Berlin, mitten in den Neunzigern. Die Stadt liegt da wie eine utopische Verheißung, offen für alle: für Fabian, den drogenaffinen Partyhengst, den dichtenden Alki Lennard, die depressiv-hysterische Lily, verkrachte Bildungsbürgerkinder und Hausbesetzer, die in verschiedenen Lebens-und Kunstdisziplinen vor sich hin dilettieren. Zwischen ihnen treibt Larissa durch die Stadt, geflüchtet aus der Provinz, möchte irgendwie studieren, ist aber zugleich auf der Suche nach vielfältigen Objekten ihres Begehrens: Sie träumt von dem Einen, Unerreichbaren, folgt Verlockungen am Wege, versucht sich in gesunder Zweisamkeit und verzehrt sich in einer schweren sexuellen Obsession - wie lange kann das alles gutgehen? Denn die Neunziger, das sind auch Abstürze und die Vorboten der Gentrifizierung. Irgendwann stellt sich auch für Larissa die ewige Frage, ob man ein funktionierendes Mitglied der Gesellschaft werden möchte - oder lieber als heiliger Outlaw im glamourösen subkulturellen Slackertum verschwindet.
Eine Hommage an das wilde, lebenshungrige Berlin und an die Zeit der wahren Party. Rebekka Kricheldorfs Roman ist ein sprachliches Feuerwerk, scharf gezeichnet und echt.
Eine Hommage an das wilde, lebenshungrige Berlin und an die Zeit der wahren Party. Rebekka Kricheldorfs Roman ist ein sprachliches Feuerwerk, scharf gezeichnet und echt.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Christine Dössel kann sich Rebekka Kricheldorfs Roman nicht ganz hingeben. Mit autobiografischen Anklängen, wie Dössel vermutet, erzählt die renommierte Theaterregisseurin von der 22-jährigen Larissa, die sich im Berlin der 90er-Jahre durchs Nachtleben schlägt. Das wird sehr "saftig" erzählt, mit skurrilen Figuren und fetzigen Dialogen, so die Rezensentin - Dössels Zeichnung des Berlinerischen "anarchokreativen" Slackertums überzeugt sie, auch wenn nicht alle Daten stimmen. Jedoch stört sie sich etwas an der politischen Trägheit der Protagonistin, und kritisiert vor allem, dass sich hinter all der sexuellen Zügellosigkeit letztlich doch nur eine Suche nach "Mr. Right" verberge. Am Ende leider nur eine schmuddeligere Version von Bridget Jones, schließt sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.04.2021Wodka,
eine Mark
Bridget Jones im Berlin der Neunziger:
Rebekka Kricheldorfs Roman „Lustprinzip“
VON CHRISTINE DÖSSEL
Beachtlich, was die Ich-Erzählerin auf 238 Seiten und innerhalb eines Jahres alles wegsäuft. Nicht, dass man sie gleich zu den großen Trinkern der Weltliteratur zählen möchte. Deren Abstürze sind schwärzer und ihre Seelenabgründe existenzieller. Aber als Barfly des Berliner Nachtkiezlebens hat Larissa mindestens einen Bukowski-Gedächtnis-Bourbon verdient. Zumal sie ohnehin Bukowski-Leserin ist, „Charles“ nennt sie ihn vertraulich. Im ersten Viertel des Buches erzählt sie, wie in der Kaschemme ihres Vertrauens in den vormittäglichen Ausläufern der Nacht sein Tod verkündet wird. Womit wir eine konkrete Zeitangabe hätten: Bukowski starb am 9. März 1994.
Man muss sich solche Anhaltspunkte bei der Lektüre von Rebekka Kricheldorfs Roman „Lustprinzip“ zusammenklauben wie vom Baum gefallene Äpfel der näheren Erkenntnis. Larissas Alter erfährt man auf Seite 152 („Erst zweiundzwanzig und schon ein Klischee“), die Klarnamen von Künstlern und Künstlerinnen, die vorkommen, gar nicht, auch wenn sie leicht zu erraten sind: Christoph Schlingensief (der Performance-Regisseur der Volksbühne, „den sie alle verehren wie einen Guru“), Michel Houellebecq (dieser „hässliche französische Autor“, zu dessen Lesung die Erzählerin fährt), Peaches (die „Frau in einem Kostüm aus Brüsten“, mit deren Auftritt das Buch endet). Und „Iggy“ ist natürlich der unverwüstliche Iggy Pop, beim Konzert in der Columbiahalle „lebendig wie eine Koppel Pferde“.
