1916 wird Sylvie Schenks Mutter geboren, die Großmutter stirbt bei der Geburt. Angeblich war diese eine Seidenarbeiterin, wie schon die Urgroßmutter. Aber stimmt das? Und welche Geschichte wird den Nachkommenden mit auf den Weg gegeben? Als Kind leidet Sylvie Schenk unter dieser Unklarheit, als Schriftstellerin ist sie deshalb noch immer von großer Unruhe geprägt. Mit poetischer Präzision spürt sie den Fragen nach, die die eigene Familiengeschichte offenlässt.
»Diese Muttergeschichte ist eine der gleichermaßen lebendigsten, klügsten und berührendsten seit Langem.« Tagesspiegel
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.04.2023Zwischen
ihr und
der Welt
Die Schriftstellerin
Sylvie Schenk ist
noch immer schwer
unterschätzt.
In ihrem neuen Roman
erzählt sie von einem
fremdbestimmten
Leben – dem Leben
ihrer Mutter
Irgendwann im Laufe des Schreibprozesses schickt die Ich-Erzählerin von Sylvie Schenks neuem Roman ihrer jüngsten Schwester Lisa Auszüge aus ihrem aktuellen Manuskript. Zu ihrer Überraschung reagiert Lisa eher gereizt: Ob sie, die Schriftstellerin, ihre Mutter tatsächlich nur als Opfer sehe, fragt sie. Ob sie ihr wirklich nur eine Opferstimme geben wolle? Sie setzt dem Text ihre eigenen Erinnerungen entgegen, liebevolle Hilfen im Alltag, die Zubereitung von heißem Kakao nach der Schule.
Die Ich-Erzählerin ist verblüfft und überlegt dann: Ja, „die steife, gleichgültige Mutter war also beim jüngsten Kind weicher geworden, hatte mit Ende vierzig wieder Freude gespürt.“ Woran das gelegen haben könnte? Möglicherweise an dem Umstand, dass sie nicht mehr schwanger werden konnte, dass sie befreit war von der lästigen Pflicht des Gebärens und auch vom verabscheuten Körper ihres Ehemanns. Und dann endet dieses kurze, keine drei Seiten lange Kapitel mit einem Satz, der alldem wieder eine Wendung ins Dunkle verleiht: „Vielleicht hatte der Krebs schon angefangen zu wuchern.“
Die 1944 in Frankreich geborene, aber bereits seit knapp 60 Jahren in Deutschland lebende Schriftstellerin Sylvie Schenk umkreist ihre eigene Geschichte und die ihrer Familie in stets schmalen Romanen, jeweils aus einer anderen Perspektive und vor allem mit einem anderen thematischen Zugang. Was diese autofiktionalen Bücher miteinander verbindet, ist der Versuch, Herkunft, Prägung, Milieu, also das, was derzeit etwas allzu vorschnell „Klasse“ genannt wird, erzählerisch zu erfassen.
Das Verfahren, das Sylvie Schenk dabei anwendet, ist dem ihrer um vier Jahre älteren Schriftstellerkollegin Annie Ernaux durchaus ähnlich, doch unterscheidet Schenk sich in einer Hinsicht wesentlich von der Nobelpreisträgerin – Schenk hat Zweifel, sie tastet sich voran, lässt Ungewissheiten zu, auch im Hinblick auf ihr eigenes Weltbild. Das bedeutet im Umkehrschluss auch, dass Schenk die Lücken mit Erfindungen, mit Gedankenspielen, mit Möglichkeitsbruchstücken füllt, weswegen sie auf der Gattungsbezeichnung „Roman“ beharrt, auch wenn sie, wie in „Maman“, die Geschichte ihrer eigenen Mutter so präzise wie möglich zu rekonstruieren versucht.
Keines der Kapitel in „Maman“ ist länger als drei bis vier Seiten, doch in jedem einzelnen gibt es eine Pointe, eine überraschende Wendung oder mindestens einen Satz von einer frappierenden Härte, der deutlich macht, dass Sylvie Schenk letztendlich die Bilanz eines von den Zeitläuften und gesellschaftlichen Umständen verheerten Lebens zieht. Renée, die Mutter, kommt im Dezember 1916 zur Welt. Ihre Mutter wiederum, die Großmutter der Erzählerin, ist bereits Ende vierzig und stirbt bei der Geburt. Der Vater bleibt unbekannt.
