Von der Kunst loszulassen
Verzeihen heißt dem Wort nach: Verzicht auf Vergeltung. Wer verzeiht, bezichtigt nicht länger andere für das eigene Leid, sinnt nicht auf Rache oder juristische Genugtuung, sondern lässt es gut sein. Aber wie ist ein derartiges Loslassen möglich, das weder gerecht noch ökonomisch noch logisch ist? Lässt sich das Böse verzeihen? Führt das Verzeihen zu Heilung, gar Versöhnung - oder ereignet es sich jenseits allen Zwecks? Ausgehend von eigenen Erfahrungen ergründet die Philosophin Svenja Flaßpöhler, unter welchen Bedingungen ein Schuldenschnitt im moralischen Sinne gelingen kann. Sie spricht mit Menschen, denen sich angesichts schwerster Schuld die Frage des Verzeihens in aller Dringlichkeit stellt, und sucht nach Antworten in der Philosophie.
Verzeihen heißt dem Wort nach: Verzicht auf Vergeltung. Wer verzeiht, bezichtigt nicht länger andere für das eigene Leid, sinnt nicht auf Rache oder juristische Genugtuung, sondern lässt es gut sein. Aber wie ist ein derartiges Loslassen möglich, das weder gerecht noch ökonomisch noch logisch ist? Lässt sich das Böse verzeihen? Führt das Verzeihen zu Heilung, gar Versöhnung - oder ereignet es sich jenseits allen Zwecks? Ausgehend von eigenen Erfahrungen ergründet die Philosophin Svenja Flaßpöhler, unter welchen Bedingungen ein Schuldenschnitt im moralischen Sinne gelingen kann. Sie spricht mit Menschen, denen sich angesichts schwerster Schuld die Frage des Verzeihens in aller Dringlichkeit stellt, und sucht nach Antworten in der Philosophie.
buecher-magazin.deAls Svenja Flaßpöhler 14 Jahre alt war, verließ ihre Mutter die Familie und brach den Kontakt ab. Das offenbart die stellvertretende Chefredakteurin des "Philosophie Magazins" in ihrer aktuellen Publikation "Verzeihen". Diese Erfahrung mit einer abwesenden, reuelosen Mutter verleiht Flaßpöhlers Text einen sehr persönlichen Zug, schafft eine Balance zwischen Theorie und greifbarer eigener Emotionalität: Die Bewältigung ihres Schmerzes hat Fragen aufgeworfen, denen sie sich nun nähert. Sie zieht unter anderem Philosophen wie Jacques Derrida, Hannah Arendt, Friedrich Nietzsche, Peter Sloterdijk und Georges Bataille zurate. Triebfeder für ihr Schreiben ist die Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Verzeihens: Verzeihen ist bedingungslos, ein Verzicht auf Vergeltung. Doch andererseits soll der Täter doch auch bereuen, oder nicht? Sie liefert auf all ihre aufgeworfenen Fragen tiefsinnige, undogmatische Antworten, denn Flaßpöhler hat keinen Ratgeber geschrieben. Sie fragt sich eher: Heißt verzeihen verstehen, lieben, vergessen? Sie hat außerdem mit Menschen gesprochen, die mit schwerer Schuld umgehen müssen oder denen Grausames angetan wurde. Eine bewegend aufbereitete, detaillierte und sprachlich verständliche Abhandlung.
© BÜCHERmagazin, Jeanne Wellnitz (jw)
© BÜCHERmagazin, Jeanne Wellnitz (jw)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.05.2016Möglicherweise hat sich in ihren Eingeweiden ein Kampf abgespielt
Narratives Philosophieren: Svenja Flaßpöhler denkt über das Verzeihen nach und verknüpft dies mit Gesprächen und einer Innenschau
Schrieben nicht schon Augustinus und Rousseau "Bekenntnisse"? Und rät man nicht Journalisten, Gefühlskonflikte, wie sie nur das Leben kennt, durch Äußerungen von Betroffenen zu illustrieren? Svenja Flaßpöhler, Journalistin und promovierte Philosophin, folgt beiden Winken. Herausgekommen ist eine Art Unterhaltungsbüchlein, irgendwo zwischen Proseminar und Küchenpsychologie.
