Dürren, Überschwemmungen, Tornados - in den letzten Jahren häufen sich extreme Wetterlagen und sind doch nur ein Punkt auf einer langen Liste von grundstürzenden Veränderungen, mit denen die Menschheit zu kämpfen hat. Längst geht es nicht mehr nur darum, was wir tun können, um die Folgen des Klimawandels zu verhindern, sondern darum, was wir tun können, um ihnen zu begegnen. In einem aufrüttelnden Essay, der in den Niederlanden bereits 2020 erschien, ruft der Bestseller-Autor Rutger Bregman dazu auf, die Augen nicht länger vor dem Unvermeidlichen zu verschließen: der Meeresspiegel steigt, Sturmfluten werden häufiger, die Küstenregionen Europas, ganze Länder, das Zuhause von Millionen Menschen ist bedroht. Visionär hält Bregman der Menschheit ihre Katastrophenvergessenheit vor Augen und zeigt, dass oft erst das Schlimmste eintreffen muss, damit umwälzende Maßnahmen ergriffen werden. Die jüngste Vergangenheit bestätigt seine Gedanken.
Die promovierte Historikerin und Journalistin Susanne Götze hat den Essay um die deutsche Perspektive erweitert und ein Nachwort zur aktuellen Lage verfasst.
Die promovierte Historikerin und Journalistin Susanne Götze hat den Essay um die deutsche Perspektive erweitert und ein Nachwort zur aktuellen Lage verfasst.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Niklas Elsenbruch empfiehlt nicht nur das Buch des Historikers Rutger Bregmann, sondern auch, auf die Weckrufe der Wissenschaftler zu hören, die der Autor in seinem Buch zu Wort kommen lässt. Wie es um den Hochwasserschutz in Deutschland und in den Niederlanden steht (schlecht!), erfährt Elsenbruch ebenso, wie ihm der Autor die viel zu schwachen Bemühungen auseinandersetzt, dem Wasser mit Pumpwerken und Baggerschiffen etwas entgegenzusetzen. Fachtermini wie managed retreat erläutert ihm Bregmann auch.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.11.2021Drei Meter, ist das viel?
Der niederländische Historiker Rutger Bregman warnt Holland und Deutschland vor dem Anstieg des Meeresspiegels – und vor ihrer Katastrophenblindheit
Der Meeresspiegel steigt? Aber das wissen wir. Oder? Um wie viel noch mal bis wann genau? Im schlimmsten Fall um drei Meter bis 2100 und fünf bis acht Meter ein Jahrhundert später. Das sagen die Prognosen des Königlich-Niederländischen Meteorologischen Instituts, und wurden diese bislang korrigiert, dann nur nach oben.
Drei Meter, ist das viel? Der niederländische Historiker und Publizist Rutger Bregman, der einem größeren Publikum bekannt wurde, als er auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos 2019 in einer viel beachteten Rede die Steuervermeidungsstrategien der Reichen anprangerte, sagt es in seinem neuen Buch „Wenn das Wasser kommt“ so: Die Deltawerke in den Niederlanden, das weltgrößte Schutzsystem gegen Hochwasser, „sind für einen Meeresspiegelanstieg von 40 Zentimetern ausgelegt“. Deutschland verfügt über keine vergleichbare Infrastruktur. Das Problem liegt damit auf der Hand und zugleich die Frage: Was tun wir und unsere Regierungen, um den Anstieg zu minimieren und seinen Folgen vorzubeugen? In Bregmans Worten: Warum tun wir nicht viel mehr?
Der 33-Jährige fokussiert sich in dem schmalen, wasserblauen Band auf diesen einen Aspekt des Klimawandels und beschränkt sich auf dessen Bedeutung für die Niederlande und Deutschland. Natürlich ist das Problem globaler Natur. Andere Länder sind weit akuter betroffen, etwa die langsam verschwindenden Malediven, deren Landfläche zu 80 Prozent unter dem Meeresspiegel liegt.
