Sergej Lebedew besticht in seinem Roman »Das perfekte Gift« durch schwindelerregende Einblicke in Russlands Abgründe. Bis heute sind Stalins Schatten und der Kalte Krieg zu spüren. Und bis heute fasziniert das perfekte Gift, das nicht nur tötet, sondern Angst verbreitet, die viel giftiger ist als ein chemischer Stoff aus russischen Laboren. Ein fulminanter Roman über Wespenstiche, an denen Geheimagenten sterben, und die Jagd nach einem todbringenden Chemiker.
»Sergej Lebedew schreibt nicht über die Vergangenheit, das hier ist unsere Gegenwart.« Swetlana Alexijewitsch
»Lebedew durchschaut, was die meisten sowjetischen und postsowjetischen Schriftsteller nicht sehen wollten.« Vladimir Sorokin
»Sergej Lebedew schreibt nicht über die Vergangenheit, das hier ist unsere Gegenwart.« Swetlana Alexijewitsch
»Lebedew durchschaut, was die meisten sowjetischen und postsowjetischen Schriftsteller nicht sehen wollten.« Vladimir Sorokin
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Sonja Zekri findet Sergej Lebedews neuen Roman sowohl aktuell als auch zeitlos. Sofort gemahnt sie der erbarmungslose Zweikampf eines amoralischen Chemikers im Dienst der Sowjetunion und eines gnadenlosen Folter-Oberstleutnants an die Giftanschläge auf Skripal und Nawalny. Wirklich groß scheint ihr aber, dass der Autor aus seiner spannenden Story mehr macht als einen Agententhriller oder einen historischen Roman. Dem Autor geht es um die Konfrontation von Gut und Böse - eine Glaubensfrage, meint Zekri. Dafür findet er die denkbar finstersten Beschreibungen, so die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.08.2021Totale Zersetzung
Bericht vom Testgelände für den neuen Menschen: Sergej Lebedew führt mit "Das perfekte Gift" ins Innere eines Systems, in dem es kein Vertrauen mehr gibt.
Der Debütant ist deswegen ein so raffiniertes Gift, weil er keine Spuren hinterlässt. Nachdem seine Moleküle den Körper zerstört haben, lösen sie sich buchstäblich in Luft auf, und was der übergelaufene KGB-Offizier Wyrin im ersten Augenblick für einen Wespenstich im Nacken hält, bringt ihm schließlich den Tod.
Der Anschlag findet auf dem Territorium eines westeuropäischen Staates statt, also leitet die Regierung Untersuchungen ein, holt Experten herbei. So wird auch der Chemiker Kalitin plötzlich zur Gefahr für die Drahtzieher: Zu Sowjetzeiten hatte er den sogenannten Debütanten entwickelt und lebt inzwischen ebenfalls im Westen. Zwei KGB-Agenten machen sich also auf den Weg, um auch ihn zu eliminieren.
Aber zurück zur Anfangsszene mit dem vermeintlichen Wespenstich, die vor dem inneren Auge wie ein Kurzfilm abläuft, so lebhaft ist die sommerliche Atmosphäre kurz vor dem Angriff eingefangen, dann die einsetzende Paranoia: "Das perfekte Gift" ist voll von solchen starken Bildern, griffigen Ideen. Ein aufrührerischer Priester, den der Geheimdienst versucht durch schiere Fülle zu zermürben: Zuerst stehen zwanzig nicht bestellte Torten vor seiner Tür, dann Berge von Krempel, am Ende lebende Tiere. Soldaten gehen auf die Jagd nach Affen, die aus einer streng geheimen Versuchsanstalt ausgebrochen sind.
Oder der Chemiker Kalitin, der noch als kleiner Junge heimlich den neuen Morgenrock seiner Mutter anprobiert oder die hochdekorierte Uniform des Onkels. Später dann, an seinem ersten Tag im Labor, den schweren Schutzanzug aus Gummi, in dem er sich selbst nicht wiedererkennt. Kalitin durchläuft diese Transformationen jedes Mal wie Initiationsriten, wird zu einem anderen, zum Teil von etwas Überlebensgroßem. Üblicherweise verhelfen solche Rückblenden ja zu einem besseren Verständnis der Figuren, aber hier machen sie sie undurchdringlicher, machen Kalitin wie seinen Debütanten zum Prototyp eines Staatsapparates, der seine Leute unter aufgeschriebenen Erinnerungen seitenweise, ordnerweise regelrecht begräbt.