Es bleibt offen, ob Großmutter tatsächlich als Arbeiterin in einer Seidenfabrik oder als Gelegenheitsprostituierte gearbeitet hat. Wahrscheinlich traf beides zu. Inmitten der ökonomischen Härten des Ersten Weltkriegs verbringt Renée ihre ersten Lebensjahre in einem staatlichen Heim, bevor sie bei einem Ehepaar auf einem Bauernhof untergebracht wird. Diesen Aufenthalt schildert Sylvie Schenk als eine Abfolge von traumatischen Erfahrungen: Der zähnefletschende Hund, der sie täglich bedroht; die Rinderherde, von der sie umgeworfen wird, wobei ihr die Nase bricht. Der Gestank, die Armut.
Woher die Erzählerin all das weiß? Recherche, aufblitzende Erinnerungen und Erzählungen der todkranken Mutter in den letzten Monaten ihres Lebens. Schenk steht beim Erzählen buchstäblich hinter ihren Figuren, blickt ihnen über die Schulter, beobachtet und stellt Vermutungen an. Im Alter von sechs Jahren kommt die Mutter zu einem großbürgerlichen Ehepaar nach Lyon. Dort wird sie tatsächlich geliebt und gehätschelt, doch all das kommt zu spät: „Sie hegt“, so heißt es, „der Welt der Erwachsenen gegenüber ein tiefes Misstrauen. Sie ist lieb, aber lieblos. Sie ist friedlich und spürt keinen inneren Frieden.“ Das Stigma ihrer Herkunft wird Renée Zeit ihres Lebens nicht los. Sie bleibt eine Außenseiterin mit einer fremdbestimmten Biografie.
Als sie heiratet, ist sie noch nicht volljährig. Sexualität widert sie an, aber sie gebiert sechs Kinder, von denen fünf überleben. Ein früher Ausbruchsversuch aus ihrer Ehe scheitert kläglich. Zwischen Renée und der Welt scheint so etwas wie eine dünne, durchsichtige Membran zu liegen. Eine Wand aus Minderwertigkeitsempfinden, errichtet aus Gefühlen wie Unvollkommenheit und Inkompatibilität.
„Maman“ ist ein packendes, kluges Buch, das die Epoche der 1940er- bis 1960er-Jahre ebenso scharf konturiert wie die Psyche seines Personals. Sylvie Schenk, die im kommenden Jahr 80 Jahre alt wird, wird noch immer unter Wert gehandelt. „Maman“ wäre eine weitere Chance, daran etwas zu ändern.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Sexualität widert sie an,
aber sie gebiert sechs Kinder,
von denen fünf überleben
Sylvie Schenk:
Maman.
Roman.
Carl Hanser Verlag,
München 2023.
176 Seiten,
22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
ihr und
der Welt
Die Schriftstellerin
Sylvie Schenk ist
noch immer schwer
unterschätzt.
In ihrem neuen Roman
erzählt sie von einem
fremdbestimmten
Leben – dem Leben
ihrer Mutter
Irgendwann im Laufe des Schreibprozesses schickt die Ich-Erzählerin von Sylvie Schenks neuem Roman ihrer jüngsten Schwester Lisa Auszüge aus ihrem aktuellen Manuskript. Zu ihrer Überraschung reagiert Lisa eher gereizt: Ob sie, die Schriftstellerin, ihre Mutter tatsächlich nur als Opfer sehe, fragt sie. Ob sie ihr wirklich nur eine Opferstimme geben wolle? Sie setzt dem Text ihre eigenen Erinnerungen entgegen, liebevolle Hilfen im Alltag, die Zubereitung von heißem Kakao nach der Schule.
Die Ich-Erzählerin ist verblüfft und überlegt dann: Ja, „die steife, gleichgültige Mutter war also beim jüngsten Kind weicher geworden, hatte mit Ende vierzig wieder Freude gespürt.“ Woran das gelegen haben könnte? Möglicherweise an dem Umstand, dass sie nicht mehr schwanger werden konnte, dass sie befreit war von der lästigen Pflicht des Gebärens und auch vom verabscheuten Körper ihres Ehemanns. Und dann endet dieses kurze, keine drei Seiten lange Kapitel mit einem Satz, der alldem wieder eine Wendung ins Dunkle verleiht: „Vielleicht hatte der Krebs schon angefangen zu wuchern.“
Die 1944 in Frankreich geborene, aber bereits seit knapp 60 Jahren in Deutschland lebende Schriftstellerin Sylvie Schenk umkreist ihre eigene Geschichte und die ihrer Familie in stets schmalen Romanen, jeweils aus einer anderen Perspektive und vor allem mit einem anderen thematischen Zugang. Was diese autofiktionalen Bücher miteinander verbindet, ist der Versuch, Herkunft, Prägung, Milieu, also das, was derzeit etwas allzu vorschnell „Klasse“ genannt wird, erzählerisch zu erfassen.
