In der Moderne dominierte der Glaube, die Welt ließe sich gestalten und der Fortschritt sorge quasi automatisch für ein besseres Morgen. Erderwärmung, Wachstumskrise und subjektive Überlastungen haben diesen Optimismus erschüttert. Heute geht es in erster Linie darum, die Katastrophe abzuschwächen. Und selbst wenn dies gelingen sollte, werden wir mit dem Wandel umgehen müssen. Fragen der Selbsterhaltung überlagern dann jene der individuellen und kollektiven Selbstentfaltung. Anpassung wird zum Leitmotiv der Gesellschaft.
Auch die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass wir im Angesicht der Interdependenz und der ökologischen Gefahren nicht länger der grenzenlosen Emanzipation huldigen können. Stattdessen, so Philipp Staab, wird die nächste Gesellschaft vor allem mit der Stabilisierung einer prekär werdenden Ordnung befasst sein. Daraus resultiert allerdings eine Krise des Selbst- und Zeitverhältnisses, auf die auch die Linke eine Antwort finden muss.
Auch die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass wir im Angesicht der Interdependenz und der ökologischen Gefahren nicht länger der grenzenlosen Emanzipation huldigen können. Stattdessen, so Philipp Staab, wird die nächste Gesellschaft vor allem mit der Stabilisierung einer prekär werdenden Ordnung befasst sein. Daraus resultiert allerdings eine Krise des Selbst- und Zeitverhältnisses, auf die auch die Linke eine Antwort finden muss.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Uwe Justus Wenzel liest mit Interesse, wie Philipp Staab gesellschaftliche Leitideen umreißt. Für den Berliner Soziologen haben prominente Begriffe wie Fortschritt und Emanzipation ausgedient, statt Selbstentfaltung rücke angesichts multipler Krise die Selbsterhaltung in den Vordergrund. Dass Staab mit seinem "defensives Weltverhältnis" ausgerechnet die Anpassung in den Mittelpunkt seiner Überlegungen rückt, die Generationen von Soziologen als Freiheitsverzicht und Unterwerfung verschmähten, findet Rezensent Wenzel durchaus reizvoll, zumal Staab deutlich macht, dass es ihm weniger um eine Ablösung als um einen Ausgleich gehe. Allerdings wüsste der Rezensent noch gern, ob der Soziologe am Ende das Bedürfnis nach einer "protektiven Technokratie", die er bei Polizisten ebenso erkannt haben möchte wie bei Klimaaktivisten, auch in sich selbst erspürt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.01.2023Handreichung zum Weltbildwechsel
Überstehen ist alles: Philipp Staab stellt geläufige gesellschaftliche Leitideen außer Dienst
Talkshows - und das mag ihre Existenz sogar rechtfertigen - fungieren als Resonanzverstärker und bringen im televisionären Quasselmodus gelegentlich kollektive Gemütslagen zum Ausdruck. In einer solchen Unterhaltungssendung, in der es um militante Formen des Klimaprotests ging, musste sich vor einiger Zeit im öffentlich-rechtlichen Fernsehen eine Aktivistin der sogenannten "Letzten Generation" eine Gardinenpredigt des Talkmasters anhören. Der nicht eben moderate Moderator schüttelte den Kopf über das angeblich apokalyptische Menschenbild der jungen Frau und hielt ihr vor: "Sie müssten optimistisch sein und Vertrauen haben in die Fähigkeit zur Anpassung."
Wäre Philipp Staabs Buch "Anpassung" nicht schon vor jener Gesprächsrunde erschienen, könnte es gut mit der geschilderten Szene beginnen. Allerdings hatte der Talkmaster kaum diejenige Anpassung im Sinn, welche das Buch laut Untertitel als "Leitmotiv der nächsten Gesellschaft" in den Blick rückt. Viel eher schien sich da vor der Kamera ein gereizter Zweckoptimismus Luft zu machen, der die allzu menschliche Neigung zum Durchwursteln für die nötige Zukunftskompetenz zu halten bereit ist. Staab stellt ebensolches Irgendwie-doch-weiter-so-wie-bisher infrage; und die Zuversicht, die er vielleicht seinerseits hegt, wäre wohl eine reflexive zu nennen. Die titelgebende Anpassung müsste jedenfalls, so sie zum allgemeinen Betriebsmodus der Gesellschaft würde, das Selbstverständnis der Menschen wesentlich verändern.