Wyrin nennt die Akten, die der KGB über jeden potenziellen Feind und Verräter anlegt, "paranoide Romane", die ihr Subjekt aus Denunziationen, aus Abgelauschtem und Erspähtem neu zusammensetzen. In gewisser Weise ist "Das perfekte Gift" also eine Geistergeschichte, in der sich diese lebenden Schatten, diese papiernen Aktenwesen verselbständigen, in dem sich jeder Idealismus früher oder später so spurlos verflüchtigt wie der Debütant.
Die Romane des heute in Berlin lebenden Journalisten und Schriftstellers Sergej Lebedew haben es nicht leicht in seiner russischen Heimat, Verleger zu finden. Sie erforschen die verdrängte Vergangenheit des Landes, ziehen Linien von der Herrschaft Stalins bis zu Putin. Daran, wie Lebedew Schicht um Schicht Zeitgeschichte aufzuschütten vermag, bis man die real existierenden Vorbilder erkennt, obwohl selten einmal konkrete Ortsnamen fallen, lässt sich auch erahnen, dass er ursprünglich einmal Geologie studiert hat.
Da wären die Solowezki-Inseln, deren Gefängnis auf dem Grund eines Klosters zum Modell für den Gulag wurde, die geschlossene Stadt Schichany, wo um 1930 deutsches und sowjetisches Militär gemeinsam Kampfstoffe entwickelte. Ständig gilt es, während der Lektüre die Lücken mit eigenem Wissen zu füllen, die alsbald Assoziationen zu jüngeren Ereignissen wachrufen: Sergej Skripal, Alexej Nawalnyj, beide höchstwahrscheinlich Opfer des Nervengiftes Nowitschok. "Wen hätten sie im Jahr 1991 schon aufhalten können?", schreibt Lebedew. "Man konnte ja nicht die Menge vergiften. Nun aber, wo es keine Solidarität mehr gab, sondern nur einzelne, isolierte, vor Angst gelähmte Figuren, da waren diese Präparate die beste Lösung."
Dass der Autor es schafft, einem derart von den Hässlichkeiten der Weltpolitik durchseuchten Thema einen so schwebenden Text abzuringen, ist ein Kunststück. Die Eleganz von "Das perfekte Gift" ist auch seinen sorgfältig konstruierten Symmetrien zu verdanken: Ärzte, die Körper retten, stehen Wissenschaftlern gegenüber, die Körper zerstören, die Hybris der Sowjets, gespiegelt vom Überlegenheitsgefühl der Deutschen, deren Zusammenarbeit als höllischer Pakt in die Geschichtsbücher eingeht, während Kalitin sie in seinem Elfenbeinturm als "paradiesische Raum-Zeit-Konstellation" feiert.
Dazu kommt die Symmetrie der beiden Handlungsstränge, die einander in der zweiten Hälfte der Geschichte immer beharrlicher entgegenstreben: Kalitin plant seine Abreise, während die zwei KGB-Agenten sich ihm auf einer verschlungenen Route nähern, die sie aussehen lassen soll wie Touristen. Dabei werden sie immer wieder aufgehalten: vom Zoll, vom Wetter, vom Verkehr, bis sie beginnen, am Schicksal zu zweifeln, an ihrer Mission, aneinander. Nur: Beide werden nach ausgeführtem Auftrag einen Bericht schreiben und das Verhalten des anderen genauestens beurteilen müssen.