Kricheldorfs Roman funktioniert wie ein – ausführliches, literarisch inspiriertes – Tagebuch, er will nicht ständig Koordinaten nennen. Dass es sich um das Berlin der Neunzigerjahre handelt, in dem Larissa die Nächte versäuft und die Tage verhudelt, erschließt sich trotzdem schnell. Die Baulöcher auf der Stalinallee, das in Grau getauchte Friedrichshain, wo Larissa in einem der besetzten Häuser wohnt, zugezogen aus „Kleinkackhausen“, dem begabten Timo hinterher, der bei seinen Heimatbesuchen immer von den Segnungen der Nachwendestadt erzählte: endlose Partys in Kellerbars und auf Dächern, jede Nacht „Sex, Exzess und Poesie“. Und das alles so billig, du glaubst es kaum. Bier und Wodka für eine Mark, riesige Fabriketagen für schlappe 150. Es kostet im Endeffekt dann aber doch mehr, Timo zum Beispiel das Leben. Sein Suizid steht am Anfang des Romans. Am Ende werden zwei weitere Freunde von Larissa tot sein. Das Aus der sagenumwobenen Berliner Ausnahmejahre mit ihren anarchokreativen Freiräumen kündigt sich an. Die Gentrifizierer sind im Anmarsch.
Die Freiburgerin Rebekka Kricheldorf, Jahrgang 1974, kennt das Berlin der Nachwendezeit, über das sie schreibt, aus eigener Erfahrung. Vielleicht schreibt sie auch über die eigene Erfahrung, der Tagebuch-Eindruck legt das nahe. Von 1995 bis 1997 studierte sie Romanistik an der Humboldt-Universität, danach Szenisches Schreiben an der Universität der Künste. Mit Erfolg, aus Kricheldorf ist eine originelle, viel beschäftigte Dramatikerin geworden, die mit ihren Stücken – etwa für das Deutsche Theater Berlin, das Deutsche Theater Göttingen oder das Staatstheater Kassel – mehrmals für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert war. Auch dieses Jahr steht sie als eine von sieben wieder in diesem Wettbewerb. Was Kricheldorf als Stückeschreiberin auszeichnet, ist: Sie kann Komödie. Das können nicht viele. „Lustprinzip“, ihren ersten Roman, hatte man sich von daher komödienrunder, sarkastischer, böser vorgestellt. Nicht, dass die Autorin es bei der Schilderung des berlinspezifischen Slackertums an Witz, rotzigen Sprüchen und Jargon fehlen ließe. Das ist schon alles sehr saftig und plastisch aufgeschrieben, mit szenischer Kraft und Figuren, die auf- und abtreten wie in einer skurrilen Typenparade. Aber die Grundstimmung ist eher abgefuckt-depressiv, ranzig wie die „Bar ohne Kühlschrank“, in der die Protagonistin zecht und Männer abschleppt. Einen größeren Handlungsbogen sollte man nicht erwarten. Wo das dumpfe Abhängen zentrale Betätigung ist, unterbrochen nur durch gelegentliche Zügellosigkeiten, geht nichts voran, allenfalls mal etwas ab. Die (als) oberflächlich gezeichnete, ichbezogene Larissa ist nicht gerade eine Sympathieträgerin, hält sich selber aber für etwas Besonderes. Besser als die angepassten „Joghurtfressen“, „Normopathen“ und „vom Kapitalismus gefickten Schweine“. Ihre Versuche, doch mal ein Uni-Seminar zu besuchen, scheitern schon beim Betreten des „Bildungsbunkers“ an körperlichen Abstoßungsreaktionen. Aber sie liest viel. Beatliteratur, Richard Brautigan, Philippe Djian. Sie fängt sogar mit dem „Kapital“ an und verteidigt „American Psycho“ von Bret Easton Ellis gegen den Vorwurf der Frauenfeindlichkeit als „das beste Buch, das seit zehn Jahren geschrieben wurde“. Wobei sie den Autor kumpelhaft „Bret“ nennt, auf Du und Du mit ihren Heiligen. Auch das Kino, in das die Heldin sich verzieht, um „Leon der Profi“ oder alle Teile von Lars von Triers „The Kingdom – Hospital der Geister“ anzuschauen, bietet ein dankbares Referenzsystem. Allerdings sind Filme wie „Lost Highway“ und „Boogie Nights“ erst 1997 herausgekommen, „Love is the Devil“, 1998, während der in fünf Jahreszeiten-Kapitel eingeteilte Roman den Anschein erweckt, von Winter bis Winter 1994/95 zu spielen. Der Datencheck haut nicht hin, man sollte ihn besser lassen und solche Verschiebungen als Freiheit der Fiktion entschuldigen.
