Eine junge Frau bezieht ein winziges Zimmerchen im heruntergekommenen Morningside Heights. Das Jahr ist 1979, und S.H. kommt direkt aus der amerikanischen Provinz; daher ihr Spitzname: "Minnesota". Das wilde New York lockt, und sie, die Schriftstellerin werden will, genießt den Schmutz wie den Glanz, das turbulente Leben wie die Einsamkeit. Alles Neue saugt sie begierig in sich auf. So auch, durch die papierdünnen Wände zur Nachbarwohnung, die oft skurrilen Monologe und gesungenen Mantras ihrer Nachbarin: Lucy Brite, liest sie auf dem Klingelschild. Doch mit der Zeit wünscht sie, sie hätte nicht so genau hingehört. Immer dringlicher werden Lucys Gesänge, immer klagender. Von Misshandlung ist die Rede, von Gefangenschaft, von Kindstod, ja von Mord. Nach und nach wird die Nachbarin zu einer immer schrecklicheren Obsession. Bis eines Nachts ein dramatisches Ereignis in Minnesotas Wohnung Lucy Brite in Person auf den Plan ruft - und nun beginnt ein Geheimnis sich zu lüften...
Vierzig Jahre später erzählt die gealterte S.H., inzwischen eine anerkannte Schriftstellerin und Wissenschaftlerin, was davor und danach geschah: erzählt von Frauensolidarität und Männerwahn, von Liebe und Geschlechterkampf, von Gewalt und Versöhnung. Erzählt aber auch vom Mysterium der Zeit, von Erinnerung und Phantasie, von der Art und Weise, wie alles im Leben zu Geschichten wird, erzählt vom Erzählen. Und das mit einer unbändigen Lust daran, die uns wünschen lässt, das Buch wäre nie zu Ende.
Vierzig Jahre später erzählt die gealterte S.H., inzwischen eine anerkannte Schriftstellerin und Wissenschaftlerin, was davor und danach geschah: erzählt von Frauensolidarität und Männerwahn, von Liebe und Geschlechterkampf, von Gewalt und Versöhnung. Erzählt aber auch vom Mysterium der Zeit, von Erinnerung und Phantasie, von der Art und Weise, wie alles im Leben zu Geschichten wird, erzählt vom Erzählen. Und das mit einer unbändigen Lust daran, die uns wünschen lässt, das Buch wäre nie zu Ende.
Damals, Siri Hustvedt
Damals ist der Titel der Siri Hustvedt Neuerscheinung 2019. Der neue Roman handelt von einer jungen Frau vom Land, die 1979 nach New York aufbricht und dort ihre Erfahrungen mit Lust und Lastern der Großstadt macht.Die junge S.H., die den Spitznamen Minnesota trägt, lauscht den bizarren und zunehmend ominösen Monologen ihrer Nachbarin Lucy. Durch die dünnen Wände des baufälligen Hauses, bekommt S.H. das Leidklagen ihrer Nachbarin unweigerlich mit und schreibt es nieder. Schließlich möchte S.H. Schriftstellerin werden. Bis eines nachts Lucy in ihrer Not in das Apartment von S.H. stürmt und um Hilfe bittet…
40 Jahre nach diesem Ereignis stößt S.H. neben früheren nie fertiggestellten Manuskripten auf die Aufzeichnungen jener Zeit in ihrem alten Notebook. Schließlich stellt sie die Texte von damals neben die Erinnerungen, die sie an jede Zeit hat. Das Zusammentreffen der beiden Sichtweisen lässt die Zeit kollabieren und richtet die Bedeutung für die Gegenwart neu aus.
Klug und ergreifend: Siri Hustvedt Bücher
Siri Hustvedt Bücher sind klug und unterhaltsam und erzählen vom Weiblichsein in all seinen Facetten. So ist auch ihr neuer Roman Damals bis ins kleinste Detail ausgebaut, extrem klug, ergreifend und oft wahnsinnig lustig. Damit bringt der Roman Damals alles mit, was Siri Hustvedt für den Kreis der meist gelobten Autoren von heute qualifiziert hat. Insbesondere die Fehlbarkeit der Erinnerung, die Veränderlichkeit des Geschlecht, die Gewalt von Vätern, die Launen in der Sinneswahrnehmung, die unklare Grenze zwischen Ereignis und Gedanken, zwischen Vernunft und Verrücktheit, und unsere Abhängigkeit vom Ursprünglichen wie Sex, Liebe, Hunger und Wut thematisiert Siri Hustvedt gekonnt in ihrem Buch Damals.Autorin und Übersetzerin: Hustvedt Siri
Die US-amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt wurde am 19. Februar 1955 in Northfield, Minnesota als älteste von vier Töchtern eines norwegisch-amerikanischen Professors für Skandinavistik und einer norwegischen Einwanderin geboren. Das St. Olaf College in Northfield schloss sie 1977 mit B.A. in Geschichte ab. Ein Jahr später ging sie zum Studieren nach New York, wo sie 1979 den M.A. in Anglistik erwarb. Ihre Promotion zum Doktor der Philosophie erreichte sie 1986 mit ihrer Arbeit über Charles Dickens. 1981 lernte Siri Hustvedt den Schriftsteller Paul Auster kennen, den sie zwei Jahre später heiratete. Die beiden haben eine gemeinsame Tochter. Heute publiziert Siri Hustvedt erfolgreich Bücher und Essays und arbeitet als Übersetzerin aus dem Norwegischen.buecher-magazin.de"Ich bin daran interessiert, zu verstehen, wie sie und ich miteinander verwandt sind", schreibt die 61-jährige Siri Hustvedt über ihr 23-jähriges jüngeres Selbst. Bei einem Umzug findet sie das Tagebuch ihres ersten Jahres in New York. Damals, als sie jung war und Minnesota genannt wurde, schreibt sie an ihrem ersten Roman, pilgert zu Dichterlesungen, feiert mit ihrer Freundin Whitney im Studio 54 und ist zeitweise so pleite, dass sie in Abfalleimern nach ihrem Abendessen sucht. Mit einem Stethoskop an der Wand transkribiert S. H. die Lucy-Brite-Monologe - und rätselt mit ihrer Clique, der Fünferbande, wie die exzessiven Selbstgespräche ihrer Nachbarin zu deuten sind. Ständige Begleiterin wird nach einem Übergriff die Baroness, ein 14-cm-Stiletto-Springmesser - getauft nach ihrer geistigen Leitfigur Elsa von Freytag-Lothringen. Vergangenheit und Gegenwart verschieben sich ineinander, denn während Hustvedt ihre Erinnerungen mit den Aufzeichnungen abgleicht und reflektiert, wird sie mit dem zerfallenden Kurzzeitgedächtnis ihrer 93-jährigen Mutter konfrontiert. Diese vergisst die Gegenwart und zieht sich in die Vergangenheit zurück, ihre Tochter folgt ihr auch dorthin. Siri Hustvedt erfindet ihre eigene introspektive Detektivin, die durch die Zeit reist, um wieder eins zu werden in der vierten Dimension.