Folgt man Lebedews Gedankengang hier konsequent bis zum Ende, dann identifiziert er vor allem dieses grundlegende Vertrauensproblem als das zersetzendste Gift von allen; noch vor dem Machtstreben und der Skrupellosigkeit Einzelner. Er beschreibt ein System, in dem auf der einen Seite ein Wissenschaftler nicht weiß, dass seine Frau ihn bespitzelt, und auf der anderen Seite ihre Verbindungsoffiziere nicht wissen, ob sie ihnen nicht das eigentlich Wissenswerte vorenthält. Ein System, in dem die Leute selbst unumstößlich scheinenden Gewissheiten nicht trauen können und so alle Karten auf das große Ganze setzen, das am Ende ebenfalls zum Zusammenbruch verurteilt ist. Das macht etwas mit den Menschen, und für Kalitin bedeutet es schlicht Realitätsverweigerung: In seiner Weltsicht steht er als Wissenschaftler über den Dingen und erkennt zu spät die Ironie, die darin steckt, dass sein Labor in den Mauern eines ehemaligen Klosters errichtet ist, an den Wänden noch die verblassten Überreste eines Freskos, auf dem das Jüngste Gericht tagt. "Es war Heiligtum, Gefängnis, Altar und Testgelände. Ein neues, synthetisches Wesen, eine von der Außenwelt isolierte Abstraktion. Das Labor." Der Ort, an dem die Utopie umkippt in die Dystopie. "Das perfekte Gift" ist die umfangreiche Akte, der paranoide Roman über ihren Zerfall. KATRIN DOERKSEN.
Sergej Lebedew: "Das perfekte Gift". Roman.
Aus dem Russischen von Franziska Zwerg. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021. 256 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bericht vom Testgelände für den neuen Menschen: Sergej Lebedew führt mit "Das perfekte Gift" ins Innere eines Systems, in dem es kein Vertrauen mehr gibt.
Der Debütant ist deswegen ein so raffiniertes Gift, weil er keine Spuren hinterlässt. Nachdem seine Moleküle den Körper zerstört haben, lösen sie sich buchstäblich in Luft auf, und was der übergelaufene KGB-Offizier Wyrin im ersten Augenblick für einen Wespenstich im Nacken hält, bringt ihm schließlich den Tod.
Der Anschlag findet auf dem Territorium eines westeuropäischen Staates statt, also leitet die Regierung Untersuchungen ein, holt Experten herbei. So wird auch der Chemiker Kalitin plötzlich zur Gefahr für die Drahtzieher: Zu Sowjetzeiten hatte er den sogenannten Debütanten entwickelt und lebt inzwischen ebenfalls im Westen. Zwei KGB-Agenten machen sich also auf den Weg, um auch ihn zu eliminieren.
Aber zurück zur Anfangsszene mit dem vermeintlichen Wespenstich, die vor dem inneren Auge wie ein Kurzfilm abläuft, so lebhaft ist die sommerliche Atmosphäre kurz vor dem Angriff eingefangen, dann die einsetzende Paranoia: "Das perfekte Gift" ist voll von solchen starken Bildern, griffigen Ideen. Ein aufrührerischer Priester, den der Geheimdienst versucht durch schiere Fülle zu zermürben: Zuerst stehen zwanzig nicht bestellte Torten vor seiner Tür, dann Berge von Krempel, am Ende lebende Tiere. Soldaten gehen auf die Jagd nach Affen, die aus einer streng geheimen Versuchsanstalt ausgebrochen sind.
Oder der Chemiker Kalitin, der noch als kleiner Junge heimlich den neuen Morgenrock seiner Mutter anprobiert oder die hochdekorierte Uniform des Onkels. Später dann, an seinem ersten Tag im Labor, den schweren Schutzanzug aus Gummi, in dem er sich selbst nicht wiedererkennt. Kalitin durchläuft diese Transformationen jedes Mal wie Initiationsriten, wird zu einem anderen, zum Teil von etwas Überlebensgroßem. Üblicherweise verhelfen solche Rückblenden ja zu einem besseren Verständnis der Figuren, aber hier machen sie sie undurchdringlicher, machen Kalitin wie seinen Debütanten zum Prototyp eines Staatsapparates, der seine Leute unter aufgeschriebenen Erinnerungen seitenweise, ordnerweise regelrecht begräbt.