Als umfassendes Zeitdokument der Berliner Nineties taugt Larissas subjektivistischer Bericht ohnehin nicht. Ja, die Erzählerin geht auf eine Techno- und auch mal auf eine Fetisch-Party, lässt weder Speed noch Ecstasy aus. Sie verpasst aber auch vieles, was in der zum Mythos gewordenen Untergrundkultur jener Tage passiert, in den Galerien, den Clubs, der legendären Techno-Szene, in Kulturstätten wie dem Tacheles oder an Frank Castorfs stilprägender Volksbühne jenseits von Schlingensiefs theatralen Anfängen. Dazu kommt sie zu wenig aus ihrem Besetzer-Kiez und ihrer Lethargie heraus. Sie weiß um die Lichterkette gegen rechts, die Anti-Papst-Demo, den ersten Mai, ist aber „zu matt für eine gute Wut“. Sie begleitet ihre Freunde nicht einmal zur Loveparade. Man muss an Sven Regeners „Herrn Lehmann“ denken, der mit seinen Trinkkumpanen in einer Kreuzberger Pinte den Mauerfall verpasst. Kricheldorfs Roman hat etwas von diesem Geist.
Aber auch vom „Leben der Bohème“, wie es Aki Kaurismäki in seinem prekariats-poetischen Künstlerfilm zeichnet: Larissas verdreckte Wohnung mit Kohleofen und Schimmelkulturen. Ihr Geldmangel, die ewige Schnorrerei. Der Rotwein aus dem Tetra Pak, die Klamotten secondhand. Auch ihre Freunde sind verstrahlte Bohemiens, der Frauenzuquatscher Jan mit seinen Kernthemen Sex und Klassenkampf oder der Möchtegerndichter Lennard, der sich zu Tode säuft. Larissas Mitbewohnerin, die zu schubhafter Expressivität neigende Lily, ebnet sich ihren Weg zum Theater mit unbezahlten Komparsenjobs, für die sie sich immer ausziehen muss. Ein Freak-Panoptikum: „Wir sind in Berlin, dem Sonderort für sonderbare Sondermenschen. Wir sind die Guten.“ Man kriegt sie im literarischen Sonderangebot.
Neben den Schilderungen des Siff- und Suff-Milieus mit schönen barphilosophischen Würfen und aphoristischen Skizzen geht es in dem Roman vor allem um eines: das Sexleben der Erzählerin. Larissa wankt von One-Night-Stand zu One-Night-Stand, verfällt mit rückhaltloser Gier einem Eric, versucht dieser Obsession zu entkommen, zum Beispiel, indem sie sich mit dem rundum schönen Jurastudenten Mirko einlässt, der für sie aber viel zu freundlich, sportlich und gesund ist. Witzig, wie sie dessen Bilderbuch-WG in Charlottenburg beschreibt (mit taz-Abo!) und die ganze Weißweinschorlen-Normalität. Kricheldorf schreibt erfreulich unverkrampft über weibliche Sexualität, lässt ihre Heldin mit schamlosem Begehren Männer aufreißen, Unterwerfungsfantasien ausleben und wilde Lust empfinden. Larissas Haltlosigkeit liegt allerdings, da offenbart der Roman seine Spießigkeit, die Sehnsucht nach dem Einen zugrunde, den sie in Janek aus ihrem Heimatort erkannt haben will. Auf ihn projiziert sie ihre Träume von der großen Liebe, umso mehr, als Janek gar nicht da ist, sondern in Indien.