© BÜCHERmagazin, Tina Schraml (ts)
© BÜCHERmagazin, Tina Schraml (ts)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.06.2019Nimm das, blasierter Philosophieprofessor!
Sex ohne Sex: Siri Hustvedt erkundet in "Damals" das New York der Siebziger
Als ihre pflegebedürftige Mutter umziehen muss, entdeckt die Erzählerin im Frühjahr 2017 unter den vielen Dingen, die sortiert werden sollen, ein Schreibheft. Es stammt von ihr selbst, sie führte darin eine Art Tagebuch, als sie im Herbst 1978 nach New York kam, 23 Jahre alt und ein Universitätsstipendium für den nächsten Sommer in der Tasche. Sie erinnert sich an das einfache Apartment mit den papierdünnen Wänden, die Nachbarin Lucy, die nebenan mit sich selbst in unterschiedlichen Stimmlagen spricht und seltsamen Besuch empfängt, an Männer, an die Begegnung mit der schönen Whitney, die zur Freundin fürs Leben wurde, an bitteren Hunger, an Demütigungen und Gewalt und an Lektüren, die sich tief einprägen.
Manches davon steht in dem Heft, manches fügt die Erinnerung hinzu, anderes war der vierzig Jahre älteren Erzählerin längst entfallen, so dass sie es liest wie den Bericht einer Fremden und gelegentlich auch so kommentiert. Hinzu kommt das Fragment eines Romans um einen jugendlichen Detektiv namens Ian Feathers, den die Studentin ins selbe Heft schreibt, den sie mit Whitney diskutiert und den schließlich auch die Erzählerin zur Kenntnis nimmt, alles im selben Roman, aber typographisch unterschieden.
Wer also spricht? Natürlich sollen wir die Erzählerin nicht mit der Autorin verwechseln, trotz auffälliger Analogien wie der des Lebensalters oder der gemeinsamen Initialen "S. H." (die aber auch Sherlock Holmes trägt, auf den sich wiederum Ian Feathers beruft), denn dafür gibt die Erzählerin Hinweise auf biographische Details, die dem widersprechen, was wir von der Autorin wissen: Der Mann von S. H. heißt nicht Paul, sondern Walter, er ist kein berühmter Schriftsteller, sondern Physiker, die gemeinsame Tochter ist zwar im Alter von Sophie Auster und bringt bald eine Platte heraus, trägt hier aber den Namen Freya - Distanzierungssignale der schlichteren Art also, die immer als Spiel mit dem Leser durchgehen, die biographische Leimrute auslegen und zugleich davor warnen, sich von ihr einfangen zu lassen.
Das alles ist nicht sonderlich innovativ, muss es natürlich auch nicht sein, solange die Autorin ihr Spiel so spielt, dass man sich gern darauf einlässt. Der Anreiz dafür ist hier die Idee der wandernden Motive: Schon früh stimmt die Erzählerin darauf ein, indem sie eine Geschichte um einen Helden beginnt, der dann von einem zweiten abgelöst und in die Bedeutungslosigkeit verbannt wird, sie spricht von Figuren, die aus einer Geschichte in die andere wandern, eine Technik, die dann auch dieser Roman aufweist - auf der Ebene der Figuren ist das vor allem die mittlerweile fast berühmte Baroness und Dada-Künstlerin Elsa von Freytag-Loringhoven (1874 bis 1927). Anfangs ist sie der Gegenstand einer Archivrecherche der von ihr faszinierten Studentin, im Verlauf des Romans huscht sie immer wieder durchs Bild, am Ende ist sie eine äußerst präsente Figur in einer sich auflösenden Realität.
An ihr wird auch die Gewalt gespiegelt, die Männer Frauen gegenüber ausüben, was in diesem Roman sowohl auf der Ebene von 1978/79 großen Raum einnimmt wie in den Rückblicken der damaligen Figuren und vierzig Jahre später auch der Erzählerin.
Diese Gewalt ist physisch, und die Beispiele dafür sind bedrückend - von der geschlagenen, gedemütigten Lucy über die blutende Patientin des Vaters, deren Leid die junge S. H. mit ansehen muss, bis zu ihr selbst, die dann ein Messer bei sich trägt, das sie "Baroness" nennt. Einmal wird sie es einsetzen müssen. Die Gewalt ist aber auch verbal und trifft S. H. von Männern wie von Frauen gleichermaßen. Am Schluss rekapituliert die Erzählerin noch einmal die Sätze, die sie im Lauf der Zeit verletzt haben, die mangelndes Zutrauen in ihre Fähigkeiten ausdrückten und sie kleinmachen sollten.
Für die Erzählerin gehört auf bedrückende Weise das Geschehen aus ihrer Kindheit, der Studentenzeit und der amerikanischen Gegenwart von Trumps Amerika "im Zeitalter des Hasses" zusammen. Der jungen S. H. öffnet die selbsternannte Hexe Patty die Augen mit dem Satz: "Die Welt liebt starke Männer und hasst starke Frauen", und 2017 stiftet die Erzählerin dann einen Zusammenhang zwischen dem Mord an einem kleinen Mädchen, das aus dem Fenster geschubst wurde, und der Behandlung, die Hillary Clinton im Präsidentenwahlkampf erlebte.