Wyrin nennt die Akten, die der KGB über jeden potenziellen Feind und Verräter anlegt, "paranoide Romane", die ihr Subjekt aus Denunziationen, aus Abgelauschtem und Erspähtem neu zusammensetzen. In gewisser Weise ist "Das perfekte Gift" also eine Geistergeschichte, in der sich diese lebenden Schatten, diese papiernen Aktenwesen verselbständigen, in dem sich jeder Idealismus früher oder später so spurlos verflüchtigt wie der Debütant.
Die Romane des heute in Berlin lebenden Journalisten und Schriftstellers Sergej Lebedew haben es nicht leicht in seiner russischen Heimat, Verleger zu finden. Sie erforschen die verdrängte Vergangenheit des Landes, ziehen Linien von der Herrschaft Stalins bis zu Putin. Daran, wie Lebedew Schicht um Schicht Zeitgeschichte aufzuschütten vermag, bis man die real existierenden Vorbilder erkennt, obwohl selten einmal konkrete Ortsnamen fallen, lässt sich auch erahnen, dass er ursprünglich einmal Geologie studiert hat.
Da wären die Solowezki-Inseln, deren Gefängnis auf dem Grund eines Klosters zum Modell für den Gulag wurde, die geschlossene Stadt Schichany, wo um 1930 deutsches und sowjetisches Militär gemeinsam Kampfstoffe entwickelte. Ständig gilt es, während der Lektüre die Lücken mit eigenem Wissen zu füllen, die alsbald Assoziationen zu jüngeren Ereignissen wachrufen: Sergej Skripal, Alexej Nawalnyj, beide höchstwahrscheinlich Opfer des Nervengiftes Nowitschok. "Wen hätten sie im Jahr 1991 schon aufhalten können?", schreibt Lebedew. "Man konnte ja nicht die Menge vergiften. Nun aber, wo es keine Solidarität mehr gab, sondern nur einzelne, isolierte, vor Angst gelähmte Figuren, da waren diese Präparate die beste Lösung."
Dass der Autor es schafft, einem derart von den Hässlichkeiten der Weltpolitik durchseuchten Thema einen so schwebenden Text abzuringen, ist ein Kunststück. Die Eleganz von "Das perfekte Gift" ist auch seinen sorgfältig konstruierten Symmetrien zu verdanken: Ärzte, die Körper retten, stehen Wissenschaftlern gegenüber, die Körper zerstören, die Hybris der Sowjets, gespiegelt vom Überlegenheitsgefühl der Deutschen, deren Zusammenarbeit als höllischer Pakt in die Geschichtsbücher eingeht, während Kalitin sie in seinem Elfenbeinturm als "paradiesische Raum-Zeit-Konstellation" feiert.
Dazu kommt die Symmetrie der beiden Handlungsstränge, die einander in der zweiten Hälfte der Geschichte immer beharrlicher entgegenstreben: Kalitin plant seine Abreise, während die zwei KGB-Agenten sich ihm auf einer verschlungenen Route nähern, die sie aussehen lassen soll wie Touristen. Dabei werden sie immer wieder aufgehalten: vom Zoll, vom Wetter, vom Verkehr, bis sie beginnen, am Schicksal zu zweifeln, an ihrer Mission, aneinander. Nur: Beide werden nach ausgeführtem Auftrag einen Bericht schreiben und das Verhalten des anderen genauestens beurteilen müssen.
