«Ich habe immer gedacht, dass es das Ende ist, wenn der Himmel auf die Erde fällt. Am 3. August 2014 ist der Himmel nicht auf die Erde gefallen, aber trotzdem war es das Ende.»
Nach ihrem Debüt Die Sommer legt Ronya Othmann den zweiten Roman vor. Sie will eine Form finden für das Unaussprechliche, einen Genozid, den vierundsiebzigsten, verübt 2014 in Shingal von Kämpfern des IS. Vierundsiebzig ist eine Reise zu den Ursprüngen, zu den Tatorten: in die Camps und an die Frontlinien, in die Wohnzimmer der Verwandten und von deutschen Gerichtssälen weiter in ein êzîdisches Dorf in der Türkei, in dem heute niemand mehr lebt.
«Vierundsiebzig ist vieles in einem - Autobiographie, Biographie, Reiseliteratur und Geschichtsschreibung in Echtzeit - und dennoch ein organisches Ganzes. Ein literarischer Befreiungsschlag.» Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
«Ein großes Werk und ein ungeheuer packendes dazu.» Die Welt
Nach ihrem Debüt Die Sommer legt Ronya Othmann den zweiten Roman vor. Sie will eine Form finden für das Unaussprechliche, einen Genozid, den vierundsiebzigsten, verübt 2014 in Shingal von Kämpfern des IS. Vierundsiebzig ist eine Reise zu den Ursprüngen, zu den Tatorten: in die Camps und an die Frontlinien, in die Wohnzimmer der Verwandten und von deutschen Gerichtssälen weiter in ein êzîdisches Dorf in der Türkei, in dem heute niemand mehr lebt.
«Vierundsiebzig ist vieles in einem - Autobiographie, Biographie, Reiseliteratur und Geschichtsschreibung in Echtzeit - und dennoch ein organisches Ganzes. Ein literarischer Befreiungsschlag.» Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
«Ein großes Werk und ein ungeheuer packendes dazu.» Die Welt
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Das vom Verlag als Roman ausgegebene Buch von Ronya Othmann ist eher eine subjektive Reportage, legt Rezensent Oliver Jungen nahe, und zwar eine "Dokumentation der Enthemmung und Entmenschlichung". Denn in dem stark autobiografisch geprägten Buch über den Genozid, der am 2014 vom Islamischen Staat am Volk der Jesiden verübt wurde, reihen sich die Grausamkeiten aneinander: So beleuchtet Othmann, selbst Tochter eines säkularen Jesiden und einer Deutschen, von der Ermordung, Vertreibung und Versklavung Tausender Jesiden unter Mithilfe der benachbarten Muslime, von der psychischen "Verwüstung" und Sprachlosigkeit der Hinterbliebenen, von verdurstenden Fünfjährigen, auch von der Rolle der Türkei und dem eigenen "antimuslimischen Affekt", gibt Jungen wieder. Das sei hart zu lesen und auch inhaltlich sehr viel, sodass Jungen zum Teil den Überblick über alle Ortschaften, Milizen und Verflechtungen verliert. Trotzdem findet er extrem eindrücklich und wichtig, wie Othmann ihre spezielle Perspektive - einerseits eingebunden, andererseits aus westlich-aufgeklärter Beobachterposition - nutzt, um auf subjektive Weise, dabei aber bis auf wenige poetische Einsprengsel in betont nüchternem Stil, "sprachlich-politische Aufbauarbeit" zu leisten. "Bedeutsamer" war autobiografisches Schreiben "hierzulande lange nicht mehr", schließt Jungen anerkennend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2024Ihre Geschichte
"Vierundsiebzig": Ronya Othmann versucht, den Genozid an den Jesiden in einem Roman zu dokumentieren.
Von Alexandru Bulucz
Die Hauptfigur will vom jüngsten Genozid an den Jesiden Zeugnis abzulegen. "Es ist zu viel, denke ich. Ich frage mich, wer wird das lesen wollen? Ich verbiete mir diese Frage", sagt sie. "Was hat das mit mir gemacht, was habe ich gefühlt, als ich diese Geschichten erzählt bekommen habe? Ich habe keine Antwort auf diese Fragen. Ich habe nur geschrieben."
Das Vorhaben, den Genozid zu dokumentieren, ist an dieser Stelle schon weit fortgeschritten. Es geht dann über ins letzte Drittel dessen, was nun als zweiter Roman von Ronya Othmann vorliegt. Die Autorin und Dichterin wurde 1993 in München als Tochter einer Deutschen und eines Jesiden aus Syrien geboren. In "Die Sommer", ihrem Romandebüt von 2020, hatte sie noch eine an die eigene Biographie angelehnte Figur namens Leyla vorgeschickt, um über jesidisches Leben zu berichten. Jetzt, in "Vierundsiebzig", das "Die Sommer" thematisch und chronologisch weiterführt, sieht sie von einer Fiktionalisierung gänzlich ab und wirft sich selbst in die Waagschale. Trotzdem gilt ihr alles, was sie schreibt, als Fiktion.
Sich mit ganz und gar zur eigenen Betroffenheit qua Herkunft zu bekennen, sich ein Buch lang ins Zentrum der Narration vorzuwagen, wird sich als literarischer Befreiungsschlag erweisen. Ronya, "mit weichem R, langem O". Othmann, was wahrscheinlich auf "Osman", den Namen des jesidischen Ururgroßvaters, zurückgeht. Sie ist es selbst, die spricht, persönlich und ungeschützt, auch wenn sie sich auf ihren drei Reisen nach Kurdistan 2018, 2019 und 2022 meist als Journalistin vorstellt und das Berufsethos der Neutralität nie aus den Augen verliert. Die Ermordung ihres jesidischen Urgroßvaters Cindî, die jüngere Vertreibungs- und Fluchtgeschichte ihrer Familie und Verwandtschaft, die Suche nach dem eigenen Platz in der Welt - all das ist Beweggrund ihrer großangelegten Schmerzdarstellung.
