Emma Rothschild
Gebundenes Buch
Eine Hochzeit in der Provinz
Die Spuren der Familie Aymard über zwei Jahrhunderte europäischer Geschichte
Mitarbeit: François, Étienne;Übersetzung: Gabel, Tobias; Pinnow, Jörn
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Die Geschichte Frankreichs als Familiengeschichte: Ein lebendiges PanoramaWas können wir heute über das Leben ganz normaler Menschen aus vergangenen Zeiten erfahren? Marie Aymard lebt als Witwe im 18. Jahrhundert in Angoulême im Südwesten Frankreichs. Sie ist eine einfache Frau, die nie Lesen und Schreiben gelernt hat - und doch hinterlässt sie Spuren in der Geschichte. Der Ehevertrag, den sie für ihre Tochter aufsetzen ließ, trug 83 Unterschriften. Dieses außergewöhnliche Dokument nimmt Emma Rothschild als Ausgangspunkt ihrer historischen Recherche. Sie verfolgt die Lebenswege von fÃ...
Die Geschichte Frankreichs als Familiengeschichte: Ein lebendiges Panorama
Was können wir heute über das Leben ganz normaler Menschen aus vergangenen Zeiten erfahren? Marie Aymard lebt als Witwe im 18. Jahrhundert in Angoulême im Südwesten Frankreichs. Sie ist eine einfache Frau, die nie Lesen und Schreiben gelernt hat - und doch hinterlässt sie Spuren in der Geschichte. Der Ehevertrag, den sie für ihre Tochter aufsetzen ließ, trug 83 Unterschriften. Dieses außergewöhnliche Dokument nimmt Emma Rothschild als Ausgangspunkt ihrer historischen Recherche. Sie verfolgt die Lebenswege von fünf Generationen nach, insgesamt drei- oder viertausend Menschen. In diesem Sachbuch entfaltet die Wirtschaftshistorikerin ein weitläufiges Epos über ganz alltägliche, wissbegierige, kontaktfreudige, abenteuerlustige Individuen, das erst mit Marie Aymards Ur-Ur-Enkelin Anfang des 20. Jahrhunderts endet.
- Alltagsleben in bewegten Zeiten: Die Geschichte eines weit verzweigten Familienclans
- Familienforschung: Einblick in ein Stück Beziehungs- und Vernetzungsgeschichte der Neuzeit
- Preisgekrönt mit dem PROSE Award für Europäische Geschichte
- Erzählendes Sachbuch, das Balzacs Sozialroman »Comédie Humaine« ähnelt
- Die Autorin ist eine der bedeutendsten Wirtschaftshistorikerinnen der Gegenwart
Welche Spuren hinterlässt man als ganz normaler Mensch in der Geschichte?
Emma Rothschild nimmt eine große, so normale wie ungewöhnliche Familie in den Fokus. Vor dem Hintergrund ihrer Biografien zeichnet sie die große Geschichte Frankreichs vom Ancien Régime bis zur Moderne nach. Ihr innovativer Ansatz, Geschichte »von unten« zu betrachten, bietet einzigartige Einblicke in das Leben im 18. und 19. Jahrhundert.
Am Beispiel der Großfamilie Aymard zeigt die Autorin, welche neuen Möglichkeiten historischer Forschungsarbeit die schier grenzenlose Menge an Quellenmaterial und Zeugnissen eröffnen.
Was können wir heute über das Leben ganz normaler Menschen aus vergangenen Zeiten erfahren? Marie Aymard lebt als Witwe im 18. Jahrhundert in Angoulême im Südwesten Frankreichs. Sie ist eine einfache Frau, die nie Lesen und Schreiben gelernt hat - und doch hinterlässt sie Spuren in der Geschichte. Der Ehevertrag, den sie für ihre Tochter aufsetzen ließ, trug 83 Unterschriften. Dieses außergewöhnliche Dokument nimmt Emma Rothschild als Ausgangspunkt ihrer historischen Recherche. Sie verfolgt die Lebenswege von fünf Generationen nach, insgesamt drei- oder viertausend Menschen. In diesem Sachbuch entfaltet die Wirtschaftshistorikerin ein weitläufiges Epos über ganz alltägliche, wissbegierige, kontaktfreudige, abenteuerlustige Individuen, das erst mit Marie Aymards Ur-Ur-Enkelin Anfang des 20. Jahrhunderts endet.