Folgt man Lebedews Gedankengang hier konsequent bis zum Ende, dann identifiziert er vor allem dieses grundlegende Vertrauensproblem als das zersetzendste Gift von allen; noch vor dem Machtstreben und der Skrupellosigkeit Einzelner. Er beschreibt ein System, in dem auf der einen Seite ein Wissenschaftler nicht weiß, dass seine Frau ihn bespitzelt, und auf der anderen Seite ihre Verbindungsoffiziere nicht wissen, ob sie ihnen nicht das eigentlich Wissenswerte vorenthält. Ein System, in dem die Leute selbst unumstößlich scheinenden Gewissheiten nicht trauen können und so alle Karten auf das große Ganze setzen, das am Ende ebenfalls zum Zusammenbruch verurteilt ist. Das macht etwas mit den Menschen, und für Kalitin bedeutet es schlicht Realitätsverweigerung: In seiner Weltsicht steht er als Wissenschaftler über den Dingen und erkennt zu spät die Ironie, die darin steckt, dass sein Labor in den Mauern eines ehemaligen Klosters errichtet ist, an den Wänden noch die verblassten Überreste eines Freskos, auf dem das Jüngste Gericht tagt. "Es war Heiligtum, Gefängnis, Altar und Testgelände. Ein neues, synthetisches Wesen, eine von der Außenwelt isolierte Abstraktion. Das Labor." Der Ort, an dem die Utopie umkippt in die Dystopie. "Das perfekte Gift" ist die umfangreiche Akte, der paranoide Roman über ihren Zerfall. KATRIN DOERKSEN.
Sergej Lebedew: "Das perfekte Gift". Roman.
Aus dem Russischen von Franziska Zwerg. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021. 256 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
eine brisante und spannungsgeladene Erzählung, die eine überaus bedrohliche Atmosphäre ausstrahlt Norbert Striemen Radio Mülheim 20210922
Ihre Waffe: Nervengift
In Sergej Lebedews Roman jagen sich zwei Männer bis ins Innerste der russischen Geheimdienste. Das ist beunruhigend realistisch
Es ist kein schöner Tod, eher schon ein modellhafter. Ein Stechen im Nacken, ein Schmerz in den Schläfen, der beschleunigte Atem. Dann lässt der zugeschwollene Hals keinen Hilferuf mehr zu, ein Röcheln nur, das die Gäste des Restaurants für die Laute eines Betrunkenen halten. Koma.
Nach vier Tagen stirbt der übergelaufene KGB-Offizier Wyrin, einer von ungezählten Opfern toxischer Substanzen in Sergej Lebedews Roman „Das perfekte Gift“. Die Menschen kommen um durch kontaminierten Grauburgunder oder präparierte Gebetsketten, in Menschenversuchen oder bei Laborunfällen. Meist ist Russland der Täter, früher die Sowjetunion, obwohl natürlich auch Deutschland eine riesige Anzahl Vergifteter auf dem Gewissen hat. Nach Stahl und Schießpulver ist Gift die Waffe der Wahl, der verschwiegenste Söldner für moderne Konflikte. Und nimmt man hinzu, dass Angst das beste Gift ist, wie es an einer Stelle heißt, weil der Menschen es sozusagen selbst herstellt, dann dürfte dies noch eine Zeit lang so bleiben.
Sergej Lebedew muss den Namen Wladimir Putins gar nicht nennen. Man denkt ohnehin an Litwinenko, Skripal, Nawalny. Russland ist in diesem Buch kein Land oder System, sondern ein albtraumhafter, auswegloser, durchaus im religiösen Sinne verdammter „state of mind“. Zwei Gegenspieler bewegen sich aufeinander zu, einer furchterregender als der andere. Der besessen amoralische Chemiker Kalitin erforscht den Tod so leidenschaftlich wie Mediziner das Leben. Seit seiner Kindheit lebte er auf der „Insel“, einem geheimen Wissenschaftlerrefugium, das für ihn „Heiligtum, Gefängnis, Altar und Testgelände“ gleichermaßen war. Nach Jahren unermüdlicher Forschung gelang ihm das Meisterstück, ein Gift, das unbemerkt tötet. Der Tod ist schmutzig, das weiß Kalitin, er hinterlässt Indizien, natürliche Spuren. Dieses Gesetz zu überlisten, bedeutet, die Natur, das Sein, die Schöpfung selbst zu besiegen. Der Name des Präparats: „Debütant“.