Doch Bregman ist Pragmatiker genug um zu wissen, dass seine Leser nichts so sehr tangiert wie das Auftauchen einer Gefahr am eigenen Küstenstreifen. Wer sich das Buch an einem ausgedehnten Abend in der Badewanne vornimmt, stößt bald auf eine unschöne Gleichzeitigkeit: „Die Randstad – in der mehr als acht Millionen Menschen leben – ist eine riesige Badewanne, die jedes Jahr weiter in den Boden sinkt, während das Wasser steigt.“
An der deutschen Küste kann schon heute das Regenwasser teilweise nicht mehr natürlich abfließen, weil das Meer jenseits der Deiche höher liegt als das Binnenland dahinter. Hier helfen schon Pumpstationen aus – allerdings mit äußerst beachtlichem Energieaufwand.
Die Niederlande müssten bei einem Anstieg des Meeresspiegels um zwei Meter „die größten Pumpstationen der Welt bauen und 24 Stunden am Tag das Wasser aus den Flüssen hinauf ins Meer pumpen“. Dafür benötigten sie 25-mal so viel Sand zur Verstärkung der Küsten wie heute. „Schließlich läge eine Flotte von Baggerschiffen permanent in der Nordsee, um unaufhörlich Sand an die Küste zu spucken.“ Bas Jonkman, Professor für Hydrotechnik an der Technischen Universität Delft, sinniert in Bregmans Buch bereits über künstliche Inseln vor der niederländischen Küste, die sich als Wellenbrecher zu einem Ringdeich verbinden ließen.
Der Landschaftsökologe Michael Kleyer von der Universität Oldenburg hält so kostspieligen Entwürfen entgegen: „Wir dürfen das Meer nicht nur aussperren, sondern müssen ihm Raum geben.“ Dies bedeute für die Menschen den Rückzug von der Küste, um etwa Salzwiesen als Überschwemmungsgebiete entstehen zu lassen. Der Fachbegriff dafür existiert schon: managed retreat.
Wie die Politik diese beiden Ansätze auch gewichtet, betont Bregman, sei vor allem rasches Handeln geboten. Zu häufig reagierten wir erst im Ernstfall. Dies illustriert sein Rückgriff auf den Ingenieur Johan van Veen: Als selbsternannter „Dr. Kassandra“ wurde dieser 20 Jahre lang für seine Warnungen vor einer Flutkatastrophe in den Niederlanden verlacht – ehe 1953 bei der schwersten Nordsee-Sturmflut des Jahrhunderts die Dämme brachen und 100 000 Menschen aus ihren Häusern fliehen mussten. Im Anschluss setzte die Regierung in Windeseile seine Pläne zum Bau der Deltawerke um.
Im benachbarten Deutschland geschah derweil: nichts. Erst die Sturmflut von 1962 rüttelte Politik und Öffentlichkeit wach. Und heute, fast 60 Jahre später? Kassandras haben wir mehr als genug, ob in Gestalt von Wissenschaftlern oder der Hochwasserkatastrophe des vergangenen Sommers in Westdeutschland. Es könnte an der Zeit sein, auf sie hören.
NIKLAS ELSENBRUCH
Rutger Bregmann
(mit Susanne Götze):
Wenn das Wasser kommt. Essay. Aus dem
Niederländischen von Ulrich Faure.
Rowohlt, Hamburg 2021. 63 Seiten, 8 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der niederländische Historiker Rutger Bregman warnt Holland und Deutschland vor dem Anstieg des Meeresspiegels – und vor ihrer Katastrophenblindheit
Der Meeresspiegel steigt? Aber das wissen wir. Oder? Um wie viel noch mal bis wann genau? Im schlimmsten Fall um drei Meter bis 2100 und fünf bis acht Meter ein Jahrhundert später. Das sagen die Prognosen des Königlich-Niederländischen Meteorologischen Instituts, und wurden diese bislang korrigiert, dann nur nach oben.
Drei Meter, ist das viel? Der niederländische Historiker und Publizist Rutger Bregman, der einem größeren Publikum bekannt wurde, als er auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos 2019 in einer viel beachteten Rede die Steuervermeidungsstrategien der Reichen anprangerte, sagt es in seinem neuen Buch „Wenn das Wasser kommt“ so: Die Deltawerke in den Niederlanden, das weltgrößte Schutzsystem gegen Hochwasser, „sind für einen Meeresspiegelanstieg von 40 Zentimetern ausgelegt“. Deutschland verfügt über keine vergleichbare Infrastruktur. Das Problem liegt damit auf der Hand und zugleich die Frage: Was tun wir und unsere Regierungen, um den Anstieg zu minimieren und seinen Folgen vorzubeugen? In Bregmans Worten: Warum tun wir nicht viel mehr?