Dass es einer Protagonistin, die sich so krass gibt, letzten Endes wieder nur um die Suche nach Mr. Right geht, ist entlarvend. „Lustprinzip“ ist dann eben doch „Bridget Jones“ für die Subkultur, auch vom Humorlevel her, ein pointiert schmuddeliges Pendant.
Mit schamlosem Begehren
lebt die Erzählerin ihre
Unterwerfungsfantasien aus
Love-Parade-Party in der Kulturbrauerei: Was ging da noch mal genau vor sich im Berlin der Neunzigerjahre?
Foto: David Heerde/imago stock&people
Rebekka Kricheldorf: Lustprinzip. Roman. Rowohlt Berlin,
Berlin 2021.
240 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
eine Mark
Bridget Jones im Berlin der Neunziger:
Rebekka Kricheldorfs Roman „Lustprinzip“
VON CHRISTINE DÖSSEL
Beachtlich, was die Ich-Erzählerin auf 238 Seiten und innerhalb eines Jahres alles wegsäuft. Nicht, dass man sie gleich zu den großen Trinkern der Weltliteratur zählen möchte. Deren Abstürze sind schwärzer und ihre Seelenabgründe existenzieller. Aber als Barfly des Berliner Nachtkiezlebens hat Larissa mindestens einen Bukowski-Gedächtnis-Bourbon verdient. Zumal sie ohnehin Bukowski-Leserin ist, „Charles“ nennt sie ihn vertraulich. Im ersten Viertel des Buches erzählt sie, wie in der Kaschemme ihres Vertrauens in den vormittäglichen Ausläufern der Nacht sein Tod verkündet wird. Womit wir eine konkrete Zeitangabe hätten: Bukowski starb am 9. März 1994.
Man muss sich solche Anhaltspunkte bei der Lektüre von Rebekka Kricheldorfs Roman „Lustprinzip“ zusammenklauben wie vom Baum gefallene Äpfel der näheren Erkenntnis. Larissas Alter erfährt man auf Seite 152 („Erst zweiundzwanzig und schon ein Klischee“), die Klarnamen von Künstlern und Künstlerinnen, die vorkommen, gar nicht, auch wenn sie leicht zu erraten sind: Christoph Schlingensief (der Performance-Regisseur der Volksbühne, „den sie alle verehren wie einen Guru“), Michel Houellebecq (dieser „hässliche französische Autor“, zu dessen Lesung die Erzählerin fährt), Peaches (die „Frau in einem Kostüm aus Brüsten“, mit deren Auftritt das Buch endet). Und „Iggy“ ist natürlich der unverwüstliche Iggy Pop, beim Konzert in der Columbiahalle „lebendig wie eine Koppel Pferde“.
Kricheldorfs Roman funktioniert wie ein – ausführliches, literarisch inspiriertes – Tagebuch, er will nicht ständig Koordinaten nennen. Dass es sich um das Berlin der Neunzigerjahre handelt, in dem Larissa die Nächte versäuft und die Tage verhudelt, erschließt sich trotzdem schnell. Die Baulöcher auf der Stalinallee, das in Grau getauchte Friedrichshain, wo Larissa in einem der besetzten Häuser wohnt, zugezogen aus „Kleinkackhausen“, dem begabten Timo hinterher, der bei seinen Heimatbesuchen immer von den Segnungen der Nachwendestadt erzählte: endlose Partys in Kellerbars und auf Dächern, jede Nacht „Sex, Exzess und Poesie“. Und das alles so billig, du glaubst es kaum. Bier und Wodka für eine Mark, riesige Fabriketagen für schlappe 150. Es kostet im Endeffekt dann aber doch mehr, Timo zum Beispiel das Leben. Sein Suizid steht am Anfang des Romans. Am Ende werden zwei weitere Freunde von Larissa tot sein. Das Aus der sagenumwobenen Berliner Ausnahmejahre mit ihren anarchokreativen Freiräumen kündigt sich an. Die Gentrifizierer sind im Anmarsch.