Das Verfahren, das Sylvie Schenk dabei anwendet, ist dem ihrer um vier Jahre älteren Schriftstellerkollegin Annie Ernaux durchaus ähnlich, doch unterscheidet Schenk sich in einer Hinsicht wesentlich von der Nobelpreisträgerin – Schenk hat Zweifel, sie tastet sich voran, lässt Ungewissheiten zu, auch im Hinblick auf ihr eigenes Weltbild. Das bedeutet im Umkehrschluss auch, dass Schenk die Lücken mit Erfindungen, mit Gedankenspielen, mit Möglichkeitsbruchstücken füllt, weswegen sie auf der Gattungsbezeichnung „Roman“ beharrt, auch wenn sie, wie in „Maman“, die Geschichte ihrer eigenen Mutter so präzise wie möglich zu rekonstruieren versucht.
Keines der Kapitel in „Maman“ ist länger als drei bis vier Seiten, doch in jedem einzelnen gibt es eine Pointe, eine überraschende Wendung oder mindestens einen Satz von einer frappierenden Härte, der deutlich macht, dass Sylvie Schenk letztendlich die Bilanz eines von den Zeitläuften und gesellschaftlichen Umständen verheerten Lebens zieht. Renée, die Mutter, kommt im Dezember 1916 zur Welt. Ihre Mutter wiederum, die Großmutter der Erzählerin, ist bereits Ende vierzig und stirbt bei der Geburt. Der Vater bleibt unbekannt.
Es bleibt offen, ob Großmutter tatsächlich als Arbeiterin in einer Seidenfabrik oder als Gelegenheitsprostituierte gearbeitet hat. Wahrscheinlich traf beides zu. Inmitten der ökonomischen Härten des Ersten Weltkriegs verbringt Renée ihre ersten Lebensjahre in einem staatlichen Heim, bevor sie bei einem Ehepaar auf einem Bauernhof untergebracht wird. Diesen Aufenthalt schildert Sylvie Schenk als eine Abfolge von traumatischen Erfahrungen: Der zähnefletschende Hund, der sie täglich bedroht; die Rinderherde, von der sie umgeworfen wird, wobei ihr die Nase bricht. Der Gestank, die Armut.
Woher die Erzählerin all das weiß? Recherche, aufblitzende Erinnerungen und Erzählungen der todkranken Mutter in den letzten Monaten ihres Lebens. Schenk steht beim Erzählen buchstäblich hinter ihren Figuren, blickt ihnen über die Schulter, beobachtet und stellt Vermutungen an. Im Alter von sechs Jahren kommt die Mutter zu einem großbürgerlichen Ehepaar nach Lyon. Dort wird sie tatsächlich geliebt und gehätschelt, doch all das kommt zu spät: „Sie hegt“, so heißt es, „der Welt der Erwachsenen gegenüber ein tiefes Misstrauen. Sie ist lieb, aber lieblos. Sie ist friedlich und spürt keinen inneren Frieden.“ Das Stigma ihrer Herkunft wird Renée Zeit ihres Lebens nicht los. Sie bleibt eine Außenseiterin mit einer fremdbestimmten Biografie.
Als sie heiratet, ist sie noch nicht volljährig. Sexualität widert sie an, aber sie gebiert sechs Kinder, von denen fünf überleben. Ein früher Ausbruchsversuch aus ihrer Ehe scheitert kläglich. Zwischen Renée und der Welt scheint so etwas wie eine dünne, durchsichtige Membran zu liegen. Eine Wand aus Minderwertigkeitsempfinden, errichtet aus Gefühlen wie Unvollkommenheit und Inkompatibilität.
„Maman“ ist ein packendes, kluges Buch, das die Epoche der 1940er- bis 1960er-Jahre ebenso scharf konturiert wie die Psyche seines Personals. Sylvie Schenk, die im kommenden Jahr 80 Jahre alt wird, wird noch immer unter Wert gehandelt. „Maman“ wäre eine weitere Chance, daran etwas zu ändern.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Sexualität widert sie an,
aber sie gebiert sechs Kinder,
von denen fünf überleben
Sylvie Schenk:
Maman.
Roman.
Carl Hanser Verlag,
München 2023.