Wie ein Prolog zunächst deutlich macht - und ein Epilog mit versöhnlicher Schlussszene erzählerisch abrundet -, schlägt die Autorin sich nicht nur in der Theorie, sondern auch ganz persönlich mit der Frage des Verzeihens herum. Anlass ist das Erlebnis, dass ihre Mutter ihre Familie und also auch sie selbst, als kleines Kind noch, verließ. Nach wie vor nimmt die Tochter der inzwischen fremd gewordenen Frau den Weggang übel. Freilich bleibt die persönliche Anekdote eigentlich eher ein Aufhänger. Denn vor allem will Flaßpöhler in ihrem Buch "das philosophische Spektrum des Themas auffächern". Zudem werden zwischendurch Fallbeispiele vorgestellt: in Gestalt von drei als Reportage aufbereiteten Gesprächen sowie mittels einer Rückerinnerung an die 2005 öffentlich diskutierte Aussage der Auschwitz-Überlebenden Eva Mozes Kor, die ihrem Peiniger, dem KZ-Arzt Josef Mengele, und "den Nazis" ihre ganz persönliche "Amnestie" erteilte.
Verzeihen ist ein Gegenstand, der es tatsächlich in sich hat: Es ist in seinen Vollzugweisen schwer zu fassen - es kann stillschweigend, explizit, auf eine Bitte hin oder spontan geschehen. Und auch in seinen Folgen bleibt es vertrackt. Verzeihen mobilisiert Dank, der aber nichts entgelten kann, es begründet neuerliche Verpflichtung, und ob es etwas vergessen macht, wen es erleichtert - es ist nicht leicht zu sagen. So entpuppt sich das Verzeihen als durch und durch asymmetrisches, zugleich für das Zusammenleben unverzichtbares Phänomen.
Für die Philosophie aufgearbeitet wurde dies in einem Werk des Philosophen Klaus-Michael Kodalle, "Verzeihen denken" (Wilhelm Fink Verlag, 2013). Kodalle hat lange Jahre zum Verzeihen gearbeitet und recherchiert. Etliche der bei ihm referierten Autoren - Arendt, Celan, Derrida, Jankélévitch, Levinas, Nietzsche, Ricoeur - greift Svenja Flaßpöhler deutlich kürzer und in neu durchmischter Form auf. Flaßpöhler, die Kodalles Buch nicht anspricht, sondern nur im Anhang einmal streift, ordnet ihre Überlegungen unter drei vergleichsweise einfache Leitfragen: Heißt verzeihen verstehen, heißt es lieben, heißt es vergessen? Hierzu werden locker gehaltene Theoriereferate mit dem persönlichen Erzählstrang verknüpft, und je eine Reportage wird angebunden, die Extremsituationen beleuchtet: Gespräch mit der Mutter eines Amoklauf-Opfers von Winnenden, Gespräch mit einer Gruppe von Strafgefangenen in der Justizvollzugsanstalt Tegel, Gespräch mit zwei Holocaust-Überlebenden.
Wir lernen auf diese Weise in theoretischer Hinsicht nicht viel, besichtigen aber einige der Facetten des Phänomens. Was sich beim Lesen aber durchgehend in den Vordergrund schiebt, ist der Sound einer Art des Hin- und Her-Pendelns: einerseits dezente Belehrung ("Derartige Fragen führen tief hinein in die philosophische Diskussion um den freien Willen", "Schauen wir also genauer hin, was Derrida mit diesem denkwürdigen Satz meint"), andererseits intim gehaltener, betont subjektiver Bericht ("möglicherweise hat sich in meinen Eingeweiden ein Kampf abgespielt"; "je länger wir miteinander sprachen, desto verrückter spielten meine Synapsen").
Die Pointe scheint dann darin zu liegen, dass wir die Botschaften eines philosophischen Diktums im Leben sollen wiederfinden können. Parallel zum inneren Monolog aus Klassikerzitaten bekommt die Autorin augenscheinlich - so jedenfalls für uns Leser aufbereitet - durch Philosophie ihr Leben in den Griff. Das wirkt teils ungewollt komisch ("Wende auch ich das aktive Vergessen an, von dem Nietzsche spricht? Ich will mich nicht mehr erinnern, will stattdessen mein Baby genießen"). Teils werden einem schlichtweg Kurzschlüsse untergejubelt ("Im Umgang mit dem hochverschuldeten Griechenland" finde Nietzsches "Äquivalenzdenken" Anwendung), teils produziert Trivialisierung Fehler (Kants "Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen!" paraphrasiert der Satz: "Stelle dich, wenn es dir richtig erscheint, gegen die Masse der Konformisten!" gerade nicht).