Der Autor ist ein Soziologe, der sich von der kritischen Durchleuchtung kursierender Leitbegriffe und Leitvorstellungen gegenwartsanalytischen Aufschluss erwartet. Einige prominente wie "Fortschritt", "Individualisierung", "Emanzipation", "Demokratisierung" gehören in seiner Perspektive inzwischen zum Vokabular des Weiterwurstelns. Staab nennt es anders, er spricht von einer "modernen Semantik", die ins Leere laufe, wenn es zu erkennen gelte, was aus unserer Gesellschaft werden könnte - einer Lebensform, die in eine permanente "multiple Krise" geraten zu sein scheine. Die alten Großbegriffe, soll dies heißen, begreifen nicht mehr genug und eröffnen auch keine Handlungsmöglichkeiten, können mithin keine orientierenden Begriffe mehr sein. Insoweit darf der Leser sich an die auch nicht mehr ganz junge Erzählung vom Ende der "Großen Erzählungen" erinnert fühlen.
Anders als die damaligen philosophischen Protagonisten der Postmoderne scheint Staab nach einem doch auch eher großformatigen Ersatz sinnstiftender Narrative Ausschau zu halten und entsprechend vollmundiges Vokabular in Umlauf bringen zu wollen. Seine Eingangsthese einer Ablösung der diensthabenden Leitideen formuliert er als leicht suggestive Frage: Könnte es sein, dass "nicht Selbstentfaltung, sondern Anpassung, nicht Progression, sondern Selbsterhaltung" das "eigentliche Leitmotiv" unserer im Umbruch befindlichen Gesellschaft bilden?
Staab behauptet selbstredend nicht, es handle sich bei Anpassung um ein gänzlich neuartiges Phänomen. Im Gegenteil, sie stellt für ihn das "basale Problem von Gesellschaft schlechthin" dar, das sich nur verschärft, seit die menschliche Zivilisation ihre planetarischen Existenzvoraussetzungen zu zerstören begonnen hat - und sich als schlecht angepasst erweist. Politische und soziale Praktiken der Anpassung hätten als explizite Strategien indes längst Platz gegriffen, nicht nur angesichts der aufdringlicher werdenden Klimakatastrophe, auch mit der Finanzmarktkrise und vollends mit der Covid-Pandemie, die sich als "Generalprobe zukünftiger Adaptionskrisen" verstehen lasse. In die gleiche Richtung - diejenige einer Umstellung auf ein "defensives Weltverhältnis" - weise auch die Konjunktur des Begriffs "Resilienz", die bereits vor der Jahrtausendwende eingesetzt habe. Leider aber erkenne die "kritische Soziologie der Gegenwart" den Realitätsgewinn, den der Weltbildwechsel mit sich bringe, noch nicht so ganz an; in den Spuren der "klassischen Soziologien der Freiheit" denkend, schwanke sie "zwischen Ideologieverdacht und Trauerarbeit".
Manche Zunftkollegen, so Staab, kultivierten einen nachgerade "denunziatorischen Blick" und setzten Anpassungsfähigkeit mit Freiheitsverzicht und Unterwerfung unter ein Regime neoliberaler Biopolitik gleich (Stichwort "Selbstoptimierung"). Demgegenüber glaubt er, dass Anpassung als individuelle wie kollektive Strategie zwar opportunistisch, nicht aber konformistisch sein müsse: dass aus notwendig werdenden Anpassungspraktiken neue "Spielräume der Lebensführung" hervorgingen - wenn auch nicht ohne soziale Kämpfe um knappe Ressourcen aller Art und auch nicht ohne "Konflikte um Sinnbezüge".
Der Autor verabschiedet bei Licht besehen Freiheit und Selbstbestimmung als Orientierungsbegriffe nicht, er sammelt vielmehr Indizien, die für die Möglichkeit eines Ausgleichs oder Ineinandergreifens von Freiheit und Anpassung, Selbsterhaltung und Selbstentfaltung sprechen. ("Selbsterhaltung" erörtert Staab allerdings nicht näher, obgleich der Begriff einiges hergäbe; in der Philosophiegeschichte der Neuzeit spielt er eine bedeutende Rolle für die Konzeption eines mit Freiheit und Freiheitsrechten ausgestatteten Subjekts.) Zu den Indizien zählen auch Gesellschaftsbilder, die der Soziologe anhand von Interviews nachzeichnet, die während der Pandemie mit Beschäftigten im deutschen Gesundheits-, Erziehungs- und Sicherheitssektor geführt wurden. Es werden "kollektive Imaginationen" erkennbar, die einen beunruhigenden Fluchtpunkt besitzen. Staab glaubt die "Sehnsucht nach einer protektiven Technokratie" zu erspüren, nach einer im Grunde entpolitisierten Gesellschaft, die Expertenherrschaft und sinnstiftende individuelle Teilhabe an kollektiver Selbsterhaltung (einschließlich einer gewissen spielerischen Experimentierfreude) miteinander verbindet - und die, wer weiß, sogar "mit dem Selbstzweck der Kapitalakkumulation grundsätzlich bräche".