So, nämlich die Grenze zur allzu schlichten Analogie überschreitend, sind leider viele Passagen des Buches, die beschreibenden wie die essayistischen. "Das Gedächtnis ist nicht nur unzuverlässig. Es ist porös", liest man oder: "Die Schreibende ist jemand anderes" als die Alltagsperson. Wenn die Freundinnen im "Studio 54" tanzen, ohne den ein New-York-Roman, der in dieser Zeit spielt, kaum auskommt, genießen sie die "berauschenden Rhythmen, die Sex ohne Sex sind, das, was die Griechen ekstatisch nannten, Außersichtreten" - und obwohl man den Gedanken an dieser Stelle durchaus verstanden zu haben glaubt, geht es immer weiter: "an einen anderen Ort, nicht mehr bei sich sein, emporgehoben und hinausgetragen in die Pluralität und Grenzenlosigkeit" und was der verbrauchten Worte mehr sind.
"Es ist leicht, das vergangene Selbst lächerlich zu machen", sagt die Erzählerin. Bei ihr muss man sich da allerdings keine Sorgen machen. Ihr jüngeres Ich ist so klug, dass es Gedichte in drei Sprachen rezitiert, einfach so, oder spontan einen blasierten Philosophieprofessor in Grund und Boden redet, und so schön, dass die Männer reihenweise den Verstand verlieren, wenn sie nur den Fuß vor die Tür setzt. Das schlaue jüngere Ich gerät nicht - wie alle anderen Zuhörer - in den Bann des Betrügers Paul de Man, sondern ist ihm gegenüber schon misstrauisch, als die Aufdeckung seiner Machenschaften noch Jahre auf sich warten lässt.
Dazu kommt ein "Leseeifer", der sich zur "Obsession" steigert, und überhaupt finden sich die Klischees gehäuft immer dann, wenn es ums Lesen geht, wenn die Bibliotheken als Ort der Gleichzeitigkeit beschworen werden oder das Glück, "ganz still" zu sein, sich "in den Sessel zurückzulehnen und uns in ihr Leben hineinzulesen", in das der Romanfiguren.
S. H. sei damals nach New York gegangen auf der Suche nach einer Romanfigur, heißt es am Ende, dabei hätte sie diese doch schon mitgebracht. Vielleicht zielt das auf die dichtende Gräfin, vielleicht auf die jüngere S. H., zu dieser Zeit naturgemäß die älteste Inkarnation der Autorin. Dass es mit dem Finden allein leider nicht getan ist, teilt sich ebenfalls mit.
TILMAN SPRECKELSEN
Siri Hustvedt: "Damals". Roman.
Mit Zeichnungen der
Autorin. Aus dem
Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2019. 448 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sex ohne Sex: Siri Hustvedt erkundet in "Damals" das New York der Siebziger
Als ihre pflegebedürftige Mutter umziehen muss, entdeckt die Erzählerin im Frühjahr 2017 unter den vielen Dingen, die sortiert werden sollen, ein Schreibheft. Es stammt von ihr selbst, sie führte darin eine Art Tagebuch, als sie im Herbst 1978 nach New York kam, 23 Jahre alt und ein Universitätsstipendium für den nächsten Sommer in der Tasche. Sie erinnert sich an das einfache Apartment mit den papierdünnen Wänden, die Nachbarin Lucy, die nebenan mit sich selbst in unterschiedlichen Stimmlagen spricht und seltsamen Besuch empfängt, an Männer, an die Begegnung mit der schönen Whitney, die zur Freundin fürs Leben wurde, an bitteren Hunger, an Demütigungen und Gewalt und an Lektüren, die sich tief einprägen.
Manches davon steht in dem Heft, manches fügt die Erinnerung hinzu, anderes war der vierzig Jahre älteren Erzählerin längst entfallen, so dass sie es liest wie den Bericht einer Fremden und gelegentlich auch so kommentiert. Hinzu kommt das Fragment eines Romans um einen jugendlichen Detektiv namens Ian Feathers, den die Studentin ins selbe Heft schreibt, den sie mit Whitney diskutiert und den schließlich auch die Erzählerin zur Kenntnis nimmt, alles im selben Roman, aber typographisch unterschieden.
Wer also spricht? Natürlich sollen wir die Erzählerin nicht mit der Autorin verwechseln, trotz auffälliger Analogien wie der des Lebensalters oder der gemeinsamen Initialen "S. H." (die aber auch Sherlock Holmes trägt, auf den sich wiederum Ian Feathers beruft), denn dafür gibt die Erzählerin Hinweise auf biographische Details, die dem widersprechen, was wir von der Autorin wissen: Der Mann von S. H. heißt nicht Paul, sondern Walter, er ist kein berühmter Schriftsteller, sondern Physiker, die gemeinsame Tochter ist zwar im Alter von Sophie Auster und bringt bald eine Platte heraus, trägt hier aber den Namen Freya - Distanzierungssignale der schlichteren Art also, die immer als Spiel mit dem Leser durchgehen, die biographische Leimrute auslegen und zugleich davor warnen, sich von ihr einfangen zu lassen.
Das alles ist nicht sonderlich innovativ, muss es natürlich auch nicht sein, solange die Autorin ihr Spiel so spielt, dass man sich gern darauf einlässt. Der Anreiz dafür ist hier die Idee der wandernden Motive: Schon früh stimmt die Erzählerin darauf ein, indem sie eine Geschichte um einen Helden beginnt, der dann von einem zweiten abgelöst und in die Bedeutungslosigkeit verbannt wird, sie spricht von Figuren, die aus einer Geschichte in die andere wandern, eine Technik, die dann auch dieser Roman aufweist - auf der Ebene der Figuren ist das vor allem die mittlerweile fast berühmte Baroness und Dada-Künstlerin Elsa von Freytag-Loringhoven (1874 bis 1927). Anfangs ist sie der Gegenstand einer Archivrecherche der von ihr faszinierten Studentin, im Verlauf des Romans huscht sie immer wieder durchs Bild, am Ende ist sie eine äußerst präsente Figur in einer sich auflösenden Realität.
An ihr wird auch die Gewalt gespiegelt, die Männer Frauen gegenüber ausüben, was in diesem Roman sowohl auf der Ebene von 1978/79 großen Raum einnimmt wie in den Rückblicken der damaligen Figuren und vierzig Jahre später auch der Erzählerin.