Und nun soll dieser Kalitin durch den „Debütanten“ sterben. Denn auch er hat sich abgesetzt aus der zerfallenden Sowjetunion, nachdem er in eine Intrige geraten war. Auf den Fersen ist ihm ein Mann, der genauso wenig Skrupel besitzt wie er, allerdings auch keinerlei Raffinesse. Oberstleutnant Scherschnjow foltert jeden, der zu foltern ist, empfindet bei Irrtümern bestenfalls eine gewisse professionelle Scham. Der Tod des Ex-KGB-Agenten Wyrin hat die Spur auf Kalitin gelenkt, also reist Scherschnjow mit einem Kollegen in den Osten Deutschlands, im Gepäck eine Phiole „Debütant“. Aber auch Kalitin hat einen Flakon seines besten Produktes hinausgeschmuggelt. Lebedew liebt solche Symmetrien. Fast alle wichtigen Motive tauchen doppelt auf, alles hängt mit allem zusammen, greift ineinander wie die Zähne eines Getriebes. Eine luftleere, undurchdringliche Enge entsteht so. Es gibt keinen Ausweg, kein Draußen.
Die einzige Lichtgestalt ist Trawniczek, ein ostdeutscher Dorfpfarrer, der zur Wende populäre Predigten hielt und deshalb ebenfalls vergiftet wurde. Er überlebte zwar, aber entstellt. Sein Gesicht blieb schuppig wie das einer Echse. Bei Lebedew schlagen noch die Wunder aufs Gemüt.
Man hat lange nicht mehr so originelle Beschreibungen der Unfreiheit gelesen. „Warum konnten sie in jenen Jahren die Menschen nicht einfach begraben? Warum hatten sie Ermittlungen durchgeführt, Papiere beschrieben, Formalitäten berücksichtigt, wenn sie doch wussten, dass alles eine Lüge war? Wozu diese Prozedur?“, fragt Kalitin und erkennt: „Den Vollstreckern zuliebe. Es war für sie ein Haltegriff, damit sie nicht verrückt wurden und den Gehorsam nicht verweigerten.“
Die entfesselte Bürokratie mit ihren sinnfreien Operationen, dem ritualhaften Verfassen von Berichten, der Verschwendung von Ressourcen war kein Effekt der Diktatur, sondern ihr Zweck: „Genau in diesem Durchsieben von gehaltlosem Erz manifestierte sich die totale Macht.“ Zwangsläufig sind deshalb die Jäger auch Gejagte. Während Scherschnjow und sein Kollege auf Wunsch der Vorgesetzten einer umständlichen Route folgen, immer wieder aufgehalten durch ausgefallene Zugabteile, ein Versagen des Buchungssystem, basale Nickeligkeiten der Wirklichkeit, belauern sie sich gegenseitig. Jeder wird einen Bericht über den anderen schreiben, das wissen beide. Gewohnheitsmäßig kontrollieren sie nicht nur das, was sie sagen, sondern auch das, was sie denken.
Manchmal treibt Lebedew es mit der Verfinsterung der Welt etwas weit, denn ob auch der Zapfhahn „wie im Todeskampf“ röchelt, ist ja sehr die Frage. Aber kleiner hat er es nicht. Dies ist sein fünfter Roman, auch seine Vorgängerbücher kreisen um Russlands Vergangenheit, die Stalin-Zeit, die deutsch-russische Geschichte. Lebedew ist Geologe, er hat Gesteine untersucht, sedimentierte Zeit. Nichts anderes tun Historiker.
„Das perfekte Gift“ aber ist mehr als ein historischer Roman und trotz aller Spannung und der entsprechenden Zutaten auch kein Agententhriller. Die wahre Konfrontation spielt sich nicht zwischen dem Giftmischer und seinem Verfolger ab, Lebedew geht es um das Ringen von Gut und Böse. Das Böse ist mächtig und reproduziert sich selbst in einer „Kettenreaktion“, einer „Tautologie“. Trawniczek, der entstellte Pfarrer, beschreibt es als einen „Haufen verrottender, von schwarzen Würmern zernagter Früchte“, ein Zerrbild des Paradieses. Aber das Gute ist nie fern. Kalitin experimentiert in einer einstigen Kapelle. Einsicht, Umkehr sind jederzeit denkbar.