176 Seiten,
22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensentin Judith von Sternburg ist beeindruckt von Sylvie Schenks Roman, in dem es unter anderem darum geht, wie Männer reagieren, wenn sie erfahren, dass ihre Freundinnen schwanger sind. Das Buch setzt bei der Großmutter der Erzählerin an, erfahren wir, die im 19. Jahrhundert in ärmlichen Verhältnissen lebt und eine Tochter in eine Pflegefamilie gibt. Diese Tochter, Renée, ist die Mutter Schenks, über deren Leben die Autorin hier schreibt, ohne, wie Sternburg ausführt, dabei ihre eigene Unsicherheit über die Wahrheit des Dargestellten zu verbergen. In ihrer Kindheit findet diese Renée bei anderen Kindern kaum Anschluss und auch später selten ein Verhältnis zu dem Leid, mit dem sie konfrontiert ist. Sternburg fühlt sich bisweilen an Annie Ernaux erinnert, doch kommt ihr diese tastende Auslotung der Erinnerung poetischer vor.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.06.2023Die Bosheit hat noch Milchzähne
Sylvie Schenk hat mit "Maman" ein faszinierendes literarisches Porträt ihrer Mutter geschaffen
Wie kann es sein, dass diese deutsche Autorin immer noch als Geheimtipp gilt? Mit ihren Büchern "Schnell, dein Leben" (2016) und "Eine gewöhnliche Familie" (2018) hatte sich Sylvie Schenk, geboren 1944 im französischen Chambéry, zuletzt im autofiktionalen Genre als Pendant zu Annie Ernaux profiliert, ohne uns über ihren höchst individuellen Zugang im Zweifel zu lassen: fragmentarisch wie die Erinnerung, skeptisch gegen das eigene Ressentiment, zweifelnd an der eigenen Rolle im Familienspiel und am Schreibtisch, präzise, klug und voll Witz, hart und doch zart. Am Anfang von "Maman", der Geschichte ihrer Mutter, weiß die Erzählerin nicht, ob das, was sie schreibt, ein Roman sein wird, doch sie weiß: "Es wird ein approximativer Text." Aber weil Sylvie Schenk ihre Annäherung vollzieht, indem sie die Lücken der Überlieferung und des Gedächtnisses mittels Imagination und Einfühlung füllt, kommt eben doch ein Roman heraus.
"Sie war ein stummer Mensch mit blauen Augen und einem Verstand, der damit beschäftigt war, seine Mängel zu kaschieren." Ein solcher Satz über die eigene Mutter ist unerhört, mag die Ich-Erzählerin auch noch so glaubwürdig betonen, sie "habe sie geliebt, wie man ein seltsames Wesen liebt, das zu einem gehört, ein Geheimnis, das man bewahrt". Doch Sylvie Schenk hat sich nun einmal für Klartext entschieden, sie verzichtet auf den biographischen Weichzeichner, und "Geheimnis" ist ein Schlüsselwort des Romans: Dass die Herkunft der Renée Gagnieux im Dunkeln lag, auch für sie selbst, dass das Rätsel darum die Kindheit der fünf Geschwister verdüstert und "das Leben meiner Mutter ausgehöhlt hat, eine mittelalterliche Tropffolter", setzt für die Tochter Recherche und Selbstbefragung in Gang: "Mamans Leben und mein Leben sind miteinander verflochten wie zwei unterschiedlich gefärbte Wollfäden im schlecht gestrickten Pullover einer Penelope, die auf sich selbst wartet."
Renée ist diese Penelope, die auf sich selbst wartet, lebenslang und vergeblich. Sie strickt mit mechanischer Hingabe, liest, wenn überhaupt, Trivialliteratur, macht sich nichts aus Wandern und Schifahren, ihr Mann, kein Odysseus, sondern Zahnarzt aus gutem Hause, unternimmt seine Touren allein. Das Paar ist von Lyon in die Berge gezogen, nach Gap in Hautes-Alpes. Die Geschwister erinnern sich später an einen ganz mit sich selbst beschäftigten Vater und an eine lieblose und gleichgültige Mutter, die "keine Moral" hatte, aber zwei eherne Prinzipien der Erziehung: nur ja nicht zu spät zum Essen kommen und nur ja kein uneheliches Kind kriegen! Das entspricht durchaus dem Comme-il-faut der bürgerlichen Familie, doch bei Renée steckt mehr dahinter: Sie ist ein Adoptivkind, was ihre dünkelhaften Schwiegereltern sie zeit ihres Lebens spüren lassen. Und sie kennt nicht einmal den Namen ihrer Mutter, geschweige denn den ihres Vaters.