- Alltagsleben in bewegten Zeiten: Die Geschichte eines weit verzweigten Familienclans
- Familienforschung: Einblick in ein Stück Beziehungs- und Vernetzungsgeschichte der Neuzeit
- Preisgekrönt mit dem PROSE Award für Europäische Geschichte
- Erzählendes Sachbuch, das Balzacs Sozialroman »Comédie Humaine« ähnelt
- Die Autorin ist eine der bedeutendsten Wirtschaftshistorikerinnen der Gegenwart
Welche Spuren hinterlässt man als ganz normaler Mensch in der Geschichte?
Emma Rothschild nimmt eine große, so normale wie ungewöhnliche Familie in den Fokus. Vor dem Hintergrund ihrer Biografien zeichnet sie die große Geschichte Frankreichs vom Ancien Régime bis zur Moderne nach. Ihr innovativer Ansatz, Geschichte »von unten« zu betrachten, bietet einzigartige Einblicke in das Leben im 18. und 19. Jahrhundert.
Am Beispiel der Großfamilie Aymard zeigt die Autorin, welche neuen Möglichkeiten historischer Forschungsarbeit die schier grenzenlose Menge an Quellenmaterial und Zeugnissen eröffnen.
Emma Rothschild ist Professorin für Geschichte an der Harvard University, wo sie das Center for History and Economics leitet. Die britische Wirtschaftshistorikerin studierte in Oxford und am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und lehrte sowohl in Cambridge als auch an der École des Hautes Études en Sciences Sociales. Ihr Buch »Eine Hochzeit in der Provinz« gewann den PROSE Award für Europäische Geschichte und steht auf der Shortlist des Cundill History Prize. Etienne François, geb. 1943, ist ein deutsch-französischer Historiker. Er ist emeritierter Professor für Geschichte an der Universität Paris-I (Panthéon-Sorbonne) und an der Freien Universität Berlin und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Unter anderem gab er das dreibändige Werk "Deutsche Erinnerungsorte" heraus (zus. mit Hagen Schulze, 2001).
Produktbeschreibung
- Verlag: WBG Theiss
- Originaltitel: An Infinite History
- 1. Auflage
- Seitenzahl: 496
- Erscheinungstermin: 22. Juli 2022
- Deutsch
- Abmessung: 218mm x 155mm x 42mm
- Gewicht: 732g
- ISBN-13: 9783806244434
- ISBN-10: 380624443X
- Artikelnr.: 62796473
Herstellerkennzeichnung
Herder Verlag GmbH
Hermann-Herder-Str. 4
79104 Freiburg
kundenservice@herder.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mikrogeschichte kleiner Leute, die sich aus Testamenten, Kaufverträgen, Prozessen oder Eheschließungen erzählen lässt, ist seit den 1980er Jahren eine Kunst, die Emma Rothschild ganz vorzüglich beherrscht, lobt der hier rezensierende Globalhistoriker Jürgen Osterhammel. Ein Beispiel dafür ist diese Familiengeschichte der Marie Aymard, geboren 1713, bis zum Tod ihrer Ururenkelin 1906. 98 Nachkommen umfasst sie, Tolstois "Anna Karenina" hatte weniger Personal, versichert der Kritiker. Und was die Autorin aus trockenen Fakten und Urkunden über die Geschichte einer französischen Kleinbürgerfamilie erzählen kann, das ist für ihn "ein Kabinettstück historischer Vergegenwärtigungskunst". Gut, gelegentlich wird es ihm etwas zu viel, aber Rothschild blickt immer immer wieder vom Kleinkram auf das Städtchen, in dem sich wohl der größte Teil der Familie aufhielt. So entgeht sie der Gefahr, eine Knausgard der Geschichtsschreibung zu werden, resümiert der zufriedene Kritiker. Und ein "großer Mann" wird ihm am Ende auch noch geliefert: Charles Martial Allemand Lavigerie, der als hoher Geistlicher die Sklaverei bekämpfte und gleichzeitig das französische Imperium propagierte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Zuletzt doch noch ein Kardinal
Ein Kabinettstück historischer Kunst der Vergegenwärtigung: Emma Rothschild spürt der Geschichte einer Familie nach.