Diese Gewalt ist physisch, und die Beispiele dafür sind bedrückend - von der geschlagenen, gedemütigten Lucy über die blutende Patientin des Vaters, deren Leid die junge S. H. mit ansehen muss, bis zu ihr selbst, die dann ein Messer bei sich trägt, das sie "Baroness" nennt. Einmal wird sie es einsetzen müssen. Die Gewalt ist aber auch verbal und trifft S. H. von Männern wie von Frauen gleichermaßen. Am Schluss rekapituliert die Erzählerin noch einmal die Sätze, die sie im Lauf der Zeit verletzt haben, die mangelndes Zutrauen in ihre Fähigkeiten ausdrückten und sie kleinmachen sollten.
Für die Erzählerin gehört auf bedrückende Weise das Geschehen aus ihrer Kindheit, der Studentenzeit und der amerikanischen Gegenwart von Trumps Amerika "im Zeitalter des Hasses" zusammen. Der jungen S. H. öffnet die selbsternannte Hexe Patty die Augen mit dem Satz: "Die Welt liebt starke Männer und hasst starke Frauen", und 2017 stiftet die Erzählerin dann einen Zusammenhang zwischen dem Mord an einem kleinen Mädchen, das aus dem Fenster geschubst wurde, und der Behandlung, die Hillary Clinton im Präsidentenwahlkampf erlebte.
So, nämlich die Grenze zur allzu schlichten Analogie überschreitend, sind leider viele Passagen des Buches, die beschreibenden wie die essayistischen. "Das Gedächtnis ist nicht nur unzuverlässig. Es ist porös", liest man oder: "Die Schreibende ist jemand anderes" als die Alltagsperson. Wenn die Freundinnen im "Studio 54" tanzen, ohne den ein New-York-Roman, der in dieser Zeit spielt, kaum auskommt, genießen sie die "berauschenden Rhythmen, die Sex ohne Sex sind, das, was die Griechen ekstatisch nannten, Außersichtreten" - und obwohl man den Gedanken an dieser Stelle durchaus verstanden zu haben glaubt, geht es immer weiter: "an einen anderen Ort, nicht mehr bei sich sein, emporgehoben und hinausgetragen in die Pluralität und Grenzenlosigkeit" und was der verbrauchten Worte mehr sind.
"Es ist leicht, das vergangene Selbst lächerlich zu machen", sagt die Erzählerin. Bei ihr muss man sich da allerdings keine Sorgen machen. Ihr jüngeres Ich ist so klug, dass es Gedichte in drei Sprachen rezitiert, einfach so, oder spontan einen blasierten Philosophieprofessor in Grund und Boden redet, und so schön, dass die Männer reihenweise den Verstand verlieren, wenn sie nur den Fuß vor die Tür setzt. Das schlaue jüngere Ich gerät nicht - wie alle anderen Zuhörer - in den Bann des Betrügers Paul de Man, sondern ist ihm gegenüber schon misstrauisch, als die Aufdeckung seiner Machenschaften noch Jahre auf sich warten lässt.
Dazu kommt ein "Leseeifer", der sich zur "Obsession" steigert, und überhaupt finden sich die Klischees gehäuft immer dann, wenn es ums Lesen geht, wenn die Bibliotheken als Ort der Gleichzeitigkeit beschworen werden oder das Glück, "ganz still" zu sein, sich "in den Sessel zurückzulehnen und uns in ihr Leben hineinzulesen", in das der Romanfiguren.
S. H. sei damals nach New York gegangen auf der Suche nach einer Romanfigur, heißt es am Ende, dabei hätte sie diese doch schon mitgebracht. Vielleicht zielt das auf die dichtende Gräfin, vielleicht auf die jüngere S. H., zu dieser Zeit naturgemäß die älteste Inkarnation der Autorin. Dass es mit dem Finden allein leider nicht getan ist, teilt sich ebenfalls mit.
TILMAN SPRECKELSEN
Siri Hustvedt: "Damals". Roman.
Mit Zeichnungen der
Autorin. Aus dem
Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2019. 448 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.04.2019Hier ein zeitloses Kernselbst
Die Schriftstellerin Siri Hustvedt testet ihre intellektuellen Einsichten in verschiedenen Genres. In ihrem Roman „Damals“ und dem Essayband „Eine Frau schaut
auf Männer, die auf Frauen schauen“ denkt sie weiter über ihr zentrales Thema nach: die Gebundenheit des Denkens an den Körper
VON MEIKE FESSMANN
Eine nackte Frau fliegt fast senkrecht in den Himmel, mit weit geöffneten Armen, verzücktem Gesicht und gezücktem Messer. Im Hintergrund, ungefähr auf der Höhe ihrer behaarten Scham, erkennt man die Spitze des Empire State Building. Die kleine, beinahe naive, auf jeden Fall aber glückselige Zeichnung begleitet neben anderen Zeichnungen der Autorin den neuen Roman von Siri Hustvedt. Im gerade erschienenen Original heißt er „Memories of the Future“, in der deutschen Übersetzung von Uli Aumüller und Grete Osterwald „Damals“. Der Rowohlt Verlag hat die Zeichnung, die am Ende des Romans abgedruckt ist, wie im amerikanischen Original aufs Cover gehoben, zusätzlich aber in ein orange unterlegtes, eiförmiges Passepartout gepackt. Das passt.
Siri Hustvedt, 1955 in Minnesota geboren und seit vielen Jahren in Brooklyn lebend, hat ein Werk geschaffen, dessen intellektuelle Brillanz eng mit einem umfassenden Konzept von Leiblichkeit verbunden ist. Auf verschiedensten Wegen hat sie erkundet, wie sich der Dualismus von Geist und Körper überwinden lässt. Dass er selbst in den Neurowissenschaften noch regiert, die dazu neigen, das Gehirn zum Subjekt zu erklären, statt es als Organ zu behandeln, zeigt sie in einem der komplexen und zugleich gut verständlichen Texte ihres Sammelbandes. „Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen“ enthält „Essays über Kunst, Geschlecht und Geist“ aus den Jahren 2011 – 2015.