Immer wieder unterbrechen poetologische Passagen den manisch berichtenden, dokumentierenden, erinnernden und kartographierenden Strom des Romans. Sie zeugen vom inneren Widerstreit eines Menschen, der sich zum Medium der Zeugnisse Überlebender gemacht hat und beim Aufnahmeprozess zusehen muss, wie sich seine innere Verfassung verändert. Ein Mensch, der aufzeichnet und recherchiert und sich dabei die eigene Identität erschreibt. Ein Mensch, dessen Arbeit nach allen Seiten retraumatisierend wirkt. Das Zuviel an detaillierter Information über die an Jesiden verübte Gewalt, oft sexualisierte Gewalt, ist überwältigend, doch im Grunde macht dieses Zuviel nur einen winzigen Bruchteil der ganzen Geschichte aus.
Was am 3. August 2014 begann, ist ins kollektive Gedächtnis der Jesiden als 74. Ferman eingegangen - das Wort stammt aus dem Persischen und meint "Erlass". Es war der 74. Versuch, in diesem Fall des "Islamischen Staats", die Jesiden systematisch auszulöschen, weil sie Jesiden sind, dem IS zufolge teufelsanbetende Ungläubige. Indem uns Othmann den 74. Ferman im Kontext der dauerhaften Verfolgung der Jesiden erschließt, legt sie ein Strukturmerkmal der jesidischen Geschichte offen, das die Jesiden mit anderen historisch marginalisierten Gruppen zu verbinden scheint. Armenier, Aleviten, Bosniaken, Juden - in "Vierundsiebzig" treten sie alle als "Geschwister" der Jesiden auf. Doch Othmann bleibt skeptisch, ob erlittenes historisches Unrecht allein Allianzbildungen begründen kann:
"Ist es eine Verwandtschaft im Schmerz oder eine Verwandtschaft, die sich aus den Verbrechen ergibt? Eine Anerkennung der Gewaltverbrechen, die an anderen verübt wurden, der Versuch, etwas zu sagen, das einer Beileidsbekundung gleichkäme, wo doch keine solche Formel ausreichen kann. Oder ist die hier beschworene Verwandtschaft am Ende nur eine wohlmeinende Lüge. Die Beschwörung einer Gemeinschaft von Opfergruppen, die es so gar nicht gibt."
Überlegungen aussprechen, direkt relativieren, revidieren oder gar streichen: Eine diesen Roman bestimmende Technik, mit der sich Othmann entschleunigt und sich vor voreiligen Schlüssen bewahrt. Das ist keine Stilisierung und auch keine Flucht vor Vereindeutigung, sondern eine volle Anerkennung von Komplexitäten. Othmann ist hin- und hergerissen zwischen einem ausdrücklichen Misstrauen gegenüber dem "Wir" und einer starken Selbstidentifizierung als Jesidin: "Ich traue dem Wir nicht mehr, und ich traue dem Ich nicht mehr", heißt es noch recht am Anfang des Romans. Und gegen Ende: "Wir, schreibe ich, haben keine Geschichte." Es ist eine Instabilität, deren Gründe sie nicht zuletzt im Jesidentum selbst finden wird.
Othmann hat nicht vergessen, dass ihre Schwester sie einmal eine "Abtrünnige" genannt hatte. Auch der Vater, ein ehemaliger verfolgter Kommunist und Atheist, kokettiert damit, ein Abtrünniger zu sein, denn er hat eine Deutsche geheiratet. Nach jesidischer Tradition darf aber nur unter Jesiden geheiratet werden, sonst droht der Ausschluss aus der Gemeinschaft. Dass ihn dieses Schicksal nicht ereilt habe, liege daran, dass er ein Mann sei und nicht schwul, heißt es einmal. "Ich sage mir", so Othmann, "ich muss einen schwulen Êzîden heiraten. Scheinehe, sage ich mir. Aber es ist nicht nur das. Ich sage mir, ich muss das streichen. Darüber kann ich nicht sprechen. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu sprechen." Dass sie dann doch über die Reformnotwendigkeit des Jesidentums spricht und sprechen lässt, macht ihren Roman umso schonungsloser, denn der Genozid an den Jesiden liegt noch gar nicht lange zurück, als der Verkauf von Alkohol oder lackierte Fußnägel leicht ein Todesurteil bedeuten konnten.
Was Othmann dann auf ihren unsicheren Recherchereisen aufzeichnet, die sie stets in Begleitung, auch ihres Vaters, unternimmt, ist nur noch entsetzlich. Sie erfährt zum Beispiel von der Verschleppung einer Frau mit Kind, kein Jahr alt, die an einen Emir geraten. Weil er vom unaufhörlichen Hungergeschrei des Kindes nicht schlafen konnte, soll er es der Mutter weggenommen, es in die Küche gebracht, ihm dort den Kopf abgeschnitten, dessen Fleisch gekocht und es der Mutter dann vorgesetzt haben. Eine Bestialität des IS war auf die nächste gefolgt, aus purem Hass. Und überall dort, wo es ihr möglich ist, dokumentiert Othmann auch die Namen der Opfer und entreißt sie auf diese Weise dem ansonsten sicheren Vergessen.
In einer Halle des Amna-Suraka-Museums in Silêmanî traut Othmann ihren Augen nicht, als sie feststellt, dass dort nichts an Jesiden erinnert: "Ist die Wunde noch zu frisch? Oder ist die Geschichte der Êzîden einfach nicht heldenhaft genug, im Gegenteil, ihr Sterben zu erbärmlich, um in diesem Museum davon zu erzählen?" Die Schreianfälle ihres Cousins Loran setzen immer dann an, wenn über Shingal, einen der Tatorte des IS, gesprochen wird, als könnte das Unsagbare nur noch mit unartikulierten Lauten kompensiert werden. Als Angelina Jolie als Sondergesandte des UN-Flüchtlingshilfswerks nach Mossul reist, fällt Othmann auf, dass sie keine jesidischen Familien besucht hat. Die Frau in Hamdûna, bei der Othmann Tee trinkt, bemerkt das Band mit den kurdischen Farben an ihrem Handgelenk, zerrt sie in die Küche, holt ein Messer und will es abmachen: "Wenn die das sehen, bringen sie dich um, oder sie sperren dich ein." Am Flughafen in Bagdad weigert sich Othmanns Vater, Arabisch zu sprechen, obwohl er es perfekt beherrscht: "Es ist die Sprache unserer Unterdrücker", sagt er. Anderswo behauptet er, nicht traumatisiert zu sein. Und immer so weiter.