Von Jürgen Osterhammel
Dieses Buch ist tröstlich für alle, die sich um ihr Nachleben in der Erinnerung künftiger Generationen sorgen. Auch ohne Memoiren zu schreiben und ohne jeglichen Hauch von Prominenz hinterlassen wir "Spuren" - der Zentralbegriff des Buchtitels - auf Papier und im digitalen Raum. Keiner ist ein Niemand; jede und jeder kann zum Objekt von Fahndung und Geschichtsforschung werden. So ist es in der heutigen Google- und Facebook-Welt. So war es in Ansätzen schon, seit weltliche und geistliche Obrigkeiten begannen, ihre Untertanen und Gläubigen
Ein Kabinettstück historischer Kunst der Vergegenwärtigung: Emma Rothschild spürt der Geschichte einer Familie nach.
Von Jürgen Osterhammel
Dieses Buch ist tröstlich für alle, die sich um ihr Nachleben in der Erinnerung künftiger Generationen sorgen. Auch ohne Memoiren zu schreiben und ohne jeglichen Hauch von Prominenz hinterlassen wir "Spuren" - der Zentralbegriff des Buchtitels - auf Papier und im digitalen Raum. Keiner ist ein Niemand; jede und jeder kann zum Objekt von Fahndung und Geschichtsforschung werden. So ist es in der heutigen Google- und Facebook-Welt. So war es in Ansätzen schon, seit weltliche und geistliche Obrigkeiten begannen, ihre Untertanen und Gläubigen
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in Listen zu verzeichnen. Es muss nur eine Historikerin wie Emma Rothschild kommen, aktendurstig, spürsinnig und computerkundig, und die Namen auf solchen Listen - und letztlich auf Grabsteinen - in Beziehungen zueinander setzen. A kauft einen Obstgarten von B, C zieht D wegen eines zerbrochenen Kruges vor Gericht, E schreibt auf, was sie an F vererben will, G und H schließen einen Ehevertrag: Das sind die Quellenmoleküle, aus denen Minigeschichten werden. Anders gesagt: So entsteht Gesellschaft.
Die mühsame Kunst, aus wenigen und kargen Zeugnissen viel herauszuholen, vermag in der Geschichte der Neuzeit immer wieder zu verblüffen, während sie zur Arbeitsnormalität derjenigen gehört, die sich mit Archäologie, Alter Geschichte oder schriftlosen Gesellschaften befassen. Mikrohistorie und Alltagsgeschichte als Geschichte von Nobodys und "kleinen" Leuten waren neue Aufbrüche der 1980er-Jahre und sind niemals aus der Mode gekommen. Emma Rothschild hat diese Forschungsmethoden und Darstellungsweisen mit besonderer Virtuosität eingesetzt, sorgsam darauf bedacht, die Grenze zur historischen Fiktion nicht zu überschreiten.
Was das Vorhaben der Harvard-Professorin ungewöhnlich schwierig macht, ist die Fülle des Personals. Tolstois "Anna Karenina" handelt von etwa siebzig Charakteren; wenige der großen Romane des neunzehnten Jahrhunderts dürften darüber liegen. Rothschild überschreitet diese Schwelle, die auch eine der Fasslichkeit für Leser ist, um einiges. Sie schreibt über die Geschichte einer französischen Familie von der Geburt der Stamm-Mutter Marie Aymard 1713 bis zum Tod ihrer letzten Ururenkelin im Jahre 1906. Eigentlich beginnt sie erst mit einem Gründungsereignis im Dezember 1764, als Maries älteste Tochter Françoise den vierundzwanzigjährigen "Magister" Etienne Allemand heiratete. Ein Ehevertrag wurde aufgesetzt, den 83 Verwandte und Bekannte des Brautpaars unterzeichneten, die "Signatare". Für 81 von ihnen konnte Emma Rothschild zumindest Lebensdaten und die engsten Verwandtschaftsverhältnisse ermitteln, oft den Beruf, manchmal mehr. Von den Hochzeitsfeierlichkeiten 1764 weiß man übrigens nichts.
Françoise und Etienne bekamen zwölf Kinder, und bis zur fünften Generation war die Nachkommenschaft der Analphabetin Marie Aymard und ihres Mannes Louis Ferrand auf 67 Personen angewachsen. Louis selbst hatte sich als "Vertragsknecht" auf der damals noch französischen Karibikinsel Grenada verdingt und war dort um 1758 unter unklaren Umständen gestorben. Über insgesamt 98 der Nachkommen und Signatare hat Emma Rothschild so viel herausgefunden, dass sich von ihnen zumindest rudimentäre Geschichten erzählen lassen. Zählt man noch ein paar markante Figuren aus dem Leben der westfranzösischen Kleinstadt Angoulême hinzu, dem dominierenden Schauplatz des Geschehens, dann führt die historische Erzählerin die Regie über ein Ensemble von Figuren, das zahlreicher ist als das in "Anna Karenina" oder einem Roman von Charles Dickens.
