Wie schnell manche Leben vergessen werden, und wie viele Generationen sie dennoch in den Körpern derjenigen eingeschrieben bleiben, die nach ihnen kommen, spürt Mädchen am eigenen Leib. Sie merkt es an den Blicken, die sie streifen, an Bruder, der die Muttersprache nicht akzentfrei spricht, an den Büchern, in denen sie vergebens nach ihr gleichenden Figuren sucht. Aber alle Vergleiche müssen zwangsläufig scheitern, fehlt Mädchen doch bis auf wenige fragmentarische Erinnerungen das Wissen über ihre Ahnen, die weder in der offiziellen noch der familiären Geschichtsschreibung vorkommen. Aus losen Fäden, Vergangenheitsbruchstücken und Mythen beginnt daher das Alter Ego der Autorin, sich den eigenen Stammbaum mit einer der Wirklichkeit in nichts nachstehenden Radikalität zu gestalten. Seine weit verzweigten, vielblättrigen Äste reichen von der Cape-Coloured-Community in Südafrika über den Atlantik bis ins Deutschland der Gegenwart und räumen erstmals auch jenen einen Platz ein, denen eine Geschichte und Stimme bisher verweigert wurden. Gemeinsam mit Mädchen stellen sie in Simoné Goldschmidt-Lechners Debütroman Messer, Zungen nun laut die Frage nach Herkunft und »Heimat« und danach, welche Geschichten es braucht, um dem Vergessen zu entrinnen.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Michael Wolf warnt, dass Simone Goldschmidt-Lechners Geschichten auf kein Happy End zusteuern. Der Autorin geht es auch nicht darum, meint er. Eher möchte sie denen eine Stimme geben, die sonst keine haben, möchte falsche Vorstellungen von Südafrika zurechtrücken und eine "eigene Geschichte" aufschreiben, erläutert Wolf. Aus der "Suche nach einem Narrativ", die die Erzählerin im Buch unternimmt, indem sie ihre Herkunft erkundet, Vorfahren benennt, entsteht schließlich laut Rezensent ein "Bild der heutigen Cape Coloured Community".
© Perlentaucher Medien GmbH
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