Überall massive psychische Folgeschäden von Verfolgung und ein Mangel an Würdigung von Jesiden, ihres Schicksals, ihrer Kultur, ihrer Sprache. Ein Mangel, an dem eine abgeschwächte Form des "kulturellen Genozids" erkennbar wird, der in der Zerstörung jesidischer Heiligtümer durch den IS kulminierte. Oder eine "Auslöschung der Auslöschung", wie Othmann notiert, während der IS 2019 ganze Landstriche in Shingal in Brand steckt und Beweismittel des Genozids für immer verloren zu gehen drohen.
Im sicheren Deutschland, das die größte jesidische Diaspora weltweit beherbergt, verfolgt Othmann dann die juristische und politische Aufarbeitung des Genozids, besucht Gerichtsprozesse, so auch gegen die IS-Rückkehrerin Jennifer W. aus Niedersachsen, die ein gefesseltes jesidisches Kind in praller Sonne kaltblütig verdursten ließ. Und sie erforscht vor allem jesidische Kultur und entdeckt für uns den britischen Archäologen Austen Henry Layard und seine kanonischen Bücher über die Jesiden wieder, die auf Recherchen am Ort beruhen. Hier zeigt sich das große ethnographische Interesse Othmanns, die sich liebevoll, ja demütig dem jesidischen Brauchtum nähert.
"Ich habe Angst, dass das, was ich gesehen und gehört habe, mir entgleitet. Dass mir mein Blick verschwimmt", schreibt Ronya Othmann im ersten Teil ihres Romans. Die Angst stellt sich als unbegründet dar. "Vierundsiebzig" ist vieles in einem - Autobiographie, Biographie, Reiseliteratur und Geschichtsschreibung in Echtzeit - und dennoch ein organisches Ganzes. Es ist ein Meilenstein der literarischen Genozidforschung und die Widerlegung der Behauptung, die Jesiden hätten keine Geschichte.
Ronya Othmann, "Vierundsiebzig". Roman. Rowohlt, 512 Seiten, 26 Euro. Alexandru Bulucz ist Lyriker und Übersetzer.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Vierundsiebzig": Ronya Othmann versucht, den Genozid an den Jesiden in einem Roman zu dokumentieren.
Von Alexandru Bulucz
Die Hauptfigur will vom jüngsten Genozid an den Jesiden Zeugnis abzulegen. "Es ist zu viel, denke ich. Ich frage mich, wer wird das lesen wollen? Ich verbiete mir diese Frage", sagt sie. "Was hat das mit mir gemacht, was habe ich gefühlt, als ich diese Geschichten erzählt bekommen habe? Ich habe keine Antwort auf diese Fragen. Ich habe nur geschrieben."
Das Vorhaben, den Genozid zu dokumentieren, ist an dieser Stelle schon weit fortgeschritten. Es geht dann über ins letzte Drittel dessen, was nun als zweiter Roman von Ronya Othmann vorliegt. Die Autorin und Dichterin wurde 1993 in München als Tochter einer Deutschen und eines Jesiden aus Syrien geboren. In "Die Sommer", ihrem Romandebüt von 2020, hatte sie noch eine an die eigene Biographie angelehnte Figur namens Leyla vorgeschickt, um über jesidisches Leben zu berichten. Jetzt, in "Vierundsiebzig", das "Die Sommer" thematisch und chronologisch weiterführt, sieht sie von einer Fiktionalisierung gänzlich ab und wirft sich selbst in die Waagschale. Trotzdem gilt ihr alles, was sie schreibt, als Fiktion.
Sich mit ganz und gar zur eigenen Betroffenheit qua Herkunft zu bekennen, sich ein Buch lang ins Zentrum der Narration vorzuwagen, wird sich als literarischer Befreiungsschlag erweisen. Ronya, "mit weichem R, langem O". Othmann, was wahrscheinlich auf "Osman", den Namen des jesidischen Ururgroßvaters, zurückgeht. Sie ist es selbst, die spricht, persönlich und ungeschützt, auch wenn sie sich auf ihren drei Reisen nach Kurdistan 2018, 2019 und 2022 meist als Journalistin vorstellt und das Berufsethos der Neutralität nie aus den Augen verliert. Die Ermordung ihres jesidischen Urgroßvaters Cindî, die jüngere Vertreibungs- und Fluchtgeschichte ihrer Familie und Verwandtschaft, die Suche nach dem eigenen Platz in der Welt - all das ist Beweggrund ihrer großangelegten Schmerzdarstellung.
Immer wieder unterbrechen poetologische Passagen den manisch berichtenden, dokumentierenden, erinnernden und kartographierenden Strom des Romans. Sie zeugen vom inneren Widerstreit eines Menschen, der sich zum Medium der Zeugnisse Überlebender gemacht hat und beim Aufnahmeprozess zusehen muss, wie sich seine innere Verfassung verändert. Ein Mensch, der aufzeichnet und recherchiert und sich dabei die eigene Identität erschreibt. Ein Mensch, dessen Arbeit nach allen Seiten retraumatisierend wirkt. Das Zuviel an detaillierter Information über die an Jesiden verübte Gewalt, oft sexualisierte Gewalt, ist überwältigend, doch im Grunde macht dieses Zuviel nur einen winzigen Bruchteil der ganzen Geschichte aus.
Was am 3. August 2014 begann, ist ins kollektive Gedächtnis der Jesiden als 74. Ferman eingegangen - das Wort stammt aus dem Persischen und meint "Erlass". Es war der 74. Versuch, in diesem Fall des "Islamischen Staats", die Jesiden systematisch auszulöschen, weil sie Jesiden sind, dem IS zufolge teufelsanbetende Ungläubige. Indem uns Othmann den 74. Ferman im Kontext der dauerhaften Verfolgung der Jesiden erschließt, legt sie ein Strukturmerkmal der jesidischen Geschichte offen, das die Jesiden mit anderen historisch marginalisierten Gruppen zu verbinden scheint. Armenier, Aleviten, Bosniaken, Juden - in "Vierundsiebzig" treten sie alle als "Geschwister" der Jesiden auf. Doch Othmann bleibt skeptisch, ob erlittenes historisches Unrecht allein Allianzbildungen begründen kann:
"Ist es eine Verwandtschaft im Schmerz oder eine Verwandtschaft, die sich aus den Verbrechen ergibt? Eine Anerkennung der Gewaltverbrechen, die an anderen verübt wurden, der Versuch, etwas zu sagen, das einer Beileidsbekundung gleichkäme, wo doch keine solche Formel ausreichen kann. Oder ist die hier beschworene Verwandtschaft am Ende nur eine wohlmeinende Lüge. Die Beschwörung einer Gemeinschaft von Opfergruppen, die es so gar nicht gibt."