Das Buch hat mit der "protektiven Technokratie" einen veritablen zweiten Brennpunkt, der Stoff für ausführlichere Gedankengänge böte. Wenn Philipp Staab sie dereinst unternehmen sollte, wird vielleicht auch deutlicher, ob er die fragliche Sehnsucht nach protektiver Technokratie nicht nur erspürt, sondern auch als seine eigene verspürt. UWE JUSTUS WENZEL
Philipp Staab: "Anpassung". Leitmotiv der nächsten Gesellschaft.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 240 S., br., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Überstehen ist alles: Philipp Staab stellt geläufige gesellschaftliche Leitideen außer Dienst
Talkshows - und das mag ihre Existenz sogar rechtfertigen - fungieren als Resonanzverstärker und bringen im televisionären Quasselmodus gelegentlich kollektive Gemütslagen zum Ausdruck. In einer solchen Unterhaltungssendung, in der es um militante Formen des Klimaprotests ging, musste sich vor einiger Zeit im öffentlich-rechtlichen Fernsehen eine Aktivistin der sogenannten "Letzten Generation" eine Gardinenpredigt des Talkmasters anhören. Der nicht eben moderate Moderator schüttelte den Kopf über das angeblich apokalyptische Menschenbild der jungen Frau und hielt ihr vor: "Sie müssten optimistisch sein und Vertrauen haben in die Fähigkeit zur Anpassung."
Wäre Philipp Staabs Buch "Anpassung" nicht schon vor jener Gesprächsrunde erschienen, könnte es gut mit der geschilderten Szene beginnen. Allerdings hatte der Talkmaster kaum diejenige Anpassung im Sinn, welche das Buch laut Untertitel als "Leitmotiv der nächsten Gesellschaft" in den Blick rückt. Viel eher schien sich da vor der Kamera ein gereizter Zweckoptimismus Luft zu machen, der die allzu menschliche Neigung zum Durchwursteln für die nötige Zukunftskompetenz zu halten bereit ist. Staab stellt ebensolches Irgendwie-doch-weiter-so-wie-bisher infrage; und die Zuversicht, die er vielleicht seinerseits hegt, wäre wohl eine reflexive zu nennen. Die titelgebende Anpassung müsste jedenfalls, so sie zum allgemeinen Betriebsmodus der Gesellschaft würde, das Selbstverständnis der Menschen wesentlich verändern.
Der Autor ist ein Soziologe, der sich von der kritischen Durchleuchtung kursierender Leitbegriffe und Leitvorstellungen gegenwartsanalytischen Aufschluss erwartet. Einige prominente wie "Fortschritt", "Individualisierung", "Emanzipation", "Demokratisierung" gehören in seiner Perspektive inzwischen zum Vokabular des Weiterwurstelns. Staab nennt es anders, er spricht von einer "modernen Semantik", die ins Leere laufe, wenn es zu erkennen gelte, was aus unserer Gesellschaft werden könnte - einer Lebensform, die in eine permanente "multiple Krise" geraten zu sein scheine. Die alten Großbegriffe, soll dies heißen, begreifen nicht mehr genug und eröffnen auch keine Handlungsmöglichkeiten, können mithin keine orientierenden Begriffe mehr sein. Insoweit darf der Leser sich an die auch nicht mehr ganz junge Erzählung vom Ende der "Großen Erzählungen" erinnert fühlen.
Anders als die damaligen philosophischen Protagonisten der Postmoderne scheint Staab nach einem doch auch eher großformatigen Ersatz sinnstiftender Narrative Ausschau zu halten und entsprechend vollmundiges Vokabular in Umlauf bringen zu wollen. Seine Eingangsthese einer Ablösung der diensthabenden Leitideen formuliert er als leicht suggestive Frage: Könnte es sein, dass "nicht Selbstentfaltung, sondern Anpassung, nicht Progression, sondern Selbsterhaltung" das "eigentliche Leitmotiv" unserer im Umbruch befindlichen Gesellschaft bilden?