Sergej Lebedew hat einen mystisch aufgeladenen Ton in die junge russische Literatur gebracht. Eine Ahnung von russischem Sendungsbewusstsein, von Russland als Schauplatz finaler Glaubensfragen scheint da auf. Das hätte etwas Überholtes, wäre die Überwindung der Unfreiheit nicht so brennend aktuell.
SONJA ZEKRI
Sergej Lebedew: Das perfekte Gift. Aus dem Russischen von Franziska Zwerg. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021. 256 Seiten, 22 Euro.
Ermittler in Schutzanzügen nach dem Giftanschlag auf den Agenten Skripal im Jahr 2018. Der Roman erinnert an reale Ereignisse wie dieses. Foto: Steve Parsons/dpa
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In Sergej Lebedews Roman jagen sich zwei Männer bis ins Innerste der russischen Geheimdienste. Das ist beunruhigend realistisch
Es ist kein schöner Tod, eher schon ein modellhafter. Ein Stechen im Nacken, ein Schmerz in den Schläfen, der beschleunigte Atem. Dann lässt der zugeschwollene Hals keinen Hilferuf mehr zu, ein Röcheln nur, das die Gäste des Restaurants für die Laute eines Betrunkenen halten. Koma.
Nach vier Tagen stirbt der übergelaufene KGB-Offizier Wyrin, einer von ungezählten Opfern toxischer Substanzen in Sergej Lebedews Roman „Das perfekte Gift“. Die Menschen kommen um durch kontaminierten Grauburgunder oder präparierte Gebetsketten, in Menschenversuchen oder bei Laborunfällen. Meist ist Russland der Täter, früher die Sowjetunion, obwohl natürlich auch Deutschland eine riesige Anzahl Vergifteter auf dem Gewissen hat. Nach Stahl und Schießpulver ist Gift die Waffe der Wahl, der verschwiegenste Söldner für moderne Konflikte. Und nimmt man hinzu, dass Angst das beste Gift ist, wie es an einer Stelle heißt, weil der Menschen es sozusagen selbst herstellt, dann dürfte dies noch eine Zeit lang so bleiben.
Sergej Lebedew muss den Namen Wladimir Putins gar nicht nennen. Man denkt ohnehin an Litwinenko, Skripal, Nawalny. Russland ist in diesem Buch kein Land oder System, sondern ein albtraumhafter, auswegloser, durchaus im religiösen Sinne verdammter „state of mind“. Zwei Gegenspieler bewegen sich aufeinander zu, einer furchterregender als der andere. Der besessen amoralische Chemiker Kalitin erforscht den Tod so leidenschaftlich wie Mediziner das Leben. Seit seiner Kindheit lebte er auf der „Insel“, einem geheimen Wissenschaftlerrefugium, das für ihn „Heiligtum, Gefängnis, Altar und Testgelände“ gleichermaßen war. Nach Jahren unermüdlicher Forschung gelang ihm das Meisterstück, ein Gift, das unbemerkt tötet. Der Tod ist schmutzig, das weiß Kalitin, er hinterlässt Indizien, natürliche Spuren. Dieses Gesetz zu überlisten, bedeutet, die Natur, das Sein, die Schöpfung selbst zu besiegen. Der Name des Präparats: „Debütant“.
Und nun soll dieser Kalitin durch den „Debütanten“ sterben. Denn auch er hat sich abgesetzt aus der zerfallenden Sowjetunion, nachdem er in eine Intrige geraten war. Auf den Fersen ist ihm ein Mann, der genauso wenig Skrupel besitzt wie er, allerdings auch keinerlei Raffinesse. Oberstleutnant Scherschnjow foltert jeden, der zu foltern ist, empfindet bei Irrtümern bestenfalls eine gewisse professionelle Scham. Der Tod des Ex-KGB-Agenten Wyrin hat die Spur auf Kalitin gelenkt, also reist Scherschnjow mit einem Kollegen in den Osten Deutschlands, im Gepäck eine Phiole „Debütant“. Aber auch Kalitin hat einen Flakon seines besten Produktes hinausgeschmuggelt. Lebedew liebt solche Symmetrien. Fast alle wichtigen Motive tauchen doppelt auf, alles hängt mit allem zusammen, greift ineinander wie die Zähne eines Getriebes. Eine luftleere, undurchdringliche Enge entsteht so. Es gibt keinen Ausweg, kein Draußen.