Überlegungen aussprechen, direkt relativieren, revidieren oder gar streichen: Eine diesen Roman bestimmende Technik, mit der sich Othmann entschleunigt und sich vor voreiligen Schlüssen bewahrt. Das ist keine Stilisierung und auch keine Flucht vor Vereindeutigung, sondern eine volle Anerkennung von Komplexitäten. Othmann ist hin- und hergerissen zwischen einem ausdrücklichen Misstrauen gegenüber dem "Wir" und einer starken Selbstidentifizierung als Jesidin: "Ich traue dem Wir nicht mehr, und ich traue dem Ich nicht mehr", heißt es noch recht am Anfang des Romans. Und gegen Ende: "Wir, schreibe ich, haben keine Geschichte." Es ist eine Instabilität, deren Gründe sie nicht zuletzt im Jesidentum selbst finden wird.
Othmann hat nicht vergessen, dass ihre Schwester sie einmal eine "Abtrünnige" genannt hatte. Auch der Vater, ein ehemaliger verfolgter Kommunist und Atheist, kokettiert damit, ein Abtrünniger zu sein, denn er hat eine Deutsche geheiratet. Nach jesidischer Tradition darf aber nur unter Jesiden geheiratet werden, sonst droht der Ausschluss aus der Gemeinschaft. Dass ihn dieses Schicksal nicht ereilt habe, liege daran, dass er ein Mann sei und nicht schwul, heißt es einmal. "Ich sage mir", so Othmann, "ich muss einen schwulen Êzîden heiraten. Scheinehe, sage ich mir. Aber es ist nicht nur das. Ich sage mir, ich muss das streichen. Darüber kann ich nicht sprechen. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu sprechen." Dass sie dann doch über die Reformnotwendigkeit des Jesidentums spricht und sprechen lässt, macht ihren Roman umso schonungsloser, denn der Genozid an den Jesiden liegt noch gar nicht lange zurück, als der Verkauf von Alkohol oder lackierte Fußnägel leicht ein Todesurteil bedeuten konnten.
Was Othmann dann auf ihren unsicheren Recherchereisen aufzeichnet, die sie stets in Begleitung, auch ihres Vaters, unternimmt, ist nur noch entsetzlich. Sie erfährt zum Beispiel von der Verschleppung einer Frau mit Kind, kein Jahr alt, die an einen Emir geraten. Weil er vom unaufhörlichen Hungergeschrei des Kindes nicht schlafen konnte, soll er es der Mutter weggenommen, es in die Küche gebracht, ihm dort den Kopf abgeschnitten, dessen Fleisch gekocht und es der Mutter dann vorgesetzt haben. Eine Bestialität des IS war auf die nächste gefolgt, aus purem Hass. Und überall dort, wo es ihr möglich ist, dokumentiert Othmann auch die Namen der Opfer und entreißt sie auf diese Weise dem ansonsten sicheren Vergessen.
In einer Halle des Amna-Suraka-Museums in Silêmanî traut Othmann ihren Augen nicht, als sie feststellt, dass dort nichts an Jesiden erinnert: "Ist die Wunde noch zu frisch? Oder ist die Geschichte der Êzîden einfach nicht heldenhaft genug, im Gegenteil, ihr Sterben zu erbärmlich, um in diesem Museum davon zu erzählen?" Die Schreianfälle ihres Cousins Loran setzen immer dann an, wenn über Shingal, einen der Tatorte des IS, gesprochen wird, als könnte das Unsagbare nur noch mit unartikulierten Lauten kompensiert werden. Als Angelina Jolie als Sondergesandte des UN-Flüchtlingshilfswerks nach Mossul reist, fällt Othmann auf, dass sie keine jesidischen Familien besucht hat. Die Frau in Hamdûna, bei der Othmann Tee trinkt, bemerkt das Band mit den kurdischen Farben an ihrem Handgelenk, zerrt sie in die Küche, holt ein Messer und will es abmachen: "Wenn die das sehen, bringen sie dich um, oder sie sperren dich ein." Am Flughafen in Bagdad weigert sich Othmanns Vater, Arabisch zu sprechen, obwohl er es perfekt beherrscht: "Es ist die Sprache unserer Unterdrücker", sagt er. Anderswo behauptet er, nicht traumatisiert zu sein. Und immer so weiter.
Überall massive psychische Folgeschäden von Verfolgung und ein Mangel an Würdigung von Jesiden, ihres Schicksals, ihrer Kultur, ihrer Sprache. Ein Mangel, an dem eine abgeschwächte Form des "kulturellen Genozids" erkennbar wird, der in der Zerstörung jesidischer Heiligtümer durch den IS kulminierte. Oder eine "Auslöschung der Auslöschung", wie Othmann notiert, während der IS 2019 ganze Landstriche in Shingal in Brand steckt und Beweismittel des Genozids für immer verloren zu gehen drohen.
Im sicheren Deutschland, das die größte jesidische Diaspora weltweit beherbergt, verfolgt Othmann dann die juristische und politische Aufarbeitung des Genozids, besucht Gerichtsprozesse, so auch gegen die IS-Rückkehrerin Jennifer W. aus Niedersachsen, die ein gefesseltes jesidisches Kind in praller Sonne kaltblütig verdursten ließ. Und sie erforscht vor allem jesidische Kultur und entdeckt für uns den britischen Archäologen Austen Henry Layard und seine kanonischen Bücher über die Jesiden wieder, die auf Recherchen am Ort beruhen. Hier zeigt sich das große ethnographische Interesse Othmanns, die sich liebevoll, ja demütig dem jesidischen Brauchtum nähert.