Staab behauptet selbstredend nicht, es handle sich bei Anpassung um ein gänzlich neuartiges Phänomen. Im Gegenteil, sie stellt für ihn das "basale Problem von Gesellschaft schlechthin" dar, das sich nur verschärft, seit die menschliche Zivilisation ihre planetarischen Existenzvoraussetzungen zu zerstören begonnen hat - und sich als schlecht angepasst erweist. Politische und soziale Praktiken der Anpassung hätten als explizite Strategien indes längst Platz gegriffen, nicht nur angesichts der aufdringlicher werdenden Klimakatastrophe, auch mit der Finanzmarktkrise und vollends mit der Covid-Pandemie, die sich als "Generalprobe zukünftiger Adaptionskrisen" verstehen lasse. In die gleiche Richtung - diejenige einer Umstellung auf ein "defensives Weltverhältnis" - weise auch die Konjunktur des Begriffs "Resilienz", die bereits vor der Jahrtausendwende eingesetzt habe. Leider aber erkenne die "kritische Soziologie der Gegenwart" den Realitätsgewinn, den der Weltbildwechsel mit sich bringe, noch nicht so ganz an; in den Spuren der "klassischen Soziologien der Freiheit" denkend, schwanke sie "zwischen Ideologieverdacht und Trauerarbeit".
Manche Zunftkollegen, so Staab, kultivierten einen nachgerade "denunziatorischen Blick" und setzten Anpassungsfähigkeit mit Freiheitsverzicht und Unterwerfung unter ein Regime neoliberaler Biopolitik gleich (Stichwort "Selbstoptimierung"). Demgegenüber glaubt er, dass Anpassung als individuelle wie kollektive Strategie zwar opportunistisch, nicht aber konformistisch sein müsse: dass aus notwendig werdenden Anpassungspraktiken neue "Spielräume der Lebensführung" hervorgingen - wenn auch nicht ohne soziale Kämpfe um knappe Ressourcen aller Art und auch nicht ohne "Konflikte um Sinnbezüge".
Der Autor verabschiedet bei Licht besehen Freiheit und Selbstbestimmung als Orientierungsbegriffe nicht, er sammelt vielmehr Indizien, die für die Möglichkeit eines Ausgleichs oder Ineinandergreifens von Freiheit und Anpassung, Selbsterhaltung und Selbstentfaltung sprechen. ("Selbsterhaltung" erörtert Staab allerdings nicht näher, obgleich der Begriff einiges hergäbe; in der Philosophiegeschichte der Neuzeit spielt er eine bedeutende Rolle für die Konzeption eines mit Freiheit und Freiheitsrechten ausgestatteten Subjekts.) Zu den Indizien zählen auch Gesellschaftsbilder, die der Soziologe anhand von Interviews nachzeichnet, die während der Pandemie mit Beschäftigten im deutschen Gesundheits-, Erziehungs- und Sicherheitssektor geführt wurden. Es werden "kollektive Imaginationen" erkennbar, die einen beunruhigenden Fluchtpunkt besitzen. Staab glaubt die "Sehnsucht nach einer protektiven Technokratie" zu erspüren, nach einer im Grunde entpolitisierten Gesellschaft, die Expertenherrschaft und sinnstiftende individuelle Teilhabe an kollektiver Selbsterhaltung (einschließlich einer gewissen spielerischen Experimentierfreude) miteinander verbindet - und die, wer weiß, sogar "mit dem Selbstzweck der Kapitalakkumulation grundsätzlich bräche".
Das Buch hat mit der "protektiven Technokratie" einen veritablen zweiten Brennpunkt, der Stoff für ausführlichere Gedankengänge böte. Wenn Philipp Staab sie dereinst unternehmen sollte, wird vielleicht auch deutlicher, ob er die fragliche Sehnsucht nach protektiver Technokratie nicht nur erspürt, sondern auch als seine eigene verspürt. UWE JUSTUS WENZEL
Philipp Staab: "Anpassung". Leitmotiv der nächsten Gesellschaft.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 240 S., br., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Philipp Staab legt mit Anpassung Sonden in die Gesellschaft der Zeitenwende, die bei der Vorbereitung auf die Zukunft hilfreich sind - und deren gelegentlich überraschende Wendungen die Warnung enthalten, nicht mit ein paar großformatigen Konzepten schon begriffen zu haben, was vor uns liegt.« Mathias Greffrath Deutschlandfunk Kultur 20221112