Die Freiburgerin Rebekka Kricheldorf, Jahrgang 1974, kennt das Berlin der Nachwendezeit, über das sie schreibt, aus eigener Erfahrung. Vielleicht schreibt sie auch über die eigene Erfahrung, der Tagebuch-Eindruck legt das nahe. Von 1995 bis 1997 studierte sie Romanistik an der Humboldt-Universität, danach Szenisches Schreiben an der Universität der Künste. Mit Erfolg, aus Kricheldorf ist eine originelle, viel beschäftigte Dramatikerin geworden, die mit ihren Stücken – etwa für das Deutsche Theater Berlin, das Deutsche Theater Göttingen oder das Staatstheater Kassel – mehrmals für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert war. Auch dieses Jahr steht sie als eine von sieben wieder in diesem Wettbewerb. Was Kricheldorf als Stückeschreiberin auszeichnet, ist: Sie kann Komödie. Das können nicht viele. „Lustprinzip“, ihren ersten Roman, hatte man sich von daher komödienrunder, sarkastischer, böser vorgestellt. Nicht, dass die Autorin es bei der Schilderung des berlinspezifischen Slackertums an Witz, rotzigen Sprüchen und Jargon fehlen ließe. Das ist schon alles sehr saftig und plastisch aufgeschrieben, mit szenischer Kraft und Figuren, die auf- und abtreten wie in einer skurrilen Typenparade. Aber die Grundstimmung ist eher abgefuckt-depressiv, ranzig wie die „Bar ohne Kühlschrank“, in der die Protagonistin zecht und Männer abschleppt. Einen größeren Handlungsbogen sollte man nicht erwarten. Wo das dumpfe Abhängen zentrale Betätigung ist, unterbrochen nur durch gelegentliche Zügellosigkeiten, geht nichts voran, allenfalls mal etwas ab. Die (als) oberflächlich gezeichnete, ichbezogene Larissa ist nicht gerade eine Sympathieträgerin, hält sich selber aber für etwas Besonderes. Besser als die angepassten „Joghurtfressen“, „Normopathen“ und „vom Kapitalismus gefickten Schweine“. Ihre Versuche, doch mal ein Uni-Seminar zu besuchen, scheitern schon beim Betreten des „Bildungsbunkers“ an körperlichen Abstoßungsreaktionen. Aber sie liest viel. Beatliteratur, Richard Brautigan, Philippe Djian. Sie fängt sogar mit dem „Kapital“ an und verteidigt „American Psycho“ von Bret Easton Ellis gegen den Vorwurf der Frauenfeindlichkeit als „das beste Buch, das seit zehn Jahren geschrieben wurde“. Wobei sie den Autor kumpelhaft „Bret“ nennt, auf Du und Du mit ihren Heiligen. Auch das Kino, in das die Heldin sich verzieht, um „Leon der Profi“ oder alle Teile von Lars von Triers „The Kingdom – Hospital der Geister“ anzuschauen, bietet ein dankbares Referenzsystem. Allerdings sind Filme wie „Lost Highway“ und „Boogie Nights“ erst 1997 herausgekommen, „Love is the Devil“, 1998, während der in fünf Jahreszeiten-Kapitel eingeteilte Roman den Anschein erweckt, von Winter bis Winter 1994/95 zu spielen. Der Datencheck haut nicht hin, man sollte ihn besser lassen und solche Verschiebungen als Freiheit der Fiktion entschuldigen.