"Ich habe Angst, dass das, was ich gesehen und gehört habe, mir entgleitet. Dass mir mein Blick verschwimmt", schreibt Ronya Othmann im ersten Teil ihres Romans. Die Angst stellt sich als unbegründet dar. "Vierundsiebzig" ist vieles in einem - Autobiographie, Biographie, Reiseliteratur und Geschichtsschreibung in Echtzeit - und dennoch ein organisches Ganzes. Es ist ein Meilenstein der literarischen Genozidforschung und die Widerlegung der Behauptung, die Jesiden hätten keine Geschichte.
Ronya Othmann, "Vierundsiebzig". Roman. Rowohlt, 512 Seiten, 26 Euro. Alexandru Bulucz ist Lyriker und Übersetzer.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Man muss Othmanns Nervenstärke bewundern, die nötig gewesen sein muss für ihre teilnehmende Beobachtung. Und das erzählerische Können, dem sich ihre atemberaubende literarische Reportage verdankt. Sie ist eine große Schriftstellerin. Ronald Düker Die Zeit 20240321
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.03.2024Körperlich unversehrt
Kann ein Tausende Kilometer entfernt verübter Völkermord traumatisieren?
Ronya Othmann ergründet in „Vierundsiebzig“ den Genozid an den Jesiden.
Kennen Sie die Jesiden? Ja, da war doch was: Naher Osten 2014, Islamischer Staat, dramatische Bilder aus dem Sindschar-Gebirge, Völkermord, Vergewaltigungen und Versklavung, Nadia Murad, Friedensnobelpreis. So in etwa. Genauer wissen es die meisten schon deshalb nicht, weil über die Geschehnisse im Osten Syriens, im Nordwesten des Iraks kaum mehr berichtet wird, seit das Kalifat der Terrormiliz zerschlagen ist. Und man für schreckliche Kriegsbilder nur bis in den näheren Osten blicken muss, den Europas (wo der IS nun jedoch wieder zugeschlagen zu haben scheint, in Moskau).
So wenig sind die Jesidinnen und Jesiden jedenfalls Thema, dass die meisten Organisationen, Politiker und Medien in Deutschland (auch die SZ) sich bislang nicht die Mühe machen, bei der Erwähnung der Volksgruppe jene komplizierten Häkchen über die Buchstaben zu malen, die dort laut Eigenschreibung hingehören. Die Zeit, die man sich so bei den Êzîden spart, investiert man hingegen beim Schreiben des Namens des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, aber der ist schließlich Nato-Partner – einer, der bis heute seine Drohnen regelmäßig über die Grenze schickt, um Gebiete der Volksgruppe zu bombardieren, die 2014 knapp der totalen Vernichtung entging. Bei Weitem nicht zum ersten Mal, sondern nach Zählung der Jesiden zum 74. Mal in ihrer Geschichte, die somit eine Geschichte des Leidens ist – und eine des Überlebens.
Diese Zahl – „Vierundsiebzig“ – hat Ronya Othmann als Titel ihres Buches gewählt, und natürlich verwendet sie die richtigen Schriftzeichen, verwendet sie die richtigen Ausdrücke. Und trotzdem tritt sie, Tochter eines säkular orientierten Jesiden und einer Deutschen, nicht als allwissende Expertin auf, die den Lesern die Geschichte der Religionsgemeinschaft referiert, ihre von Außenstehenden oft als rätselhaft beschriebenen Riten erklärt, die von einem Kastenwesen geprägte Gesellschaft analysiert.
Ronya Othmann ist selbst auf der Suche, natürlich mit Wissensvorsprung durch biografischen Bezug. Mit Kindheitserinnerungen an die Besuche bei den Verwandten in Syrien, mit einem Schatz von alten Videokassetten von Familienfesten, die sich ihre über viele Länder verteilten Verwandten zuschickten, um in Kontakt zu bleiben, um mit den Namen von Cousinen und Cousins, Onkeln und Tanten auch Gesichter verbinden zu können. Aber gehört sie, die sie in Freising als Tochter eines Mannes aufgewachsen ist, der gegen die strengen Heiratsgesetze der Gemeinschaft verstoßen hat, denn eigentlich dazu? Othmann weiß es nicht. „Ich schrecke davor zurück, die Linie weiterzuziehen, bis zu mir“, schreibt sie. „Die Frage, ob ich selbst Êzîdin bin oder nicht, kann ich nicht beantworten. Ich bin es, und ich bin es nicht.“
Seine traumatische Wirkung entfaltet der vom IS verübte Völkermord jedoch auch über die Distanz und auch, vielleicht sogar: gerade bei solchen, die sich ihrer Identität letztlich nicht ganz sicher sind. Aus Othmanns Zeilen kann man eine Art „survivor guilt“ herauszulesen, das schlechte Gewissen, überlebt zu haben. „Einer Freundin sage ich, dass ich 2014 ja verschont geblieben bin. Ich frage mich, warum ich das immer wieder betone, vor mir selbst und vor anderen“, schreibt sie. „Körperlich unversehrt.“
Vielleicht sieht sie es deshalb als ihre Aufgabe an, wenigstens die Verbrechen des IS sichtbar zu machen, präsenter. Von den Massenmorden an den jesidischen Männern zu erzählen und von den Sklavenmärkten, auf denen die Frauen verkauft wurden. Und davon, dass die Schrecken aus dem Jahr 2014 andauern – bis heute werden damals entführte Frauen und Kinder unter den Insassen jener Gefängnislager in Nordostsyrien vermutet, in die nach dem Ende des Kalifats dessen Anhänger eingesperrt wurden. Bis heute sind viele der Häuser leer, aus denen die Jesiden im August vor zehn Jahren in heller Panik flohen, als die Kämpfer des IS anrückten. Es waren oft die muslimischen Nachbarn, von denen die Jesiden verraten wurden: „Woher sollten die Tschetschenen, Tadschiken, Deutschen beim IS, die Franzosen, Engländer, Tunesier wissen, wer Êzîde ist“, sie hätten doch nie zuvor von der Gemeinschaft gehört. Bis heute hat die Justiz nur einen Bruchteil der Mörder verurteilt. In fünfminütigen Blitzverfahren in Irak, in langen und komplizierten Verfahren in Deutschland, wohin sich Täter und Opfer in einigen wenigen Fällen vor Gericht wiedertrafen.