So sind die überzeugendsten Passagen des Buchs letztlich die Gesprächsberichte, von Flaßpöhler "narratives Philosophieren" genannt. Der Zugang mittels Reportage bewährt sich am Gegenstand besser als die mitlaufende Innenschau, deren überbetontes Anliegen es ist, "Philosophie" illustrieren zu sollen. Mag sein, dass die Bekenntnistonlage bei Lesern, die gern ins Lebenshilfe- und Ratgeberregal greifen, gut ankommt. Wer dagegen zwischen den plaudernd gerahmten Zitaten den philosophischen roten Faden vermisst, dem sei das genannte Buch von Kodalle empfohlen. Von den drei Gesprächen abgesehen, die Flaßpöhler selbst geführt hat, findet man auch die Fallbeispiele, etwa Eva Mozez Kor, bei ihm, dort aber eben verbunden mit einem handfesten Zugriff auf das Verzeihen als philosophischen Gegenstand.
PETRA GEHRING
Svenja Flaßpöhler:
"Verzeihen".
Vom Umgang mit Schuld.
Deutsche Verlagsanstalt, München 2016.
224 S., geb., 17,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Narratives Philosophieren: Svenja Flaßpöhler denkt über das Verzeihen nach und verknüpft dies mit Gesprächen und einer Innenschau
Schrieben nicht schon Augustinus und Rousseau "Bekenntnisse"? Und rät man nicht Journalisten, Gefühlskonflikte, wie sie nur das Leben kennt, durch Äußerungen von Betroffenen zu illustrieren? Svenja Flaßpöhler, Journalistin und promovierte Philosophin, folgt beiden Winken. Herausgekommen ist eine Art Unterhaltungsbüchlein, irgendwo zwischen Proseminar und Küchenpsychologie.
Wie ein Prolog zunächst deutlich macht - und ein Epilog mit versöhnlicher Schlussszene erzählerisch abrundet -, schlägt die Autorin sich nicht nur in der Theorie, sondern auch ganz persönlich mit der Frage des Verzeihens herum. Anlass ist das Erlebnis, dass ihre Mutter ihre Familie und also auch sie selbst, als kleines Kind noch, verließ. Nach wie vor nimmt die Tochter der inzwischen fremd gewordenen Frau den Weggang übel. Freilich bleibt die persönliche Anekdote eigentlich eher ein Aufhänger. Denn vor allem will Flaßpöhler in ihrem Buch "das philosophische Spektrum des Themas auffächern". Zudem werden zwischendurch Fallbeispiele vorgestellt: in Gestalt von drei als Reportage aufbereiteten Gesprächen sowie mittels einer Rückerinnerung an die 2005 öffentlich diskutierte Aussage der Auschwitz-Überlebenden Eva Mozes Kor, die ihrem Peiniger, dem KZ-Arzt Josef Mengele, und "den Nazis" ihre ganz persönliche "Amnestie" erteilte.
Verzeihen ist ein Gegenstand, der es tatsächlich in sich hat: Es ist in seinen Vollzugweisen schwer zu fassen - es kann stillschweigend, explizit, auf eine Bitte hin oder spontan geschehen. Und auch in seinen Folgen bleibt es vertrackt. Verzeihen mobilisiert Dank, der aber nichts entgelten kann, es begründet neuerliche Verpflichtung, und ob es etwas vergessen macht, wen es erleichtert - es ist nicht leicht zu sagen. So entpuppt sich das Verzeihen als durch und durch asymmetrisches, zugleich für das Zusammenleben unverzichtbares Phänomen.
Für die Philosophie aufgearbeitet wurde dies in einem Werk des Philosophen Klaus-Michael Kodalle, "Verzeihen denken" (Wilhelm Fink Verlag, 2013). Kodalle hat lange Jahre zum Verzeihen gearbeitet und recherchiert. Etliche der bei ihm referierten Autoren - Arendt, Celan, Derrida, Jankélévitch, Levinas, Nietzsche, Ricoeur - greift Svenja Flaßpöhler deutlich kürzer und in neu durchmischter Form auf. Flaßpöhler, die Kodalles Buch nicht anspricht, sondern nur im Anhang einmal streift, ordnet ihre Überlegungen unter drei vergleichsweise einfache Leitfragen: Heißt verzeihen verstehen, heißt es lieben, heißt es vergessen? Hierzu werden locker gehaltene Theoriereferate mit dem persönlichen Erzählstrang verknüpft, und je eine Reportage wird angebunden, die Extremsituationen beleuchtet: Gespräch mit der Mutter eines Amoklauf-Opfers von Winnenden, Gespräch mit einer Gruppe von Strafgefangenen in der Justizvollzugsanstalt Tegel, Gespräch mit zwei Holocaust-Überlebenden.