Wie sie vermeidet, einfach nur ein biographisches Handbuch französischer Kleinbürger zu kompilieren, ist ein Kabinettstück historischer Vergegenwärtigungskunst. Manchmal ballen sich Geburten, Eheschließungen und Todesfälle allerdings so dicht, dass der narrative Faden verloren geht und sich Zweifel einstellen, ob man all das wirklich so genau wissen will. An solchen Stellen scheint Emma Rothschild zu schwanken, ob sie die Chronik und Genealogie einer Familie als Selbstzweck und Methodentriumph rekonstruieren will oder eher am Leitfaden dieser Familie die Ge-schichte einer französischen Kleinstadt entwickeln möchte. Das Buch wird überhaupt erst lesbar, weil sie sich fast immer detailsicher und anekdotenfreudig für die zweite Alternative entscheidet.
Dies fordert seinen Preis. "An Infinite History" lautet der Originaltitel des Buches. Er weckt kühne Erwartungen, mit denen die Autorin kokettiert und denen manche amerikanische und britische Rezensenten begeistert erlegen sind: Da sich mit der Zeit alles immer mehr verschränkt und vernetzt, könnte Familiengeschichte zur Geschichte Frankreichs und in der Fluchtlinie sogar zu Weltgeschichte werden? Würde die Genealogie der Familie Aymard-Ferrand bis heute verfolgt, wären die Gene des Urpaares dann nicht inzwischen über alle Kontinente verteilt? Also grenzenlose Geschichte? Eine Geschichte zudem, die so viel Vergangenheit - in Rothschilds Formulierung - "ans Licht holt", wie es nur irgend geht, und die auf eine historische Kartierung im Maßstab 1:1 hinausliefe, auf ein Geschichtsbuch so dick wie die Wirklichkeit.
Emma Rothschild spielt ab und zu mit diesem superpositivistischen Gedanken einer vermittlungslosen Repräsentation des Vergangenen und verwirft ihn dann doch wieder. Sie tut dies eher in ihrer historiographischen Praxis als in den eigenen Erläuterungen zu ihrem Programm. Denn was das Buch rettet, ist beherzte Konventionalität. Rothschild wendet sich gegen eine "strukturorientierte Geschichtswissenschaft", die nach Ursachen fragt, und beschreibt und analysiert dennoch eine Reihe von Strukturen: die Durchdringung der französischen Provinz des späten achtzehnten Jahrhunderts mit Spurenelementen von Kolonialismus, Rassismus und Sklaverei, den revolutionär neuen Charakter lokaler Staatsmacht um 1800 oder die Finanzgeschäfte einer bereits von Balzac verewigten Bourgeoisie, die ihre Schäfchen ins Trockene bringt, ohne unbedingt dramatisch "aufzusteigen".
Den Schluss des Buches hat die Geschichte der Historikerin gleichsam auf dem Silbertablett geliefert. Überraschend taucht in diesem Wimmelbild von Handwerkern, Ladenbesitzerinnen, niederen Beamten, Pensionswirtinnen und freigelassenen Sklaven ein VIP auf: Charles Martial Allemand Lavigerie (1825-1892), Kardinal, Erzbischof von Algier und Karthago, Propagandist des französischen Imperialismus, Gegner des Islams, genialer Geschäftsmann und Diplomat, Kämpfer gegen Sklaverei und Menschenhandel, Gelehrter, Philanthrop, Gründer der heute noch aktiven Missionsgesellschaft der Weißen Väter. "Überragend beeindruckend und strahlend" leuchte dieser "weltbekannte" Ur-urenkel von Marie Aymard über der Geschichte der Familie, in seinen Widersprüchen eine der faszinierendsten Persönlichkeiten der Epoche. Ihn musste Emma Rothschild nicht dem Vergessen entreißen. Wenn sie ihn anschaulich und abwägend porträtiert, dann ist das alles, nur nicht Alltagsgeschichte. Nach so vielen kleinen Leuten dann doch noch ein großer Mann.