Wenn ein Roman ein „wichtiges Buch“ genannt wird, dann schwingt da im Subtext oft mit: superrelevantes Thema, aber ein wenig anstrengend und ehrlich gesagt: mit Schwächen im Plot. „Vierundsiebzig“ ist auch in diesem polemischen Sinne ein „wichtiges Buch“, was die Autorin auf dessen Seiten schon selbst reflektiert: „Hier kann es keinen fertigen Text geben, keine Entwicklung bis zur Katharsis, keine Erkenntnis, keine Figuren, keinen Plot.“ Stattdessen kreist Othmann um die richtigen Begriffe, sucht nach dem richtigen Blickwinkel, macht dieses Suchen und Kreisen wiederum selbst zum Thema. „Ich nehme mir vor, die Stücke zusammenzusetzen, das falsche Wort durch ein weniger falsches zu ersetzen. Schreiben ist vielleicht Aufbauarbeit, aber vielleicht ist auch das eine Illusion.“
„Vierundsiebzig“ ist aber in Tagen, in denen das Thema Genozid wegen des Zeitgeschehens in Nahost mal juristisch, mal wissenschaftlich, mal polemisch und nicht selten saudumm verhandelt wird, auch ganz unpolemisch ein „wichtiges Buch“. Othmann blickt weit über die Geschichte der Jesiden hinaus, zeigt, in welcher Frequenz es zu Vertreibungen und Deportationen, Massenmorden und Pogromen kam in der Region entlang des Euphrat und des Tigris, in der die von den Kolonialmächten gezogenen Grenzen nur willkürliche Linien im Flickenteppich der Konfessionen und Ethnien sind. Armenier, Juden, Assyrer, Schiiten – die Jesiden sind nicht die einzige Minderheit, die im Osmanischen Reich und den Staaten, die es beerbten, blutige Verfolgung erlebten.
Othmann schreibt – das ist aus Opferperspektive vielleicht verständlich, aber manchmal etwas generalisierend – sunnitischen Muslimen zu, einen Hegemonialanspruch durchsetzen zu wollen. Mal mit blutiger Gewalt, mal viel subtiler: Wenn Taxifahrer Koran-Rezitationen im Auto laufen lassen, wenn im Fernseher in der Ecke Panoramabilder aus Mekka laufen, dann interpretiert Othmann das als Machtdemonstration. Auf Umtriebe des politischen Islams, auf das von ihr wahrgenommene Schweigen von muslimischen Verbänden zu den Gräueltaten der Hamas hat sie auch in Kolumnen für deutsche Medien immer wieder hingewiesen.
Und diese auf Deutsch verfassten Texte waren wohl der Auslöser, dass sich am anderen Ende der Welt ein Shitstorm zusammenbraute, der eine Lesung aus „Vierundsiebzig“ verhinderte: Othmann war zu einem Literaturfestival in Karatschi eingeladen, doch nachdem sie erst in den sozialen Medien und dann in der pakistanischen Presse als „Muslim-Feindin“ und „Zionistin“ gebrandmarkt wurde, verließ sie nach nur 40 Stunden das Land, ohne aufgetreten zu sein. Es war nicht Othmann, die aus Sicherheitsgründen zurückzog, die Festivalleitung sah sich außerstande, die Veranstaltung durchzuführen, nachdem sich die Moderatorin weigerte, mit Othmann zusammen aufzutreten. Eine Literaturprofessorin aus England, wohlgemerkt, die aber weder die deutschen Kolumnen noch den für das Festival vorgesehenen 20-seitigen Auszug aus „Vierundsiebzig“ gelesen hatte.
Wenn man das jedoch tut, liest man bald gebannt, wie Othmann ihren Recherchebericht ausbreitet. Sie besucht Prozesse gegen IS-Täter in Deutschland, recherchiert in Bibliotheken, listet Funde aus Archiven auf, zitiert aus den Reiseberichten jener Männer (und der einen berühmten Frau, Gertrude Bell), die Ende es 19., Anfang des 20. Jahrhunderts mit orientalistischem Blick und einem Spaten für die Grabungen durch die Region reisten.
Othmann reist auch selbst, in das türkisch-syrische Grenzgebiet, wo Ankara in seinem Vorgehen gegen kurdische Kräfte ganze Städte einebnen ließ. Sie reist in den Nordirak, der von einer autonomen kurdischen Regionalregierung verwaltet wird, ohne dort die Genehmigung zu bekommen, das Sindschar-Gebirge betreten zu dürfen.
Sie reist in die irakische Hauptstadt Bagdad und fährt eben von dort in Richtung des Schicksalsbergs der Jesiden. Sie zählt die Checkpoints, über denen alle Kilometer andere Flaggen wehen – irakische Armee, schiitische Milizen, kurdische Peschmerga, kurdische PKK –, die aber alle ähnlich gebaut sind, wie die Zeit überdauernde Provisorien.
Sie sieht Trümmer, bis sie die Trümmer zu typologisieren beginnt. „Ich notiere: Das Material, aus dem ein Haus gebaut wurde, bestimmt den Charakter seiner Ruine. Ich schreibe: Das Haus in der Altstadt ergibt eine andere Ruine als das Betonhaus am Stadtrand.“ Irgendwann kommt sie bei ihren Verwandten an. Trinkt Tee, schläft ein, müde von der Reise, wird von den kleinen Mädchen der Familie noch einmal geweckt, um die süßen Feigen des Sindschar zu kosten.
Doch Othmann ist nicht deshalb gekommen, sie fährt weiter. In den Ort Kodscho, aus dem auch die zur Aktivistin gewordene Überlebende Nadia Murad stammt, der Ort, dessen Menschen und Mauern am 15. August 2014 fast vollständig ausgelöscht wurden. Sie läuft durch die Schule, in der IS-Kämpfer die Frauen und Kinder zusammentrieben, während ihre Väter, Brüder und Söhne erschossen wurden. Das Gräberfeld hinter dem Gebäude ist so groß, dass es Othmann nicht gelingt, es auf einem Foto festzuhalten.
„Ich denke, dass eine Geschichte immer aus zweierlei besteht“, schreibt sie, „dem, was erzählt wird, und dem, was unerzählt bleibt“. Othmann bezieht das eigentlich auf die Lücken, die jeder Text hat, auch der ihre. Und trotzdem schließt „Vierundsiebzig“ in erster Linie Lücken. Denn, noch einmal gefragt: Kennen Sie die Jesiden?