Die einzige Lichtgestalt ist Trawniczek, ein ostdeutscher Dorfpfarrer, der zur Wende populäre Predigten hielt und deshalb ebenfalls vergiftet wurde. Er überlebte zwar, aber entstellt. Sein Gesicht blieb schuppig wie das einer Echse. Bei Lebedew schlagen noch die Wunder aufs Gemüt.
Man hat lange nicht mehr so originelle Beschreibungen der Unfreiheit gelesen. „Warum konnten sie in jenen Jahren die Menschen nicht einfach begraben? Warum hatten sie Ermittlungen durchgeführt, Papiere beschrieben, Formalitäten berücksichtigt, wenn sie doch wussten, dass alles eine Lüge war? Wozu diese Prozedur?“, fragt Kalitin und erkennt: „Den Vollstreckern zuliebe. Es war für sie ein Haltegriff, damit sie nicht verrückt wurden und den Gehorsam nicht verweigerten.“
Die entfesselte Bürokratie mit ihren sinnfreien Operationen, dem ritualhaften Verfassen von Berichten, der Verschwendung von Ressourcen war kein Effekt der Diktatur, sondern ihr Zweck: „Genau in diesem Durchsieben von gehaltlosem Erz manifestierte sich die totale Macht.“ Zwangsläufig sind deshalb die Jäger auch Gejagte. Während Scherschnjow und sein Kollege auf Wunsch der Vorgesetzten einer umständlichen Route folgen, immer wieder aufgehalten durch ausgefallene Zugabteile, ein Versagen des Buchungssystem, basale Nickeligkeiten der Wirklichkeit, belauern sie sich gegenseitig. Jeder wird einen Bericht über den anderen schreiben, das wissen beide. Gewohnheitsmäßig kontrollieren sie nicht nur das, was sie sagen, sondern auch das, was sie denken.
Manchmal treibt Lebedew es mit der Verfinsterung der Welt etwas weit, denn ob auch der Zapfhahn „wie im Todeskampf“ röchelt, ist ja sehr die Frage. Aber kleiner hat er es nicht. Dies ist sein fünfter Roman, auch seine Vorgängerbücher kreisen um Russlands Vergangenheit, die Stalin-Zeit, die deutsch-russische Geschichte. Lebedew ist Geologe, er hat Gesteine untersucht, sedimentierte Zeit. Nichts anderes tun Historiker.
„Das perfekte Gift“ aber ist mehr als ein historischer Roman und trotz aller Spannung und der entsprechenden Zutaten auch kein Agententhriller. Die wahre Konfrontation spielt sich nicht zwischen dem Giftmischer und seinem Verfolger ab, Lebedew geht es um das Ringen von Gut und Böse. Das Böse ist mächtig und reproduziert sich selbst in einer „Kettenreaktion“, einer „Tautologie“. Trawniczek, der entstellte Pfarrer, beschreibt es als einen „Haufen verrottender, von schwarzen Würmern zernagter Früchte“, ein Zerrbild des Paradieses. Aber das Gute ist nie fern. Kalitin experimentiert in einer einstigen Kapelle. Einsicht, Umkehr sind jederzeit denkbar.
Sergej Lebedew hat einen mystisch aufgeladenen Ton in die junge russische Literatur gebracht. Eine Ahnung von russischem Sendungsbewusstsein, von Russland als Schauplatz finaler Glaubensfragen scheint da auf. Das hätte etwas Überholtes, wäre die Überwindung der Unfreiheit nicht so brennend aktuell.
SONJA ZEKRI
Sergej Lebedew: Das perfekte Gift. Aus dem Russischen von Franziska Zwerg. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021. 256 Seiten, 22 Euro.
Ermittler in Schutzanzügen nach dem Giftanschlag auf den Agenten Skripal im Jahr 2018. Der Roman erinnert an reale Ereignisse wie dieses. Foto: Steve Parsons/dpa
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de