Emma Rothschild: "Eine Hochzeit in der Provinz". Die Spuren der Familie Aymard über zwei Jahrhunderte europäischer Geschichte.
Aus dem Englischen von Tobias Gabel und Jörn Pinnow. wbg/Theiss Verlag, Darmstadt 2022. 496 S., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die mühsame Kunst, aus wenigen und kargen Zeugnissen viel herauszuholen, vermag in der Geschichte der Neuzeit immer wieder zu verblüffen, während sie zur Arbeitsnormalität derjenigen gehört, die sich mit Archäologie, Alter Geschichte oder schriftlosen Gesellschaften befassen. Mikrohistorie und Alltagsgeschichte als Geschichte von Nobodys und "kleinen" Leuten waren neue Aufbrüche der 1980er-Jahre und sind niemals aus der Mode gekommen. Emma Rothschild hat diese Forschungsmethoden und Darstellungsweisen mit besonderer Virtuosität eingesetzt, sorgsam darauf bedacht, die Grenze zur historischen Fiktion nicht zu überschreiten.
Was das Vorhaben der Harvard-Professorin ungewöhnlich schwierig macht, ist die Fülle des Personals. Tolstois "Anna Karenina" handelt von etwa siebzig Charakteren; wenige der großen Romane des neunzehnten Jahrhunderts dürften darüber liegen. Rothschild überschreitet diese Schwelle, die auch eine der Fasslichkeit für Leser ist, um einiges. Sie schreibt über die Geschichte einer französischen Familie von der Geburt der Stamm-Mutter Marie Aymard 1713 bis zum Tod ihrer letzten Ururenkelin im Jahre 1906. Eigentlich beginnt sie erst mit einem Gründungsereignis im Dezember 1764, als Maries älteste Tochter Françoise den vierundzwanzigjährigen "Magister" Etienne Allemand heiratete. Ein Ehevertrag wurde aufgesetzt, den 83 Verwandte und Bekannte des Brautpaars unterzeichneten, die "Signatare". Für 81 von ihnen konnte Emma Rothschild zumindest Lebensdaten und die engsten Verwandtschaftsverhältnisse ermitteln, oft den Beruf, manchmal mehr. Von den Hochzeitsfeierlichkeiten 1764 weiß man übrigens nichts.
Françoise und Etienne bekamen zwölf Kinder, und bis zur fünften Generation war die Nachkommenschaft der Analphabetin Marie Aymard und ihres Mannes Louis Ferrand auf 67 Personen angewachsen. Louis selbst hatte sich als "Vertragsknecht" auf der damals noch französischen Karibikinsel Grenada verdingt und war dort um 1758 unter unklaren Umständen gestorben. Über insgesamt 98 der Nachkommen und Signatare hat Emma Rothschild so viel herausgefunden, dass sich von ihnen zumindest rudimentäre Geschichten erzählen lassen. Zählt man noch ein paar markante Figuren aus dem Leben der westfranzösischen Kleinstadt Angoulême hinzu, dem dominierenden Schauplatz des Geschehens, dann führt die historische Erzählerin die Regie über ein Ensemble von Figuren, das zahlreicher ist als das in "Anna Karenina" oder einem Roman von Charles Dickens.
Wie sie vermeidet, einfach nur ein biographisches Handbuch französischer Kleinbürger zu kompilieren, ist ein Kabinettstück historischer Vergegenwärtigungskunst. Manchmal ballen sich Geburten, Eheschließungen und Todesfälle allerdings so dicht, dass der narrative Faden verloren geht und sich Zweifel einstellen, ob man all das wirklich so genau wissen will. An solchen Stellen scheint Emma Rothschild zu schwanken, ob sie die Chronik und Genealogie einer Familie als Selbstzweck und Methodentriumph rekonstruieren will oder eher am Leitfaden dieser Familie die Ge-schichte einer französischen Kleinstadt entwickeln möchte. Das Buch wird überhaupt erst lesbar, weil sie sich fast immer detailsicher und anekdotenfreudig für die zweite Alternative entscheidet.