MORITZ BAUMSTIEGER
Das schlechte
Gewissen,
überlebt zu haben
Armenier, Juden,
Assyrer, Schiiten –
sie alle hat es getroffen
„Ich bin es, und ich bin es nicht“, sagt Ronya Othmann zu ihrer jesidischen Identität.
Foto: Paula Winkler
Ronya Othmann:
Vierundsiebzig. Rowohlt Verlag, Hamburg 2024.
512 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Kann ein Tausende Kilometer entfernt verübter Völkermord traumatisieren?
Ronya Othmann ergründet in „Vierundsiebzig“ den Genozid an den Jesiden.
Kennen Sie die Jesiden? Ja, da war doch was: Naher Osten 2014, Islamischer Staat, dramatische Bilder aus dem Sindschar-Gebirge, Völkermord, Vergewaltigungen und Versklavung, Nadia Murad, Friedensnobelpreis. So in etwa. Genauer wissen es die meisten schon deshalb nicht, weil über die Geschehnisse im Osten Syriens, im Nordwesten des Iraks kaum mehr berichtet wird, seit das Kalifat der Terrormiliz zerschlagen ist. Und man für schreckliche Kriegsbilder nur bis in den näheren Osten blicken muss, den Europas (wo der IS nun jedoch wieder zugeschlagen zu haben scheint, in Moskau).
So wenig sind die Jesidinnen und Jesiden jedenfalls Thema, dass die meisten Organisationen, Politiker und Medien in Deutschland (auch die SZ) sich bislang nicht die Mühe machen, bei der Erwähnung der Volksgruppe jene komplizierten Häkchen über die Buchstaben zu malen, die dort laut Eigenschreibung hingehören. Die Zeit, die man sich so bei den Êzîden spart, investiert man hingegen beim Schreiben des Namens des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, aber der ist schließlich Nato-Partner – einer, der bis heute seine Drohnen regelmäßig über die Grenze schickt, um Gebiete der Volksgruppe zu bombardieren, die 2014 knapp der totalen Vernichtung entging. Bei Weitem nicht zum ersten Mal, sondern nach Zählung der Jesiden zum 74. Mal in ihrer Geschichte, die somit eine Geschichte des Leidens ist – und eine des Überlebens.
Diese Zahl – „Vierundsiebzig“ – hat Ronya Othmann als Titel ihres Buches gewählt, und natürlich verwendet sie die richtigen Schriftzeichen, verwendet sie die richtigen Ausdrücke. Und trotzdem tritt sie, Tochter eines säkular orientierten Jesiden und einer Deutschen, nicht als allwissende Expertin auf, die den Lesern die Geschichte der Religionsgemeinschaft referiert, ihre von Außenstehenden oft als rätselhaft beschriebenen Riten erklärt, die von einem Kastenwesen geprägte Gesellschaft analysiert.
Ronya Othmann ist selbst auf der Suche, natürlich mit Wissensvorsprung durch biografischen Bezug. Mit Kindheitserinnerungen an die Besuche bei den Verwandten in Syrien, mit einem Schatz von alten Videokassetten von Familienfesten, die sich ihre über viele Länder verteilten Verwandten zuschickten, um in Kontakt zu bleiben, um mit den Namen von Cousinen und Cousins, Onkeln und Tanten auch Gesichter verbinden zu können. Aber gehört sie, die sie in Freising als Tochter eines Mannes aufgewachsen ist, der gegen die strengen Heiratsgesetze der Gemeinschaft verstoßen hat, denn eigentlich dazu? Othmann weiß es nicht. „Ich schrecke davor zurück, die Linie weiterzuziehen, bis zu mir“, schreibt sie. „Die Frage, ob ich selbst Êzîdin bin oder nicht, kann ich nicht beantworten. Ich bin es, und ich bin es nicht.“
Seine traumatische Wirkung entfaltet der vom IS verübte Völkermord jedoch auch über die Distanz und auch, vielleicht sogar: gerade bei solchen, die sich ihrer Identität letztlich nicht ganz sicher sind. Aus Othmanns Zeilen kann man eine Art „survivor guilt“ herauszulesen, das schlechte Gewissen, überlebt zu haben. „Einer Freundin sage ich, dass ich 2014 ja verschont geblieben bin. Ich frage mich, warum ich das immer wieder betone, vor mir selbst und vor anderen“, schreibt sie. „Körperlich unversehrt.“
Vielleicht sieht sie es deshalb als ihre Aufgabe an, wenigstens die Verbrechen des IS sichtbar zu machen, präsenter. Von den Massenmorden an den jesidischen Männern zu erzählen und von den Sklavenmärkten, auf denen die Frauen verkauft wurden. Und davon, dass die Schrecken aus dem Jahr 2014 andauern – bis heute werden damals entführte Frauen und Kinder unter den Insassen jener Gefängnislager in Nordostsyrien vermutet, in die nach dem Ende des Kalifats dessen Anhänger eingesperrt wurden. Bis heute sind viele der Häuser leer, aus denen die Jesiden im August vor zehn Jahren in heller Panik flohen, als die Kämpfer des IS anrückten. Es waren oft die muslimischen Nachbarn, von denen die Jesiden verraten wurden: „Woher sollten die Tschetschenen, Tadschiken, Deutschen beim IS, die Franzosen, Engländer, Tunesier wissen, wer Êzîde ist“, sie hätten doch nie zuvor von der Gemeinschaft gehört. Bis heute hat die Justiz nur einen Bruchteil der Mörder verurteilt. In fünfminütigen Blitzverfahren in Irak, in langen und komplizierten Verfahren in Deutschland, wohin sich Täter und Opfer in einigen wenigen Fällen vor Gericht wiedertrafen.