Siri Hustvedt fährt schon lange zweigleisig, was ihr literarisches und ihr essayistisches Schreiben betrifft. Sie versteht den Roman explizit als „wunderbares Vehikel für neue Ideen“. Das schreibt sie in „Die Illusion der Gewissheit“, einem großen Essay über das Geist-Körper-Problem, der auf Deutsch schon 2016 erschienen ist – als eine Art Single-Auskopplung aus der amerikanischen Originalausgabe von „A Woman Looking at Men Looking at Women.“ Auch den Roman „Damals“ sollte man als solch ein Vehikel betrachten, um Vergnügen daran zu haben.
Hustvedt liebt es, ihre intellektuellen Einsichten in verschiedenen Konstellationen durchzuspielen und auf ihre Haltbarkeit zu überprüfen. Ihr letzter Roman, „Die gleißende Welt“, war eine Art Performance in Romanform. An einer Louise Bourgeois nachgebildeten Künstlerin führte sie da vor, wie stark der Kunstmarkt immer noch von Männern und ihren Werken dominiert wird, die viel teurer gehandelt werden als die von Frauen.
„Damals“ ist eine autofiktionale Selbsterkundung. Siri Hustvedt nimmt ihr junges Ich in Augenschein. Und sie spielt dabei Philosopheme durch, die sie seit Jahren beschäftigen. Zum Beispiel die Idee, dass es keine Erinnerung ohne Imagination gibt, und dass jedes Aufrufen einer Erinnerung diese zugleich modifiziert. Zumal sie an der jungen Frau, die sie selbst war, einiges verändert (die Anzahl der Schwestern, den Beruf des Vaters), kann sie sich also darauf verlassen, dass die hochgewachsene Dreiundzwanzigjährige, die im Sommer 1978 von Minnesota nach New York kommt, nicht mit ihr selbst identisch ist.
Im Lauf unseres Lebens werden wir jemand anderes. Was aber bleibt gleich? Gibt es einen inneren Kern, ein „körperliches, affektives, zeitloses Kernselbst“, wie Siri Hustvedt das nennt? In welchem Verhältnis steht es zum „zeitlichen Selbst“, wie es sich in der Narration und im autobiografischen Gedächtnis artikuliert?
Hustvedt arbeitet an einer weiblichen Sicht der Wissensgeschichte, in der be-stimmte Phänomene bisher unterbelichtet sind. Beispielsweise die Tatsache, dass der Mensch sein Leben eben nicht in heroischer Einsamkeit beginnt, wie die Philosophiegeschichte glauben machen will, sondern im Leib der Mutter und nach der Geburt in ständiger, zunächst nonverbaler Zwiesprache mit ihr oder einem nahen anderen.
Die Plazenta als übersehenes Organ hat vor ihr schon Peter Sloterdijk im ersten Band seiner „Sphären“-Trilogie entdeckt. Dort ist sie das erste taktile Gegenüber in der embryonalen Entwicklung, das gemeinsam mit dem werdenden Säugling in der Resonanzblase des Uterus schwebt, in der die Bewegungen und Geräusche des Mutterleibs die erste Erfahrung einer geschützten Sphäre bilden. Von seiner bisher größten philosophischen Entdeckung ist Sloterdijk mittlerweile weit abgedriftet.
Eine Schriftstellerin wie Siri Hustvedt hat dagegen stärkere Gründe, das Konfliktfeld zwischen Resonanzphänomenen und Geltungsbedürfnissen als unteilbares Terrain zu betrachten. Sie ist mit dem Schriftsteller Paul Auster verheiratet. Und es kann ihr schon mal passieren, dass sie auf einer Abendgesellschaft gefragt wird, ob sie ihre profunden Kenntnisse in Neurologie ihrem Mann zu verdanken habe. Oder dass der Schriftstellerkollege Karl Ove Knausgård auf offener Bühne zu ihr sagt, Frauen seien „keine Konkurrenz“.
Hustvedt gehört zu den wenigen Menschen, die sich aus eigenem Antrieb einen interdisziplinären Überblick über verschiedene Fachgebiete erarbeitet haben. Seit ihrem Buch „Die zitternde Frau. Die Geschichte meiner Nerven“, in dem sie quer durch unterschiedliche Forschungsgebiete dem merkwürdigen Zittern auf die Spur kommen wollte, das sie zum ersten Mal im Mai 2006 bei einer Gedenkrede auf ihren zwei Jahre zuvor gestorbenen Vater ergriff, wird sie als Vortragende zu neurologischen und psychiatrischen Fachkongressen eingeladen. Auch „Damals“ ist ein Mosaikstein in der Geschichte ihrer Wissbegierde – und zugleich ein Roman über männliche Herablassung und Gewalttätigkeit.
Von wenigen Zeitsprüngen bis in die Gegenwart der Trump-Ära abgesehen, spielt „Damals“ in der Spanne eines guten Jahres, von August 1978 bis September 1979. Die aufs damalige „Jetzt“ konzentrierte Geschichte ist angelegt wie eine Guckkastenbühne, deren Komplexität zunimmt. Das kann man sich wie Louise Bourgeois’ „Cells“ vorstellen. In gewisser Weise ist sie ganz von innen heraus erzählt, wohl mit dem Blick der älteren Frau auf ihr junges Ich, aber im Versuch, die Innenwelt einer Frau nachzubilden, die aus dem ländlichen Minnesota ins Abenteuer New York aufbricht. Ihr Stipendium hat sie um ein Jahr verschoben, um ihren ersten Roman zu schreiben, eine Detektivgeschichte um zwei Jugendliche, die sie niemals abschließen wird. Lebt die junge S. H., wie die Erzählerin ihren Namen abkürzt, zunächst alleine in ihrem Appartement und belauscht die Stimme ihrer Nachbarin, die offenbar Schlimmes hinter sich hat, so verwandelt sich das akustische Höhlengleichnis bald in ein Porträt der jungen Frau inmitten der intellektuellen und erotischen Verlockungen New Yorks Ende der 70er-Jahre.