Dies fordert seinen Preis. "An Infinite History" lautet der Originaltitel des Buches. Er weckt kühne Erwartungen, mit denen die Autorin kokettiert und denen manche amerikanische und britische Rezensenten begeistert erlegen sind: Da sich mit der Zeit alles immer mehr verschränkt und vernetzt, könnte Familiengeschichte zur Geschichte Frankreichs und in der Fluchtlinie sogar zu Weltgeschichte werden? Würde die Genealogie der Familie Aymard-Ferrand bis heute verfolgt, wären die Gene des Urpaares dann nicht inzwischen über alle Kontinente verteilt? Also grenzenlose Geschichte? Eine Geschichte zudem, die so viel Vergangenheit - in Rothschilds Formulierung - "ans Licht holt", wie es nur irgend geht, und die auf eine historische Kartierung im Maßstab 1:1 hinausliefe, auf ein Geschichtsbuch so dick wie die Wirklichkeit.
Emma Rothschild spielt ab und zu mit diesem superpositivistischen Gedanken einer vermittlungslosen Repräsentation des Vergangenen und verwirft ihn dann doch wieder. Sie tut dies eher in ihrer historiographischen Praxis als in den eigenen Erläuterungen zu ihrem Programm. Denn was das Buch rettet, ist beherzte Konventionalität. Rothschild wendet sich gegen eine "strukturorientierte Geschichtswissenschaft", die nach Ursachen fragt, und beschreibt und analysiert dennoch eine Reihe von Strukturen: die Durchdringung der französischen Provinz des späten achtzehnten Jahrhunderts mit Spurenelementen von Kolonialismus, Rassismus und Sklaverei, den revolutionär neuen Charakter lokaler Staatsmacht um 1800 oder die Finanzgeschäfte einer bereits von Balzac verewigten Bourgeoisie, die ihre Schäfchen ins Trockene bringt, ohne unbedingt dramatisch "aufzusteigen".
Den Schluss des Buches hat die Geschichte der Historikerin gleichsam auf dem Silbertablett geliefert. Überraschend taucht in diesem Wimmelbild von Handwerkern, Ladenbesitzerinnen, niederen Beamten, Pensionswirtinnen und freigelassenen Sklaven ein VIP auf: Charles Martial Allemand Lavigerie (1825-1892), Kardinal, Erzbischof von Algier und Karthago, Propagandist des französischen Imperialismus, Gegner des Islams, genialer Geschäftsmann und Diplomat, Kämpfer gegen Sklaverei und Menschenhandel, Gelehrter, Philanthrop, Gründer der heute noch aktiven Missionsgesellschaft der Weißen Väter. "Überragend beeindruckend und strahlend" leuchte dieser "weltbekannte" Ur-urenkel von Marie Aymard über der Geschichte der Familie, in seinen Widersprüchen eine der faszinierendsten Persönlichkeiten der Epoche. Ihn musste Emma Rothschild nicht dem Vergessen entreißen. Wenn sie ihn anschaulich und abwägend porträtiert, dann ist das alles, nur nicht Alltagsgeschichte. Nach so vielen kleinen Leuten dann doch noch ein großer Mann.
Emma Rothschild: "Eine Hochzeit in der Provinz". Die Spuren der Familie Aymard über zwei Jahrhunderte europäischer Geschichte.
Aus dem Englischen von Tobias Gabel und Jörn Pinnow. wbg/Theiss Verlag, Darmstadt 2022. 496 S., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Rothschild ist Wirtschaftshistorikerin und hat ein Buch über eine französische Familie geschrieben. 1995 besuchte sie den Ort das erste Mal; 2021 ist das Buch in England erschienen und liegt nun in einer deutschen Übersetzung vor. Rothschild verfolgt die Familie vom 18. bis ins 20. …
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Rothschild ist Wirtschaftshistorikerin und hat ein Buch über eine französische Familie geschrieben. 1995 besuchte sie den Ort das erste Mal; 2021 ist das Buch in England erschienen und liegt nun in einer deutschen Übersetzung vor. Rothschild verfolgt die Familie vom 18. bis ins 20. Jahrhundert und erwähnt auch weitere Bewohner des Ortes Angouleme.
Ausgangspunkt ist ein Ehevertrag mit 83 Unterschriften. Das weckte wohl die Neugier der Autorin; immerhin handelt es sich nur um einen kleinen Ort in der Provinz. Es kann aber auch der Erzbischof gewesen sein, der in der 5. Generation als Einziger aus der Familie weltweite Bekanntheit erlangte.