Wenn ein Roman ein „wichtiges Buch“ genannt wird, dann schwingt da im Subtext oft mit: superrelevantes Thema, aber ein wenig anstrengend und ehrlich gesagt: mit Schwächen im Plot. „Vierundsiebzig“ ist auch in diesem polemischen Sinne ein „wichtiges Buch“, was die Autorin auf dessen Seiten schon selbst reflektiert: „Hier kann es keinen fertigen Text geben, keine Entwicklung bis zur Katharsis, keine Erkenntnis, keine Figuren, keinen Plot.“ Stattdessen kreist Othmann um die richtigen Begriffe, sucht nach dem richtigen Blickwinkel, macht dieses Suchen und Kreisen wiederum selbst zum Thema. „Ich nehme mir vor, die Stücke zusammenzusetzen, das falsche Wort durch ein weniger falsches zu ersetzen. Schreiben ist vielleicht Aufbauarbeit, aber vielleicht ist auch das eine Illusion.“
„Vierundsiebzig“ ist aber in Tagen, in denen das Thema Genozid wegen des Zeitgeschehens in Nahost mal juristisch, mal wissenschaftlich, mal polemisch und nicht selten saudumm verhandelt wird, auch ganz unpolemisch ein „wichtiges Buch“. Othmann blickt weit über die Geschichte der Jesiden hinaus, zeigt, in welcher Frequenz es zu Vertreibungen und Deportationen, Massenmorden und Pogromen kam in der Region entlang des Euphrat und des Tigris, in der die von den Kolonialmächten gezogenen Grenzen nur willkürliche Linien im Flickenteppich der Konfessionen und Ethnien sind. Armenier, Juden, Assyrer, Schiiten – die Jesiden sind nicht die einzige Minderheit, die im Osmanischen Reich und den Staaten, die es beerbten, blutige Verfolgung erlebten.
Othmann schreibt – das ist aus Opferperspektive vielleicht verständlich, aber manchmal etwas generalisierend – sunnitischen Muslimen zu, einen Hegemonialanspruch durchsetzen zu wollen. Mal mit blutiger Gewalt, mal viel subtiler: Wenn Taxifahrer Koran-Rezitationen im Auto laufen lassen, wenn im Fernseher in der Ecke Panoramabilder aus Mekka laufen, dann interpretiert Othmann das als Machtdemonstration. Auf Umtriebe des politischen Islams, auf das von ihr wahrgenommene Schweigen von muslimischen Verbänden zu den Gräueltaten der Hamas hat sie auch in Kolumnen für deutsche Medien immer wieder hingewiesen.
Und diese auf Deutsch verfassten Texte waren wohl der Auslöser, dass sich am anderen Ende der Welt ein Shitstorm zusammenbraute, der eine Lesung aus „Vierundsiebzig“ verhinderte: Othmann war zu einem Literaturfestival in Karatschi eingeladen, doch nachdem sie erst in den sozialen Medien und dann in der pakistanischen Presse als „Muslim-Feindin“ und „Zionistin“ gebrandmarkt wurde, verließ sie nach nur 40 Stunden das Land, ohne aufgetreten zu sein. Es war nicht Othmann, die aus Sicherheitsgründen zurückzog, die Festivalleitung sah sich außerstande, die Veranstaltung durchzuführen, nachdem sich die Moderatorin weigerte, mit Othmann zusammen aufzutreten. Eine Literaturprofessorin aus England, wohlgemerkt, die aber weder die deutschen Kolumnen noch den für das Festival vorgesehenen 20-seitigen Auszug aus „Vierundsiebzig“ gelesen hatte.
Wenn man das jedoch tut, liest man bald gebannt, wie Othmann ihren Recherchebericht ausbreitet. Sie besucht Prozesse gegen IS-Täter in Deutschland, recherchiert in Bibliotheken, listet Funde aus Archiven auf, zitiert aus den Reiseberichten jener Männer (und der einen berühmten Frau, Gertrude Bell), die Ende es 19., Anfang des 20. Jahrhunderts mit orientalistischem Blick und einem Spaten für die Grabungen durch die Region reisten.
Othmann reist auch selbst, in das türkisch-syrische Grenzgebiet, wo Ankara in seinem Vorgehen gegen kurdische Kräfte ganze Städte einebnen ließ. Sie reist in den Nordirak, der von einer autonomen kurdischen Regionalregierung verwaltet wird, ohne dort die Genehmigung zu bekommen, das Sindschar-Gebirge betreten zu dürfen.
Sie reist in die irakische Hauptstadt Bagdad und fährt eben von dort in Richtung des Schicksalsbergs der Jesiden. Sie zählt die Checkpoints, über denen alle Kilometer andere Flaggen wehen – irakische Armee, schiitische Milizen, kurdische Peschmerga, kurdische PKK –, die aber alle ähnlich gebaut sind, wie die Zeit überdauernde Provisorien.
Sie sieht Trümmer, bis sie die Trümmer zu typologisieren beginnt. „Ich notiere: Das Material, aus dem ein Haus gebaut wurde, bestimmt den Charakter seiner Ruine. Ich schreibe: Das Haus in der Altstadt ergibt eine andere Ruine als das Betonhaus am Stadtrand.“ Irgendwann kommt sie bei ihren Verwandten an. Trinkt Tee, schläft ein, müde von der Reise, wird von den kleinen Mädchen der Familie noch einmal geweckt, um die süßen Feigen des Sindschar zu kosten.
Doch Othmann ist nicht deshalb gekommen, sie fährt weiter. In den Ort Kodscho, aus dem auch die zur Aktivistin gewordene Überlebende Nadia Murad stammt, der Ort, dessen Menschen und Mauern am 15. August 2014 fast vollständig ausgelöscht wurden. Sie läuft durch die Schule, in der IS-Kämpfer die Frauen und Kinder zusammentrieben, während ihre Väter, Brüder und Söhne erschossen wurden. Das Gräberfeld hinter dem Gebäude ist so groß, dass es Othmann nicht gelingt, es auf einem Foto festzuhalten.
„Ich denke, dass eine Geschichte immer aus zweierlei besteht“, schreibt sie, „dem, was erzählt wird, und dem, was unerzählt bleibt“. Othmann bezieht das eigentlich auf die Lücken, die jeder Text hat, auch der ihre. Und trotzdem schließt „Vierundsiebzig“ in erster Linie Lücken. Denn, noch einmal gefragt: Kennen Sie die Jesiden?
MORITZ BAUMSTIEGER
Das schlechte
Gewissen,
überlebt zu haben
Armenier, Juden,
Assyrer, Schiiten –
sie alle hat es getroffen
„Ich bin es, und ich bin es nicht“, sagt Ronya Othmann zu ihrer jesidischen Identität.
Foto: Paula Winkler
Ronya Othmann:
Vierundsiebzig. Rowohlt Verlag, Hamburg 2024.
512 Seiten, 26 Euro.
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