Bei einer Lesung des näselnden John Ashbery lernt sie Whitney kennen, eine Künstlerin und Dichterin, die sie auch in andere „Privaträume“ führt. Schnell erweitert sich ihr Radius, schon geht es in Galerien, zu Vorlesungen, die Nächte tanzt sie im Studio 54 und in anderen Clubs durch. Koks kommt nicht infrage, Alkohol ebenso wenig. Sie hat nicht einmal genug Geld, um sich Essen zu kaufen. Aber sie ist jung und neugierig, und sie hat wie ihre Freundin das natürliche Selbstvertrauen einer Frau, die sich sicher ist, dass die Welt auf sie wartet. Zunächst sind es vor allem die Männer. Meist starren sie auf ihren Busen, wenn sie spricht. Und irgendwann begreift sie, vielleicht auch nur durch das Bewusstsein ihres älteren Ichs, dass sie nicht wirklich an ihrem Intellekt interessiert sind, sondern an ihrem Körper.
Ihre Liebhaber schwadronieren über Foucault, Derrida, Deleuze und Guattari und es ist selbstverständlich für sie, sich in die Bücher zu vertiefen. Aber seltsam, umgekehrt interessieren sich die an den Lippen Paul de Mans hängenden, von Batailles Überschreitungsgesten faszinierten Heroen überhaupt nicht für das, was sie interessiert.
Schließlich kommt es zu einer Beinahe-Vergewaltigung in ihrer Wohnung. Weil sie den Mann, von dem sie nur den Vornamen kennt, nicht demütigen will, lässt sie sich Stufe für Stufe von einer Party heimbegleiten. Erst ins Taxi, dann bis zur Haustür und schließlich bis zur Wohnung – und schon ist er drin. Auf ihre Bitte, wieder zu gehen, reagiert er nicht. „Doch selbst auf Deutsch zitiert, hilft Wittgenstein rein gar nichts, wenn ein Mann dich gegen eine Bücherwand schleudert.“ Wochenlang geht ihr das Erlebnis nach. Erst als sie die „verbalen Waffen“ gegen ein Springmesser tauscht, fühlt sie sich wieder sicher. Es beschert ihr ein „wildes, rohes, gefährliches Glücksgefühl“. Offenbar ist es das Messer, das die Frau auf dem Cover verzückt in den Himmel reckt.
Nicht nur in ihren Romanen, auch in ihren Essays vertritt Siri Hustvedt eine Weltsicht, in der die Leiblichkeit des wahrnehmenden und denkenden Subjekts die Voraussetzung für jede Art von Intelligenz und Kreativität ist. Dabei kombiniert sie die Erkenntnisse der Phänomenologie mit neurowissenschaftlichen Forschungen. Über Molekulargenetik und Epigenetik denkt sie ebenso nach wie über die Tatsache, dass Emotionen niemals fiktiv sein können, auch wenn wir sie empfinden, während wir ein fiktives Werk lesen. In den Debatten über künstliche Intelligenz ist ihre Position klar: gleichgültig, mit wie vielen Daten man vernetzte Rechner oder humanoide Roboter füttert, sie bleiben ein „armseliges Gerät“, das Gefühle zwar vortäuschen, aber nicht empfinden kann.
In seinem neuen Buch „Die Mechanik der Leidenschaften“ über den Aufstieg der kognitiven Neurowissenschaft seit den 1990er-Jahren widmet der Soziologe Alain Ehrenberg Siri Hustvedts neurologischer Selbsterkundung ein eigenes Kapitel. „Die zitternde Frau“ ist womöglich ihr wirkmächtigstes Buch: eine Verbindung zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften, die durch den eigenen Körper verläuft.
Kann passieren, dass sie gefragt
wird, ob sie ihre Kenntnisse
ihrem Mann zu verdanken habe
Koks kommt nicht infrage, sie
hat nicht einmal genug Geld, sich
Essen zu kaufen. Aber sie ist jung
Emotionen sind nicht fiktiv, auch
wenn wir sie beim Lesen
eines fiktiven Werks empfinden
Siri Hustvedt: Damals. Roman. Mit Zeichnungen der Autorin.
Aus dem Englischen
von Uli Aumüller und Grete Osterwald.
Rowohlt Verlag,
Reinbek 2019.
448 Seiten, 24 Euro.
Siri Hustvedt: Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen.
Essays über Kunst,
Geschlecht und Geist.
Aus dem Englischen
von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt Verlag, Reinbek 2019.
528 Seiten, 26 Euro.
„Doch selbst auf Deutsch zitiert, hilft Wittgenstein rein gar nichts, wenn ein Mann dich gegen eine Bücherwand schleudert.“ In ihrem jüngsten Roman blickt Siri Hustvedt, geboren 1955, auf sich selbst als junge Frau. Foto: mauritius / Martina Bocch
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Die Schriftstellerin Siri Hustvedt testet ihre intellektuellen Einsichten in verschiedenen Genres. In ihrem Roman „Damals“ und dem Essayband „Eine Frau schaut
auf Männer, die auf Frauen schauen“ denkt sie weiter über ihr zentrales Thema nach: die Gebundenheit des Denkens an den Körper
VON MEIKE FESSMANN
Eine nackte Frau fliegt fast senkrecht in den Himmel, mit weit geöffneten Armen, verzücktem Gesicht und gezücktem Messer. Im Hintergrund, ungefähr auf der Höhe ihrer behaarten Scham, erkennt man die Spitze des Empire State Building. Die kleine, beinahe naive, auf jeden Fall aber glückselige Zeichnung begleitet neben anderen Zeichnungen der Autorin den neuen Roman von Siri Hustvedt. Im gerade erschienenen Original heißt er „Memories of the Future“, in der deutschen Übersetzung von Uli Aumüller und Grete Osterwald „Damals“. Der Rowohlt Verlag hat die Zeichnung, die am Ende des Romans abgedruckt ist, wie im amerikanischen Original aufs Cover gehoben, zusätzlich aber in ein orange unterlegtes, eiförmiges Passepartout gepackt. Das passt.