Der schöne Einband und neugierig machende Titel sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um ein Sachbuch mit detaillierten Beschreibungen der recherchierten Verhältnisse der einzelnen Personen handelt. Das ist manchmal sehr gut zu lesen aber auch häufig anstrengend, wenn alle 'Umstände' der Personen zum Teil wieder und wieder erwähnt werden. Als Nichtakademikerin habe ich jetzt Hochachtung vor Wirtschaftshistorikern. Das Buch ist in mehrfacher Hinsicht hochinteressant: ich wusste zuvor nicht, dass völlig normale Menschen zu dieser Zeit rege Reisetätigkeiten in die Kolonien hatten und dort auch mehrere Jahre lebten und arbeiteten. Zudem kannte ich den Reichtum der Kirche in Frankreich nicht und war überrascht, wie viele derer Grundstücke nach der Revolution bei den Bürgern landeten. Als Hobby Ahnenforscherin bin ich ein bisschen neidisch darauf, welche Quellen die Autorin beiziehen konnte und was sie alles zu Tage gefördert hat. Schön finde ich, dass die Abbildung des 'auslösenden' Dokuments, ein Lageplan und ein Stammbaum das Buch ergänzen. Ich habe trotzdem den Überblick über die vielen Personen verloren. Der umfangreiche Anhang mit Quellenangaben ist für Geschichtswissenschaftler bestimmt interessant und lässt eine deutliche Vertiefung der Inhalte zu.
Ich werde dieses Buch behalten und es in einigen Jahren zu Rate ziehen, wenn ich die Ergebnisse meiner Ahnenforschung zu Papier bringen möchte. Ich stelle fest, wie wichtig das exakte Zitieren von Quellen ist und wie interessant Abweichungen sein können. Vielleicht komme ich dann Dank Rothschild auch auf die Shortlist des Cundill History Prize :)
Für Menschen mit Interesse an Geschichte, Frankreich und/oder Ahnenforschung kann ich dieses Buch empfehlen. Ich habe wirklich etwas dazu gelernt. Von mir gibt es 4 Sterne für das Sachbuch.
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Ich muss sagen, dieses Buch hat mich sehr beeindruckt. Hier wird anhand der Familie Aymard und deren Umfeld, der Entwicklung des damaligen Frankreichs über Jahrhunderte nachgegangen. Wir lernen Marie Aymard und ihren Mann Louis Ferrand und die 83 Unterzeichner des Ehevertrages ihrer Tochter …
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Ich muss sagen, dieses Buch hat mich sehr beeindruckt. Hier wird anhand der Familie Aymard und deren Umfeld, der Entwicklung des damaligen Frankreichs über Jahrhunderte nachgegangen. Wir lernen Marie Aymard und ihren Mann Louis Ferrand und die 83 Unterzeichner des Ehevertrages ihrer Tochter Francoise kennen. Alles ausgehend von dem Ort Angouleme im westfranzösischen Départements Charente in der Region Nouvelle-Aquitaine. Mir war diese Stadt vorher nicht bekannt, aber nach der Lektüre dieses Buches kann ich mir wirklich ein Bild über die Entwicklung dieser Stadt und ihren Bewohnern machen. Es ist ein Sachbuch und trotzdem war es für mich wie eine lebendige Geschichte über die Menschen und ihren Lebensweg. Die Autorin hat in einem wahnsinnigen Arbeitsaufwand, die Geschichten der einzelnen Personen anhand von vorhandenen Steuerbescheiden, Briefen, Listen, Verträgen, Kircheneinträge usw. in den verschiedenensten Archiven nachvollzogen. Es ist beeindruckend zu erfahren, welchen Mengen an Informationen man dort noch über diese vergangenen Zeiten finden kann. Mit Hilfe der verschiedensten Aufzeichnungen kann man einigermaßen die Lebensumstände der Protagonisten nachvollziehen. Ich war beeindruckt über die Vielzahl an Auflistungen, die es überhaupt gibt. Eheverträge und Kaufverträge.. man denkt, es sind einfach nur begrenzt wichtige Informationen, aber man kann mit ihrer Hilfe vieles nachvollziehen. Wer wen wann und wo geheiratet hat, welches Vermögen vorhanden war, welche Personen im Umfeld wohnten und Kontakte untereinander hatten. Emma Rothschild hat hier sehr genau gearbeitet und diese vielen verschiedenen Informationen zu einem Ganzen zusammengefügt. Man erlebt die privaten Lebensläufe, aber dadurch natürlich auch die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Entwicklung der Menschen und der ganzen