Da setzt die Erzählerin mit ihrer (sub-)proletarischen Genealogie der alleinerziehenden Mütter an, mit Renées Großmutter, der arbeitslosen Seidenweberin aus Lyon, die ihre uneheliche Tochter Cécile durchbringen muss und irgendwann auf dem Strich landet wie viele und später auch Cécile, die bei der Geburt ihrer Tochter Renée am 29. Dezember 1916 stirbt. Das Mädchen durchläuft die traurige Karriere einer Waise, kommt zu hartherzigen Bauern in Pflege, ehe sie mit sechs das große Los zieht: eine liebevolle und geduldige Adoptivmutter, einen freundlichen Adoptivvater. Renées Urvertrauen in die Welt ist freilich erschüttert, die Schule überfordert sie, für ihre Mitschüler ist sie die Idiotin: "Sie lachen, die Bosheit hat noch Milchzähne." Schenk schildert ein diffuses Fremdheitsgefühl, das Bewusstsein einer untilgbaren fundamentalen Minderwertigkeit, aus dem heraus die Ehe mit einem einsilbigen, etwas gehemmten Zahnarzt als Ausweg erscheint.
Tatsächlich gerät Renée in die freudlose Fron ehelicher Pflichten: Die Tochter erkennt in der erzwungenen sexuellen Gemeinschaft mit dem Vater einen Hauptgrund für das Unglück der Mutter. Erst mit der Geburt der Nachzüglerin Lisa spielt Renée sich frei und kann sich diesem Kind ganz anders zuwenden. Was sie über ihrer Herkunft weiß, bleibt unklar: "Sah sie sich selbst als Schandfleck, als Sprössling einer Hure?"
Da ist der unzulänglich verborgene Hass der Mutter gegen den Vater, aber auch "ein tiefes, andauerndes Grollen". In kurzen Kapiteln mit prägnanten Überschriften ("Die Unglückliche", "Merci, Madame", "Das Mädchen ohne Talente") zeichnet die Tochter sie scharfsichtig als ein "angerichtetes Wesen. Als habe man ihre Seele und ihren Körper in den ersten sechs Jahren zum Schweigen gebracht. Danach wurde zwar eine Notreparatur vorgenommen. Das Wesentliche hatte man aber nicht wiederherstellen können."
Stets ist die Erzählerin nahe dran an ihren Figuren, ohne sich selbst als - imaginierte oder teilnehmende - Beobachterin aus der Szenerie auszusparen. So betont sie das Gemachte, Kalkulierte, Subjektive ihrer Geschichte. Ihre Schwestern, denen sie Teile zu lesen gibt, werfen ihr vor, die Mutter bloß als Opfer zu sehen. So bemüht sie sich darum, auch das Positive wahrzunehmen, eine Leerstelle zu füllen, sie zitiert Racine: "'Jede Erfindung besteht darin, aus nichts etwas zu machen.' Will ich das? Ich schöpfe doch ständig aus dem Nichts. Ich mache ihr einen luftigen Sarg aus Worten." Letztlich entscheidet Sylvie Schenk sich gegen das Luftige und für das Handfeste, ganz ohne Rührseligkeit, dafür umso rührender, sie widmet sich der nur oberflächlich honetten Damenrunde der Mutter, ihrem ominösen Fehltritt, den man Fauxpas nennt, dem späten Aufeinanderzugehen während ihrer Krebserkrankung. Zuletzt ist das Buch für sie "meine erste und letzte Umarmung. Schreiben. Streicheln. Festhalten."
Sylvie Schenk erzählt in diesem Porträt nicht nur eindringlich von bourgeoiser Verlogenheit und Entmündigung, sondern auch von französischem Klassendenken und Gesinnungskollaboration im Zweiten Weltkrieg, vom komplizenhaften Schweigen der Frauen und vom Schweigen der Sieger, die sich mit ihrer Scham hinter dem Nimbus der Résistance versteckten. Und nicht zuletzt vom Eigensinn einer jungen Schriftstellerin in kunstfeindlicher Umgebung. DANIELA STRIGL
Sylvie Schenk: "Maman". Roman.
Hanser Verlag,
München 2023. 173 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sylvie Schenk hat mit "Maman" ein faszinierendes literarisches Porträt ihrer Mutter geschaffen
Wie kann es sein, dass diese deutsche Autorin immer noch als Geheimtipp gilt? Mit ihren Büchern "Schnell, dein Leben" (2016) und "Eine gewöhnliche Familie" (2018) hatte sich Sylvie Schenk, geboren 1944 im französischen Chambéry, zuletzt im autofiktionalen Genre als Pendant zu Annie Ernaux profiliert, ohne uns über ihren höchst individuellen Zugang im Zweifel zu lassen: fragmentarisch wie die Erinnerung, skeptisch gegen das eigene Ressentiment, zweifelnd an der eigenen Rolle im Familienspiel und am Schreibtisch, präzise, klug und voll Witz, hart und doch zart. Am Anfang von "Maman", der Geschichte ihrer Mutter, weiß die Erzählerin nicht, ob das, was sie schreibt, ein Roman sein wird, doch sie weiß: "Es wird ein approximativer Text." Aber weil Sylvie Schenk ihre Annäherung vollzieht, indem sie die Lücken der Überlieferung und des Gedächtnisses mittels Imagination und Einfühlung füllt, kommt eben doch ein Roman heraus.