Siri Hustvedt, 1955 in Minnesota geboren und seit vielen Jahren in Brooklyn lebend, hat ein Werk geschaffen, dessen intellektuelle Brillanz eng mit einem umfassenden Konzept von Leiblichkeit verbunden ist. Auf verschiedensten Wegen hat sie erkundet, wie sich der Dualismus von Geist und Körper überwinden lässt. Dass er selbst in den Neurowissenschaften noch regiert, die dazu neigen, das Gehirn zum Subjekt zu erklären, statt es als Organ zu behandeln, zeigt sie in einem der komplexen und zugleich gut verständlichen Texte ihres Sammelbandes. „Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen“ enthält „Essays über Kunst, Geschlecht und Geist“ aus den Jahren 2011 – 2015.
Siri Hustvedt fährt schon lange zweigleisig, was ihr literarisches und ihr essayistisches Schreiben betrifft. Sie versteht den Roman explizit als „wunderbares Vehikel für neue Ideen“. Das schreibt sie in „Die Illusion der Gewissheit“, einem großen Essay über das Geist-Körper-Problem, der auf Deutsch schon 2016 erschienen ist – als eine Art Single-Auskopplung aus der amerikanischen Originalausgabe von „A Woman Looking at Men Looking at Women.“ Auch den Roman „Damals“ sollte man als solch ein Vehikel betrachten, um Vergnügen daran zu haben.
Hustvedt liebt es, ihre intellektuellen Einsichten in verschiedenen Konstellationen durchzuspielen und auf ihre Haltbarkeit zu überprüfen. Ihr letzter Roman, „Die gleißende Welt“, war eine Art Performance in Romanform. An einer Louise Bourgeois nachgebildeten Künstlerin führte sie da vor, wie stark der Kunstmarkt immer noch von Männern und ihren Werken dominiert wird, die viel teurer gehandelt werden als die von Frauen.
„Damals“ ist eine autofiktionale Selbsterkundung. Siri Hustvedt nimmt ihr junges Ich in Augenschein. Und sie spielt dabei Philosopheme durch, die sie seit Jahren beschäftigen. Zum Beispiel die Idee, dass es keine Erinnerung ohne Imagination gibt, und dass jedes Aufrufen einer Erinnerung diese zugleich modifiziert. Zumal sie an der jungen Frau, die sie selbst war, einiges verändert (die Anzahl der Schwestern, den Beruf des Vaters), kann sie sich also darauf verlassen, dass die hochgewachsene Dreiundzwanzigjährige, die im Sommer 1978 von Minnesota nach New York kommt, nicht mit ihr selbst identisch ist.
Im Lauf unseres Lebens werden wir jemand anderes. Was aber bleibt gleich? Gibt es einen inneren Kern, ein „körperliches, affektives, zeitloses Kernselbst“, wie Siri Hustvedt das nennt? In welchem Verhältnis steht es zum „zeitlichen Selbst“, wie es sich in der Narration und im autobiografischen Gedächtnis artikuliert?
Hustvedt arbeitet an einer weiblichen Sicht der Wissensgeschichte, in der be-stimmte Phänomene bisher unterbelichtet sind. Beispielsweise die Tatsache, dass der Mensch sein Leben eben nicht in heroischer Einsamkeit beginnt, wie die Philosophiegeschichte glauben machen will, sondern im Leib der Mutter und nach der Geburt in ständiger, zunächst nonverbaler Zwiesprache mit ihr oder einem nahen anderen.
Die Plazenta als übersehenes Organ hat vor ihr schon Peter Sloterdijk im ersten Band seiner „Sphären“-Trilogie entdeckt. Dort ist sie das erste taktile Gegenüber in der embryonalen Entwicklung, das gemeinsam mit dem werdenden Säugling in der Resonanzblase des Uterus schwebt, in der die Bewegungen und Geräusche des Mutterleibs die erste Erfahrung einer geschützten Sphäre bilden. Von seiner bisher größten philosophischen Entdeckung ist Sloterdijk mittlerweile weit abgedriftet.
Eine Schriftstellerin wie Siri Hustvedt hat dagegen stärkere Gründe, das Konfliktfeld zwischen Resonanzphänomenen und Geltungsbedürfnissen als unteilbares Terrain zu betrachten. Sie ist mit dem Schriftsteller Paul Auster verheiratet. Und es kann ihr schon mal passieren, dass sie auf einer Abendgesellschaft gefragt wird, ob sie ihre profunden Kenntnisse in Neurologie ihrem Mann zu verdanken habe. Oder dass der Schriftstellerkollege Karl Ove Knausgård auf offener Bühne zu ihr sagt, Frauen seien „keine Konkurrenz“.
Hustvedt gehört zu den wenigen Menschen, die sich aus eigenem Antrieb einen interdisziplinären Überblick über verschiedene Fachgebiete erarbeitet haben. Seit ihrem Buch „Die zitternde Frau. Die Geschichte meiner Nerven“, in dem sie quer durch unterschiedliche Forschungsgebiete dem merkwürdigen Zittern auf die Spur kommen wollte, das sie zum ersten Mal im Mai 2006 bei einer Gedenkrede auf ihren zwei Jahre zuvor gestorbenen Vater ergriff, wird sie als Vortragende zu neurologischen und psychiatrischen Fachkongressen eingeladen. Auch „Damals“ ist ein Mosaikstein in der Geschichte ihrer Wissbegierde – und zugleich ein Roman über männliche Herablassung und Gewalttätigkeit.
Von wenigen Zeitsprüngen bis in die Gegenwart der Trump-Ära abgesehen, spielt „Damals“ in der Spanne eines guten Jahres, von August 1978 bis September 1979. Die aufs damalige „Jetzt“ konzentrierte Geschichte ist angelegt wie eine Guckkastenbühne, deren Komplexität zunimmt. Das kann man sich wie Louise Bourgeois’ „Cells“ vorstellen. In gewisser Weise ist sie ganz von innen heraus erzählt, wohl mit dem Blick der älteren Frau auf ihr junges Ich, aber im Versuch, die Innenwelt einer Frau nachzubilden, die aus dem ländlichen Minnesota ins Abenteuer New York aufbricht. Ihr Stipendium hat sie um ein Jahr verschoben, um ihren ersten Roman zu schreiben, eine Detektivgeschichte um zwei Jugendliche, die sie niemals abschließen wird. Lebt die junge S. H., wie die Erzählerin ihren Namen abkürzt, zunächst alleine in ihrem Appartement und belauscht die Stimme ihrer Nachbarin, die offenbar Schlimmes hinter sich hat, so verwandelt sich das akustische Höhlengleichnis bald in ein Porträt der jungen Frau inmitten der intellektuellen und erotischen Verlockungen New Yorks Ende der 70er-Jahre.