Region mit. Die Spuren sind sogar über die ganze Welt verteilt, denn die Menschen reisten schon damals aus den verschiedenensten Gründen durch die Welt. Auch daran lässt sich einiges erklären. Mir haben diese Lebensgeschichten sehr gut gefallen. Ich war über viele Dinge überrascht - mit der vielen Reisetätigkeit hätte ich z. B nie gerechnet. Oder auch die feministische Ausrichtung der Erbfolge, bei einigen der unverheirateten Frauen der Familie. Es ist spannend den Spuren der Personen und ihren Nachkommen über die Jahrhunderte zu folgen. Sehr hilfreich ist dabei natürlich der Stammbaum im Anhang. Außerdem werden auch im Anhang alle 83 Signatare des Ehevertrages nochmals genannt und einige Daten dazu gegeben. Das habe ich öfter beim Lesen genutzt. Es ist kein Buch fürs Lesen zwischendurch. Man braucht schon Zeit und Ruhe, damit man das Gelesene auch nachvollziehen kann. Denn es kommen ja sehr viele Namen und Begebenheiten vor. Aber für mich war das Buch eine sehr interessante Informationsquelle, um das Leben von normalen Bürgern durch die Jahrhunderte zu erleben. Denn hier wurden normale Menschen wie du und ich porträtiert und nicht Könige und Kaiser. Das finde ich mal besonders gut, denn hier erlebt man die Höhen und Tiefen, nicht nur der einzelnen Menschen, sondern auch eines ganzen Landes. Wie ging es den Menschen damals? Wie erlebten sie persönlich die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen? All diese Fragen werden hier an dem Beispielen der Protagonisten erzählt. Es ist spannend und man bekommt eine besondere Sicht auf die Geschichte... die Geschichte der Menschen und der Geschichte eines Landes. Für mich war es eine sehr unterhaltsame und lehrreiche Lektüre.
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Das Leben des gemeinen Volks, Frankreich, 1764 bis ins 20. Jahrhundert hinein
Die Autorin dieses Buches, eines Sachbuchs übrigens, ist Historikerin und für ihr Anliegen, sich mit der Geschichte Frankreichs zu beschäftigen, aus der Erlebensperspektive des einfaches Volks heraus, hat …
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Das Leben des gemeinen Volks, Frankreich, 1764 bis ins 20. Jahrhundert hinein
Die Autorin dieses Buches, eines Sachbuchs übrigens, ist Historikerin und für ihr Anliegen, sich mit der Geschichte Frankreichs zu beschäftigen, aus der Erlebensperspektive des einfaches Volks heraus, hat sie sich etwas sehr besonderes ausgedacht. Sie begibt sich auf die Spuren der Familie Aymard, deren offiziellle Gründung sich mit der Eheschließung im Jahre 1764 datiert. Der dazu ausgefertigte Heiratsvertrag, wurde in der französischen Stadt Angoulême von 83 Menschen unterschrieben. Nicht alle dieser Zeugen waren anwesend, nicht alle konnten schreiben, so das dieser Akt teilweise in Vertretung erfolgte, was die Zahl der später relevanten 'Forschungsobjekte' noch größer machte. Denn die Professorin Emma Rothschild arbeitete nahezu jeden dieser Menschen, mit seinen nachkommenden Generatioen, akribisch recherchierend, ab, um so ein möglichst vielfältiges Bild vom Leben den damaligen unteren Gesellschaftsschichten zu erhalten. Ob dieser Ansatz zu einer wissenschaftlich fundierten anzuerkennenden Arbeit führen würde, diese Frage hat sich die Autorin sicherlich auch selbst gestellt, aber sie hat sich hineingestürzt in diese monumentale Aufgabe. An die 200 Seiten Anhang mit den entsprechenden Quellen darin vermitteln einen kleinen Eindruck davon. Und es hat funktioniert und zu einem Werk geführt, dass obwohl akademisch angelegt, auch für den normalen Leser, dessen Anspruch neben Wissen auch Unterhaltung ist, interessante Erkundungen und Erkenntnisse bereit hält. Große Umwälzungen in der Geschichte Frankreichs inkl. der französischen Revolution und der Einbruch in die Welt des gemeinen Volks, das findet anders statt wie vielleicht erwartet und hat bisher eindeutig noch nicht die entsprechende Aufmerksamkeit der 'Forscherperspektive' erhalten. Jetzt schon.
Sehr interessant und für Interessierte absolut lesenswert.
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