"Sie war ein stummer Mensch mit blauen Augen und einem Verstand, der damit beschäftigt war, seine Mängel zu kaschieren." Ein solcher Satz über die eigene Mutter ist unerhört, mag die Ich-Erzählerin auch noch so glaubwürdig betonen, sie "habe sie geliebt, wie man ein seltsames Wesen liebt, das zu einem gehört, ein Geheimnis, das man bewahrt". Doch Sylvie Schenk hat sich nun einmal für Klartext entschieden, sie verzichtet auf den biographischen Weichzeichner, und "Geheimnis" ist ein Schlüsselwort des Romans: Dass die Herkunft der Renée Gagnieux im Dunkeln lag, auch für sie selbst, dass das Rätsel darum die Kindheit der fünf Geschwister verdüstert und "das Leben meiner Mutter ausgehöhlt hat, eine mittelalterliche Tropffolter", setzt für die Tochter Recherche und Selbstbefragung in Gang: "Mamans Leben und mein Leben sind miteinander verflochten wie zwei unterschiedlich gefärbte Wollfäden im schlecht gestrickten Pullover einer Penelope, die auf sich selbst wartet."
Renée ist diese Penelope, die auf sich selbst wartet, lebenslang und vergeblich. Sie strickt mit mechanischer Hingabe, liest, wenn überhaupt, Trivialliteratur, macht sich nichts aus Wandern und Schifahren, ihr Mann, kein Odysseus, sondern Zahnarzt aus gutem Hause, unternimmt seine Touren allein. Das Paar ist von Lyon in die Berge gezogen, nach Gap in Hautes-Alpes. Die Geschwister erinnern sich später an einen ganz mit sich selbst beschäftigten Vater und an eine lieblose und gleichgültige Mutter, die "keine Moral" hatte, aber zwei eherne Prinzipien der Erziehung: nur ja nicht zu spät zum Essen kommen und nur ja kein uneheliches Kind kriegen! Das entspricht durchaus dem Comme-il-faut der bürgerlichen Familie, doch bei Renée steckt mehr dahinter: Sie ist ein Adoptivkind, was ihre dünkelhaften Schwiegereltern sie zeit ihres Lebens spüren lassen. Und sie kennt nicht einmal den Namen ihrer Mutter, geschweige denn den ihres Vaters.
Da setzt die Erzählerin mit ihrer (sub-)proletarischen Genealogie der alleinerziehenden Mütter an, mit Renées Großmutter, der arbeitslosen Seidenweberin aus Lyon, die ihre uneheliche Tochter Cécile durchbringen muss und irgendwann auf dem Strich landet wie viele und später auch Cécile, die bei der Geburt ihrer Tochter Renée am 29. Dezember 1916 stirbt. Das Mädchen durchläuft die traurige Karriere einer Waise, kommt zu hartherzigen Bauern in Pflege, ehe sie mit sechs das große Los zieht: eine liebevolle und geduldige Adoptivmutter, einen freundlichen Adoptivvater. Renées Urvertrauen in die Welt ist freilich erschüttert, die Schule überfordert sie, für ihre Mitschüler ist sie die Idiotin: "Sie lachen, die Bosheit hat noch Milchzähne." Schenk schildert ein diffuses Fremdheitsgefühl, das Bewusstsein einer untilgbaren fundamentalen Minderwertigkeit, aus dem heraus die Ehe mit einem einsilbigen, etwas gehemmten Zahnarzt als Ausweg erscheint.
Tatsächlich gerät Renée in die freudlose Fron ehelicher Pflichten: Die Tochter erkennt in der erzwungenen sexuellen Gemeinschaft mit dem Vater einen Hauptgrund für das Unglück der Mutter. Erst mit der Geburt der Nachzüglerin Lisa spielt Renée sich frei und kann sich diesem Kind ganz anders zuwenden. Was sie über ihrer Herkunft weiß, bleibt unklar: "Sah sie sich selbst als Schandfleck, als Sprössling einer Hure?"