Bei einer Lesung des näselnden John Ashbery lernt sie Whitney kennen, eine Künstlerin und Dichterin, die sie auch in andere „Privaträume“ führt. Schnell erweitert sich ihr Radius, schon geht es in Galerien, zu Vorlesungen, die Nächte tanzt sie im Studio 54 und in anderen Clubs durch. Koks kommt nicht infrage, Alkohol ebenso wenig. Sie hat nicht einmal genug Geld, um sich Essen zu kaufen. Aber sie ist jung und neugierig, und sie hat wie ihre Freundin das natürliche Selbstvertrauen einer Frau, die sich sicher ist, dass die Welt auf sie wartet. Zunächst sind es vor allem die Männer. Meist starren sie auf ihren Busen, wenn sie spricht. Und irgendwann begreift sie, vielleicht auch nur durch das Bewusstsein ihres älteren Ichs, dass sie nicht wirklich an ihrem Intellekt interessiert sind, sondern an ihrem Körper.
Ihre Liebhaber schwadronieren über Foucault, Derrida, Deleuze und Guattari und es ist selbstverständlich für sie, sich in die Bücher zu vertiefen. Aber seltsam, umgekehrt interessieren sich die an den Lippen Paul de Mans hängenden, von Batailles Überschreitungsgesten faszinierten Heroen überhaupt nicht für das, was sie interessiert.
Schließlich kommt es zu einer Beinahe-Vergewaltigung in ihrer Wohnung. Weil sie den Mann, von dem sie nur den Vornamen kennt, nicht demütigen will, lässt sie sich Stufe für Stufe von einer Party heimbegleiten. Erst ins Taxi, dann bis zur Haustür und schließlich bis zur Wohnung – und schon ist er drin. Auf ihre Bitte, wieder zu gehen, reagiert er nicht. „Doch selbst auf Deutsch zitiert, hilft Wittgenstein rein gar nichts, wenn ein Mann dich gegen eine Bücherwand schleudert.“ Wochenlang geht ihr das Erlebnis nach. Erst als sie die „verbalen Waffen“ gegen ein Springmesser tauscht, fühlt sie sich wieder sicher. Es beschert ihr ein „wildes, rohes, gefährliches Glücksgefühl“. Offenbar ist es das Messer, das die Frau auf dem Cover verzückt in den Himmel reckt.
Nicht nur in ihren Romanen, auch in ihren Essays vertritt Siri Hustvedt eine Weltsicht, in der die Leiblichkeit des wahrnehmenden und denkenden Subjekts die Voraussetzung für jede Art von Intelligenz und Kreativität ist. Dabei kombiniert sie die Erkenntnisse der Phänomenologie mit neurowissenschaftlichen Forschungen. Über Molekulargenetik und Epigenetik denkt sie ebenso nach wie über die Tatsache, dass Emotionen niemals fiktiv sein können, auch wenn wir sie empfinden, während wir ein fiktives Werk lesen. In den Debatten über künstliche Intelligenz ist ihre Position klar: gleichgültig, mit wie vielen Daten man vernetzte Rechner oder humanoide Roboter füttert, sie bleiben ein „armseliges Gerät“, das Gefühle zwar vortäuschen, aber nicht empfinden kann.
In seinem neuen Buch „Die Mechanik der Leidenschaften“ über den Aufstieg der kognitiven Neurowissenschaft seit den 1990er-Jahren widmet der Soziologe Alain Ehrenberg Siri Hustvedts neurologischer Selbsterkundung ein eigenes Kapitel. „Die zitternde Frau“ ist womöglich ihr wirkmächtigstes Buch: eine Verbindung zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften, die durch den eigenen Körper verläuft.
Kann passieren, dass sie gefragt
wird, ob sie ihre Kenntnisse
ihrem Mann zu verdanken habe
Koks kommt nicht infrage, sie
hat nicht einmal genug Geld, sich
Essen zu kaufen. Aber sie ist jung
Emotionen sind nicht fiktiv, auch
wenn wir sie beim Lesen
eines fiktiven Werks empfinden
Siri Hustvedt: Damals. Roman. Mit Zeichnungen der Autorin.
Aus dem Englischen
von Uli Aumüller und Grete Osterwald.
Rowohlt Verlag,
Reinbek 2019.
448 Seiten, 24 Euro.
Siri Hustvedt: Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen.
Essays über Kunst,
Geschlecht und Geist.
Aus dem Englischen
von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt Verlag, Reinbek 2019.
528 Seiten, 26 Euro.
„Doch selbst auf Deutsch zitiert, hilft Wittgenstein rein gar nichts, wenn ein Mann dich gegen eine Bücherwand schleudert.“ In ihrem jüngsten Roman blickt Siri Hustvedt, geboren 1955, auf sich selbst als junge Frau. Foto: mauritius / Martina Bocch
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Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Rezensentin Verena Lueken hat sich von Siri Hustvedt ins wunderbare Reich der Fiktion entführen lassen, in dem "Wissen, Erlebtes, Erlesenes und Gefühl" eins werden. Dabei folgt sie der Schriftstellerin voller Bewunderung, wenn sie sich als Sechzigjährige an die junge Frau erinnert, die 1978 nach New York kam, um die Zukunft zu erobern. Lueken gefällt Hustvedts Spiel mit den Identitäten, mit Rollenzuweisungen und Spiegelungen, sie folgt den verschiedenen Erzählsträngen und -ebenen mühelos und wechselt zwischendurch auch noch zu Hustvedts Essays, in denen sie das gleiche Nachdenken über falsche Gegenüberstellungen - Inhalt und Form, Gefühl und Vernunft, Körper und Seele, Mann und Frau - findet, wie in diesen Erinnerungen an die Zukunft von einst.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Wo waren wir, wo werden wir sein? Große Fragen, eindringlich literarisch beantwortet. Ute Büsing RBB Inforadio "Quergelesen" 20190407