Als umfassendes Zeitdokument der Berliner Nineties taugt Larissas subjektivistischer Bericht ohnehin nicht. Ja, die Erzählerin geht auf eine Techno- und auch mal auf eine Fetisch-Party, lässt weder Speed noch Ecstasy aus. Sie verpasst aber auch vieles, was in der zum Mythos gewordenen Untergrundkultur jener Tage passiert, in den Galerien, den Clubs, der legendären Techno-Szene, in Kulturstätten wie dem Tacheles oder an Frank Castorfs stilprägender Volksbühne jenseits von Schlingensiefs theatralen Anfängen. Dazu kommt sie zu wenig aus ihrem Besetzer-Kiez und ihrer Lethargie heraus. Sie weiß um die Lichterkette gegen rechts, die Anti-Papst-Demo, den ersten Mai, ist aber „zu matt für eine gute Wut“. Sie begleitet ihre Freunde nicht einmal zur Loveparade. Man muss an Sven Regeners „Herrn Lehmann“ denken, der mit seinen Trinkkumpanen in einer Kreuzberger Pinte den Mauerfall verpasst. Kricheldorfs Roman hat etwas von diesem Geist.
Aber auch vom „Leben der Bohème“, wie es Aki Kaurismäki in seinem prekariats-poetischen Künstlerfilm zeichnet: Larissas verdreckte Wohnung mit Kohleofen und Schimmelkulturen. Ihr Geldmangel, die ewige Schnorrerei. Der Rotwein aus dem Tetra Pak, die Klamotten secondhand. Auch ihre Freunde sind verstrahlte Bohemiens, der Frauenzuquatscher Jan mit seinen Kernthemen Sex und Klassenkampf oder der Möchtegerndichter Lennard, der sich zu Tode säuft. Larissas Mitbewohnerin, die zu schubhafter Expressivität neigende Lily, ebnet sich ihren Weg zum Theater mit unbezahlten Komparsenjobs, für die sie sich immer ausziehen muss. Ein Freak-Panoptikum: „Wir sind in Berlin, dem Sonderort für sonderbare Sondermenschen. Wir sind die Guten.“ Man kriegt sie im literarischen Sonderangebot.
Neben den Schilderungen des Siff- und Suff-Milieus mit schönen barphilosophischen Würfen und aphoristischen Skizzen geht es in dem Roman vor allem um eines: das Sexleben der Erzählerin. Larissa wankt von One-Night-Stand zu One-Night-Stand, verfällt mit rückhaltloser Gier einem Eric, versucht dieser Obsession zu entkommen, zum Beispiel, indem sie sich mit dem rundum schönen Jurastudenten Mirko einlässt, der für sie aber viel zu freundlich, sportlich und gesund ist. Witzig, wie sie dessen Bilderbuch-WG in Charlottenburg beschreibt (mit taz-Abo!) und die ganze Weißweinschorlen-Normalität. Kricheldorf schreibt erfreulich unverkrampft über weibliche Sexualität, lässt ihre Heldin mit schamlosem Begehren Männer aufreißen, Unterwerfungsfantasien ausleben und wilde Lust empfinden. Larissas Haltlosigkeit liegt allerdings, da offenbart der Roman seine Spießigkeit, die Sehnsucht nach dem Einen zugrunde, den sie in Janek aus ihrem Heimatort erkannt haben will. Auf ihn projiziert sie ihre Träume von der großen Liebe, umso mehr, als Janek gar nicht da ist, sondern in Indien.
Dass es einer Protagonistin, die sich so krass gibt, letzten Endes wieder nur um die Suche nach Mr. Right geht, ist entlarvend. „Lustprinzip“ ist dann eben doch „Bridget Jones“ für die Subkultur, auch vom Humorlevel her, ein pointiert schmuddeliges Pendant.
Mit schamlosem Begehren
lebt die Erzählerin ihre
Unterwerfungsfantasien aus
Love-Parade-Party in der Kulturbrauerei: Was ging da noch mal genau vor sich im Berlin der Neunzigerjahre?
Foto: David Heerde/imago stock&people
Rebekka Kricheldorf: Lustprinzip. Roman. Rowohlt Berlin,
Berlin 2021.
240 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Brillant geschrieben ... Eine Hommage an die Freiheit der Jugend, die einmal auch die Freiheit Berlins nach der Wende war Claas Christophersen NDR Kultur "Buch" 20210325