darüber willst du, es sei denn, es fällt in der Folge fürchterlich ab, etwas schreiben.
Wie man hier sieht, tut es das zum Glück nicht. Im Gegenteil. Von Abraham Lincoln im noch kaum zivilisierten Kaff Springfield im Mittleren Westen springt die Erzählung im zweiten Kapitel zu Henry David Thoreau im beschaulichen Concord, den wir dabei erleben, wie er sich gerade daranmacht, vor der Menschheit und der Zivilisation in die Wälder zu flüchten, auch wenn der nachmals berühmte Walden Pond, an dem er sich dann niederlassen wird, nur gerade drei Meilen vom Ort entfernt liegt, so dass - auch hier wieder die trockene Komik, die den Roman durchzieht - jeden Tag jemand einen Spaziergang macht, um den Weltflüchtling zu besuchen, zu häufig für Thoreaus Geschmack, vor allem seine Mutter.
Vom Anfang bis zum Ende wird dieser Wechsel durchgehalten, einmal Lincoln, einmal Thoreau, und man wartet immer gespannter, wann denn nun die im Titel implizit versprochene Begegnung oder Konfrontation stattfinden wird. Unterdessen merkt man, dass man es mit zwei ausgesprochenen Käuzen zu tun hat. Hier ähnelt die Prämisse des Buches der von Kehlmanns "Vermessung der Welt", wo auch große Gestalten in ihrer allzumenschlichen Kleinheit geschildert wurden.
Henry David Thoreau ist ein junger Mann, dem alles, was er anfängt, misslingt und bei dem nie sicher ist, ob seine Flucht vor der Zivilisation nicht vor allem eine vor sich selbst und der eigenen Unfähigkeit ist.
Noch extremer liegt der Fall bei dem von permanenten Selbstzweifeln und Depressionen, die er "Schwarzer Hund" nennt (auch Hemingway kannte den "Black Dog"), heimgesuchten Lincoln, und man fragt sich ernsthaft, wie dieser Ritter von der traurigen Gestalt jemals hat zu einem der bedeutendsten Präsidenten der amerikanischen Geschichte werden können.
Es sind dann auch die Frauen im Schatten der zwei Männer, die diesen nicht nur den aufrechten Gang, sondern auch eine resolute und freie Entscheidungskraft voraus haben.
Die Gefahr eines solch ikonoklastischen Prinzips ist natürlich immer, dass sich jeder Trottel ermutigt fühlt, sich den außergewöhnlichen Männern überlegen zu fühlen, aber ich glaube nicht, dass das die Intention des Autors gewesen ist.
Was mir besonders gefallen hat, ist, wie er jedes Mal, wenn die Handlung sich zu einem Knoten schürzt, der eigentlich nach einer Explosion verlangt, meine Erwartungen unterläuft und den Showdown verweigert, im Falle der Begegnung der beiden Titelhelden ebenso wie bei einem Duell Lincolns oder dem Moment, in dem Thoreaus Waldeinsamkeit endet.
An den Anfang des Buches hat Sebastian Guhr eine Anmerkung gesetzt, in der er sagt, er habe eine vergangene Welt konstruiert, um etwas über die heutige auszusagen. Das erlaubt dem Leser, nach der Lektüre weiter zu denken und zu fragen: Geht es um eine Konfrontation zwischen dem Verantwortungsethiker Lincoln und dem Gesinnungsethiker Thoreau? Kann man den späteren Präsidenten als einen gesetzestreuen Legitimisten sehen und Thoreau als eine Art individualistischen Querdenker? Was ist eine Meinung oder Überzeugung wert, die sich nicht in einer Tat bewährt?
Es ist jedenfalls eine der Qualitäten dieses leichthändig und unterhaltsam erzählten Romans, dass die Fragen, die er aufwirft oder streift, einen noch lange nach der Lektüre weiterbeschäftigen. MICHAEL KLEEBERG.
Sebastian Guhr: "Mr. Lincoln und Mr. Thoreau". Roman.
Marix Verlag, Wiesbaden 2021. 192 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Mit poetischer Nüchternheit, unparteiischem Einfühlungsvermögen und erfinderischer Neugier nähert sich Sebastian Guhr den beiden Männern, ihren Überzeugungen und Lebensentwürfen und verhandelt dabei Fragen zu Staat und Individuum, Gesetz und Ungerechtigkeit, Reform und Widerstand, die heute so relevant sind wie damals.« Ulrike Ulrich Mr. Lincoln & Mr. Thoreau ist in Sprache, Konzeption und Komposition in meinen Augen nahezu perfekt gelungen. Ein anspruchsvoller, aber immer äußerst unterhaltsamer historischer Roman mit messerscharf gezeichneten Figuren. Dingfest In seinem beeindruckenden Roman "Mr. Lincoln & Mr. Thoreau" lässt der Autor Sebastian Guhr auf gekonnte Weise und mit leichter Hand Wahrheit und Fiktion ineinander übergehen, und auch wenn Metaphern wie: "Dieser Roman ist ein Pageturner", oder: "Das Buch fesselt den Leser schon ab der ersten Seite", längst ausgedient haben sollten, so geben sie dennoch exakt das wieder, was diesen Roman ausmacht: Ein Lesevergnügen bis zum Schluss. kommbuch.com Ganz besonders die trockene Art, mit welcher der Autor seinen beiden Protogonisten Leben einhaucht, wie auch das Tempo und der erfrischend nüchterne Humor bestechen, mit denen er die Geschichte vorantreibt, ohne auch nur ein einziges Mal an Glaubwürdigkeit zu verlieren oder die Bedeutsamkeit der unterschiedlichen Ansätze aus den Augen zu verlieren. Ein durch und durch gelungenes Buch. kommbuch.com So viel lakonische Präzision, so viel martinitrockener Humor zwischen Wörtern und ein so unerwartetes Setting. (...) Was mir besonders gefallen hat, ist, wie er jedes Mal, wenn die Handlung sich zu einem Knoten schürzt, der eigentlich nach einer Explosion verlangt, meine Erwartungen unterläuft und den Showdown verweigert. (...) Es ist jedenfalls eine der Qualitäten dieses leichthändig und unterhaltsam erzählten Romans, dass die Fragen, die er aufwirft oder streift, einen noch nach der Lektüre weiterbeschäftigen. FAZ Raffinierte literarische Fiktion vor dem Hintergrund von Abolitionismus (Sklavenfrage) und amerikanischem Transzendentalismus (Emerson). ekz. bibliotheksservice Zwei historische Figuren, Abraham Lincoln und Henry David Thoreau, erhalten in diesem Roman einen gemeinsamen Rahmen. Unterhaltsamer Geschichtsunterricht zu vielfältigen und nach wie vor sehr aktuellen Themen. Eine anspruchsvolle Lektüre mit lebensnahen Figuren und dezentem Humor. Schlicht und eindrücklich erzählt, ist es eine wunderbare Abweichung von der Norm. belletristikcouch.de