Da ist der unzulänglich verborgene Hass der Mutter gegen den Vater, aber auch "ein tiefes, andauerndes Grollen". In kurzen Kapiteln mit prägnanten Überschriften ("Die Unglückliche", "Merci, Madame", "Das Mädchen ohne Talente") zeichnet die Tochter sie scharfsichtig als ein "angerichtetes Wesen. Als habe man ihre Seele und ihren Körper in den ersten sechs Jahren zum Schweigen gebracht. Danach wurde zwar eine Notreparatur vorgenommen. Das Wesentliche hatte man aber nicht wiederherstellen können."
Stets ist die Erzählerin nahe dran an ihren Figuren, ohne sich selbst als - imaginierte oder teilnehmende - Beobachterin aus der Szenerie auszusparen. So betont sie das Gemachte, Kalkulierte, Subjektive ihrer Geschichte. Ihre Schwestern, denen sie Teile zu lesen gibt, werfen ihr vor, die Mutter bloß als Opfer zu sehen. So bemüht sie sich darum, auch das Positive wahrzunehmen, eine Leerstelle zu füllen, sie zitiert Racine: "'Jede Erfindung besteht darin, aus nichts etwas zu machen.' Will ich das? Ich schöpfe doch ständig aus dem Nichts. Ich mache ihr einen luftigen Sarg aus Worten." Letztlich entscheidet Sylvie Schenk sich gegen das Luftige und für das Handfeste, ganz ohne Rührseligkeit, dafür umso rührender, sie widmet sich der nur oberflächlich honetten Damenrunde der Mutter, ihrem ominösen Fehltritt, den man Fauxpas nennt, dem späten Aufeinanderzugehen während ihrer Krebserkrankung. Zuletzt ist das Buch für sie "meine erste und letzte Umarmung. Schreiben. Streicheln. Festhalten."
Sylvie Schenk erzählt in diesem Porträt nicht nur eindringlich von bourgeoiser Verlogenheit und Entmündigung, sondern auch von französischem Klassendenken und Gesinnungskollaboration im Zweiten Weltkrieg, vom komplizenhaften Schweigen der Frauen und vom Schweigen der Sieger, die sich mit ihrer Scham hinter dem Nimbus der Résistance versteckten. Und nicht zuletzt vom Eigensinn einer jungen Schriftstellerin in kunstfeindlicher Umgebung. DANIELA STRIGL
Sylvie Schenk: "Maman". Roman.
Hanser Verlag,
München 2023. 173 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Fragmentarisch wie die Erinnerung, skeptisch gegen das eigene Ressentiment, zweifelnd an der eigenen Rolle im Familienspiel und am Schreibtisch, präzise, klug und voller Witz, hart und doch zart." Daniela Strigl, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.06.23
"Trotzdem ist 'Maman' kein trauriges Buch. Seine Genauigkeit, seine Schärfe, die gänzliche Abwesenheit von Larmoyanz und Sentimentalität und der gelegentliche Schalk machen es zu einem tief berührenden Lesevergnügen." Franziska Hirsbrunner, SRF2 Kultur, 23.05.23
"Unglaublich packend, hochliterarisch, sehr reflektiert." Elke Heidenreich, SPIEGEL Bestseller, 14.05.23
"Sylvie Schenks Kunst besteht darin, dieser unscheinbaren, fast wesenlosen Mutter 'einen luftigen Sarg aus Worten' zu machen, sie durch ihr Schreiben aus dem Nichts zu retten. Schon die zärtliche Anrede 'Maman' zeigt, dass Sylvie Schenk ihrer Mutter, dieser lebenslang ungeliebten Frau, die immer fror, ein Denkmal setzen, ihr Momente von Zuneigung und Zärtlichkeit schenken möchte." Barbara Machui, Der Standard, 13.05.23
"'Maman' ist nicht einfach nur ein Buch über eine Mutter, sondern ein Buch über das Leben selbst." Jörg Magenau, SWR2 Lesenswert, 04.05.2023
"'Maman' ist ein packendes, kluges Buch, das die Epoche der 1940er- bis 1960er-Jahre ebenso scharf konturiert wie die Psyche seines Personals. Sylvie Schenk, die im kommenden Jahr 80 Jahre alt wird, wird noch immer unter Wert gehandelt. 'Maman' wäre eine weitere Chance, daran etwas zu ändern." Christoph Schröder, Süddeutsche Zeitung, 22.04.23
"Gekonnt balanciert die Autorin zwischen Anmaßung und Wahrhaftigkeit." Brigitte Woman, 05/23