Wir lernen auf diese Weise in theoretischer Hinsicht nicht viel, besichtigen aber einige der Facetten des Phänomens. Was sich beim Lesen aber durchgehend in den Vordergrund schiebt, ist der Sound einer Art des Hin- und Her-Pendelns: einerseits dezente Belehrung ("Derartige Fragen führen tief hinein in die philosophische Diskussion um den freien Willen", "Schauen wir also genauer hin, was Derrida mit diesem denkwürdigen Satz meint"), andererseits intim gehaltener, betont subjektiver Bericht ("möglicherweise hat sich in meinen Eingeweiden ein Kampf abgespielt"; "je länger wir miteinander sprachen, desto verrückter spielten meine Synapsen").
Die Pointe scheint dann darin zu liegen, dass wir die Botschaften eines philosophischen Diktums im Leben sollen wiederfinden können. Parallel zum inneren Monolog aus Klassikerzitaten bekommt die Autorin augenscheinlich - so jedenfalls für uns Leser aufbereitet - durch Philosophie ihr Leben in den Griff. Das wirkt teils ungewollt komisch ("Wende auch ich das aktive Vergessen an, von dem Nietzsche spricht? Ich will mich nicht mehr erinnern, will stattdessen mein Baby genießen"). Teils werden einem schlichtweg Kurzschlüsse untergejubelt ("Im Umgang mit dem hochverschuldeten Griechenland" finde Nietzsches "Äquivalenzdenken" Anwendung), teils produziert Trivialisierung Fehler (Kants "Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen!" paraphrasiert der Satz: "Stelle dich, wenn es dir richtig erscheint, gegen die Masse der Konformisten!" gerade nicht).
So sind die überzeugendsten Passagen des Buchs letztlich die Gesprächsberichte, von Flaßpöhler "narratives Philosophieren" genannt. Der Zugang mittels Reportage bewährt sich am Gegenstand besser als die mitlaufende Innenschau, deren überbetontes Anliegen es ist, "Philosophie" illustrieren zu sollen. Mag sein, dass die Bekenntnistonlage bei Lesern, die gern ins Lebenshilfe- und Ratgeberregal greifen, gut ankommt. Wer dagegen zwischen den plaudernd gerahmten Zitaten den philosophischen roten Faden vermisst, dem sei das genannte Buch von Kodalle empfohlen. Von den drei Gesprächen abgesehen, die Flaßpöhler selbst geführt hat, findet man auch die Fallbeispiele, etwa Eva Mozez Kor, bei ihm, dort aber eben verbunden mit einem handfesten Zugriff auf das Verzeihen als philosophischen Gegenstand.
PETRA GEHRING
Svenja Flaßpöhler:
"Verzeihen".
Vom Umgang mit Schuld.
Deutsche Verlagsanstalt, München 2016.
224 S., geb., 17,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Petra Gehrin emphiehlt ein Werk des Philosophen Klaus-Michael Kodalle zum Thema Verzeihen, anstelle der vorliegenden Arbeit von Svenja Flaßpöhler. Die Autorin kommt ihr zu sehr ins Pendeln zwischen subjektivem Bericht und Belehrung. Ungewollt komisch scheinen der Rezensentin Flaßpöhlers philosophischen Bekenntnisse, Ratschläge und Kurzschlüsse. Auch mit Trivialisierungen verschont die Autorin den Leser nicht, und die vielen Zitate von Nietzsche bis Kant müssen ohne roten Faden auskommen, meint Gehrin. Am besten gefallen ihr noch Flaßpöhlers Berichte von Gesprächen mit Strafgefangenen und Holocaust-Überlebenden. Das Verzeihen als philosophisches Thema kommt ihr dabei jedoch viel zu kurz.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Sacht und klug (...). Feinsinnig und intelligent gewoben." Cicero