Der 33-Jährige fokussiert sich in dem schmalen, wasserblauen Band auf diesen einen Aspekt des Klimawandels und beschränkt sich auf dessen Bedeutung für die Niederlande und Deutschland. Natürlich ist das Problem globaler Natur. Andere Länder sind weit akuter betroffen, etwa die langsam verschwindenden Malediven, deren Landfläche zu 80 Prozent unter dem Meeresspiegel liegt.
Doch Bregman ist Pragmatiker genug um zu wissen, dass seine Leser nichts so sehr tangiert wie das Auftauchen einer Gefahr am eigenen Küstenstreifen. Wer sich das Buch an einem ausgedehnten Abend in der Badewanne vornimmt, stößt bald auf eine unschöne Gleichzeitigkeit: „Die Randstad – in der mehr als acht Millionen Menschen leben – ist eine riesige Badewanne, die jedes Jahr weiter in den Boden sinkt, während das Wasser steigt.“
An der deutschen Küste kann schon heute das Regenwasser teilweise nicht mehr natürlich abfließen, weil das Meer jenseits der Deiche höher liegt als das Binnenland dahinter. Hier helfen schon Pumpstationen aus – allerdings mit äußerst beachtlichem Energieaufwand.
Die Niederlande müssten bei einem Anstieg des Meeresspiegels um zwei Meter „die größten Pumpstationen der Welt bauen und 24 Stunden am Tag das Wasser aus den Flüssen hinauf ins Meer pumpen“. Dafür benötigten sie 25-mal so viel Sand zur Verstärkung der Küsten wie heute. „Schließlich läge eine Flotte von Baggerschiffen permanent in der Nordsee, um unaufhörlich Sand an die Küste zu spucken.“ Bas Jonkman, Professor für Hydrotechnik an der Technischen Universität Delft, sinniert in Bregmans Buch bereits über künstliche Inseln vor der niederländischen Küste, die sich als Wellenbrecher zu einem Ringdeich verbinden ließen.
Der Landschaftsökologe Michael Kleyer von der Universität Oldenburg hält so kostspieligen Entwürfen entgegen: „Wir dürfen das Meer nicht nur aussperren, sondern müssen ihm Raum geben.“ Dies bedeute für die Menschen den Rückzug von der Küste, um etwa Salzwiesen als Überschwemmungsgebiete entstehen zu lassen. Der Fachbegriff dafür existiert schon: managed retreat.
Wie die Politik diese beiden Ansätze auch gewichtet, betont Bregman, sei vor allem rasches Handeln geboten. Zu häufig reagierten wir erst im Ernstfall. Dies illustriert sein Rückgriff auf den Ingenieur Johan van Veen: Als selbsternannter „Dr. Kassandra“ wurde dieser 20 Jahre lang für seine Warnungen vor einer Flutkatastrophe in den Niederlanden verlacht – ehe 1953 bei der schwersten Nordsee-Sturmflut des Jahrhunderts die Dämme brachen und 100 000 Menschen aus ihren Häusern fliehen mussten. Im Anschluss setzte die Regierung in Windeseile seine Pläne zum Bau der Deltawerke um.
Im benachbarten Deutschland geschah derweil: nichts. Erst die Sturmflut von 1962 rüttelte Politik und Öffentlichkeit wach. Und heute, fast 60 Jahre später? Kassandras haben wir mehr als genug, ob in Gestalt von Wissenschaftlern oder der Hochwasserkatastrophe des vergangenen Sommers in Westdeutschland. Es könnte an der Zeit sein, auf sie hören.
NIKLAS ELSENBRUCH
Rutger Bregmann
(mit Susanne Götze):
Wenn das Wasser kommt. Essay. Aus dem
Niederländischen von Ulrich Faure.
Rowohlt, Hamburg 2021. 63 Seiten, 8 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de