"'Maman' [ist] ein starker Aussöhnungstext geworden, der uns Töchtern beibringt, liebevoller auf die Frauen der Generationen über uns zu schauen." Mareike Ilsemann, WDR 5 Bücher, 20.03.23
"'Maman' ist ein bestürzendes und gleichzeitig brillantes Buch, das tiefe Abgründe im Verhältnis einer Tochter und ihrerMutter, zu ihrer gesamten Familie erahnen lässt. ... Sylvie Schenk (ver-)urteilt nicht, sondern sie stellt dar, beschreibt, hält fest. Und das in einem transparenten, einnehmenden, schnörkellosen und doch eleganten Stil." Dirk Fuhrig, Deutschlandfunk Lesart, 06.03.23
"Der Roman von Sylvie Schenk über 'Maman' ist eine behutsame Annäherung an ein schweres Schicksal. Aber er ist kein Klagelied, sondern erzählt auch mit Temperament und Witz einfach von dem alltäglichen Stress von Leuten, die sich lieben. [...] Gerade die bedingungslose Suche nach Wahrheit macht ein solches Schreibprojekt auch für andere Leser zu einer wertvollen Lektüre - wie in diesem Fall." Annemarie Stoltenberg, NDR Kultur, 21.02.23
"Diese Muttergeschichte ist eine der gleichermaßen lebendigsten, klügsten und berührendsten seit langem." Gerrit Bartels, Tagesspiegel, 17.02.23
"Trotzdem ist 'Maman' kein trauriges Buch. Seine Genauigkeit, seine Schärfe, die gänzliche Abwesenheit von Larmoyanz und Sentimentalität und der gelegentliche Schalk machen es zu einem tief berührenden Lesevergnügen." Franziska Hirsbrunner, SRF2 Kultur, 23.05.23
"Unglaublich packend, hochliterarisch, sehr reflektiert." Elke Heidenreich, SPIEGEL Bestseller, 14.05.23
"Sylvie Schenks Kunst besteht darin, dieser unscheinbaren, fast wesenlosen Mutter 'einen luftigen Sarg aus Worten' zu machen, sie durch ihr Schreiben aus dem Nichts zu retten. Schon die zärtliche Anrede 'Maman' zeigt, dass Sylvie Schenk ihrer Mutter, dieser lebenslang ungeliebten Frau, die immer fror, ein Denkmal setzen, ihr Momente von Zuneigung und Zärtlichkeit schenken möchte." Barbara Machui, Der Standard, 13.05.23
"'Maman' ist nicht einfach nur ein Buch über eine Mutter, sondern ein Buch über das Leben selbst." Jörg Magenau, SWR2 Lesenswert, 04.05.2023
"'Maman' ist ein packendes, kluges Buch, das die Epoche der 1940er- bis 1960er-Jahre ebenso scharf konturiert wie die Psyche seines Personals. Sylvie Schenk, die im kommenden Jahr 80 Jahre alt wird, wird noch immer unter Wert gehandelt. 'Maman' wäre eine weitere Chance, daran etwas zu ändern." Christoph Schröder, Süddeutsche Zeitung, 22.04.23
"Gekonnt balanciert die Autorin zwischen Anmaßung und Wahrhaftigkeit." Brigitte Woman, 05/23
"'Maman' [ist] ein starker Aussöhnungstext geworden, der uns Töchtern beibringt, liebevoller auf die Frauen der Generationen über uns zu schauen." Mareike Ilsemann, WDR 5 Bücher, 20.03.23
"'Maman' ist ein bestürzendes und gleichzeitig brillantes Buch, das tiefe Abgründe im Verhältnis einer Tochter und ihrerMutter, zu ihrer gesamten Familie erahnen lässt. ... Sylvie Schenk (ver-)urteilt nicht, sondern sie stellt dar, beschreibt, hält fest. Und das in einem transparenten, einnehmenden, schnörkellosen und doch eleganten Stil." Dirk Fuhrig, Deutschlandfunk Lesart, 06.03.23
"Der Roman von Sylvie Schenk über 'Maman' ist eine behutsame Annäherung an ein schweres Schicksal. Aber er ist kein Klagelied, sondern erzählt auch mit Temperament und Witz einfach von dem alltäglichen Stress von Leuten, die sich lieben. [...] Gerade die bedingungslose Suche nach Wahrheit macht ein solches Schreibprojekt auch für andere Leser zu einer wertvollen Lektüre - wie in diesem Fall." Annemarie Stoltenberg, NDR Kultur, 21.02.23
"Diese Muttergeschichte ist eine der gleichermaßen lebendigsten, klügsten und berührendsten seit langem." Gerrit Bartels, Tagesspiegel, 17.02.23