In Nigeria, das wegen Vorwahlen zur Präsidentschaft außer Rand und Band ist, verkauft ein gerissener Geschäftemacher aus einem Krankenhaus gestohlene Körperteile für rituelle Praktiken. Der Chirurg Dr. Menka, teilt seine grausige Entdeckung mit seinem ältesten College-Freund, dem Lebemann und Ingenieur Duyole Pitan-Payne. Dieser ist im Begriff, einen prestigeträchtigen Posten als Energieberater bei den Vereinten Nationen in New York anzunehmen, aber es scheint jetzt, dass jemand entschlossen ist, dies zu verhindern. Und weder Dr. Menka noch Duyole wissen, wer ihre Feinde sind.
Wole Soyinka nimmt uns mit auf eine Tour de Force: ein mit Galgenhumor versetztes hochspannende Epos darüber, wie Macht und Gier und die Schatten des britischen Kolonialismus die Seele einer jungen Nation verderben.
Wole Soyinka nimmt uns mit auf eine Tour de Force: ein mit Galgenhumor versetztes hochspannende Epos darüber, wie Macht und Gier und die Schatten des britischen Kolonialismus die Seele einer jungen Nation verderben.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Thomas Brückner hält es für bemerkenswert, wie der hochbetagte Wole Soyinka noch einmal weit dazu ausholt, sowohl im eigenen Werk als auch in der Geschichte seiner Heimat Nigeria, um der nigerianischen Gesellschaft satirisch den Spiegel vorzuhalten. Dass er dabei so wortmächtig wie bildreich vorgeht, wenn er die Korruption und die Gewaltbereitschaft in Nigeria geißelt, erinnert den Rezensenten an die Klasse des Autors. Die Geschichte zweier Freunde, die sich angesichts der mörderischen Verhältnisse im Land an die Ideale ihrer Jugend erinnern, ist laut Brückner voller Bezüge zu realen Geschehnissen und Personen, das Buch eine Mischung aus Journalismus und Fiktion.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.04.2022Ein tödliches Glück
Nach fast einem halben Jahrhundert hat der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka
wieder einen Roman geschrieben. Er ist ein Ereignis
VON MARIE SCHMIDT
Möglich, dass Wole Soyinka die Tragödien seines Lebens jetzt noch einmal als Farce erzählt. Dass das alles eine Satire ist auf eine bestimmte nigerianische Gegenwart, auf selbstsüchtige Eliten, die Geschäftemacherei spiritueller Quacksalber, auf Bigotterie und Ehrpusseligkeit vielfältiger Würdenträger, die einander vorne herum mit ausgedachten Preisen behängen und in Hinterzimmern intrigieren: eine groteske Revue aus Korruption, Eitelkeit und Machtmissbrauch. Aber dann kommt es eben doch zu einem todernsten Wutausbruch.
Man konnte darauf hoffen. Seine politische Biografie und Leidensfähigkeit haben Soyinka mindestens so sehr zur Legende gemacht wie seine Theaterstücke, Gedichte, Essays und wenigen Romane. Zwischen dem neuen, „Die glücklichsten Menschen der Welt“, und dem letzten, „Zeit der Gesetzlosigkeit“ aus dem Jahr 1973, liegt fast ein halbes Jahrhundert, wenn man seine autobiografischen Bücher nicht mitzählt. Also eigentlich eine Sensation, dieses epische Alterswerk eines 87-jährigen Schriftstellers, der 1986 als erster Afrikaner den Literaturnobelpreis bekam und davor und danach zäh und aufopferungsvoll für die Demokratie in Nigeria stritt, sich mehrmals im Gefängnis wiederfand und im Exil. Aber auch in den USA, wo er lange Jahre an verschiedenen Universitäten lehrte, machte er nach der Trump-Wahl seinen Zorn öffentlich, zerschnitt seine Greencard und zog wieder nach Afrika.
Vom Thron des auch durch den Erfolg auf dem amerikanischen Buchmarkt berühmtesten Schreibenden Nigerias ist Soyinka spätestens 2013 gestoßen worden, als Chimamanda Ngozi Adichies Roman „Americanah“ erschien und ihr TED-Talk „We should all be feminists“ gesampelt in einem Song von Beyoncé auftauchte. Dass Feminismus manchmal auch darin besteht, die großen, alten Männer gebührend zu ehren, kann man an der Liebeserklärung sehen, die Adichie 2021 in der britischen Times auf Soyinka schrieb. Er sei mit weit über achtzig eine eindrucksvolle Erscheinung, heißt es da, mit „weicher Haut, schlanker Energie, einem Sinn für dramatische Gesten und einer volltönenden Stimme, die sich ihres Klangs bewusst ist“. Sein Stil wirke indessen manchmal wie ein Schutzschild, um Gefühle von sich fernzuhalten: „Soyinkas wortkarge Männlichkeit kommt mir fremd und faszinierend vor.“
Wortkarg wäre nicht der Begriff, der einem einfiele bei den weitschweifig vorgestellten Szenerien und kreisenden Charakterisierungen von Soyinkas Roman. Eine uferlose Form, die schon Leser seines politischen Lebenslaufes „Brich auf in früher Dämmerung“ von 2006 bemerkt haben. Merkwürdigerweise hält Adichies These trotzdem, weil viele Kapitel von „Die glücklichsten Menschen der Welt“ wie gewaltige, enorm aufwendige Expositionen zu Geschichten wirken, die dann nicht kommen.
In dem Moment, in dem es nach einer gewöhnlichen Dramaturgie bei den Konflikten schmerzhaft werden müsste, wechselt Soyinka häufig das Thema. Es geht um den komischen Heiligen einer Megachurch, nein, es geht um die PR-gefütterte Selbstfindung einer jungen Nation, nein, um den Führungsstil des fiktiven Premierministers Godfrey Danfere, genannt Sir Goodie, der vor allem darin besteht, irgendwen warten zu lassen, um eine Elite, die sich in von den ehemaligen Kolonialherren übernommenen Privilegien aalt, nein, es ist ein Krimi über Mord und Organhandel.
Soyinka hat in Interviews gesagt, dass es ihm die Corona-Pandemie ermöglicht hat, so spät im Leben noch einmal einen Roman zu schreiben, er hatte Zeit. Womöglich plausibilisiert auch das Zeitregime der Lockdowns seine Dramaturgie: Immer wenn man denkt, man weiß, was passiert, ändern sich die Voraussetzungen. Alles zieht sich ganz schön hin, obwohl es ein Weltereignis ist. Leicht liest sich dieser Roman jedenfalls nicht. Zumal für ein internationales Publikum, dem es an Wissen fehlt, um die Anspielungen auf die nigerianische Politik und Geschichte entschlüsseln zu können. Soyinka befriedigt mit dem Roman auch nicht das Bedürfnis laufender Debatten des globalen Nordens, im postkolonialen Schuldverteilungskampf klare Zuteilungen zu treffen. Daran liegt es vermutlich, dass dieses Ereignis von einem Buch nicht mit Karacho in allen Bookclubs und Bestenlisten gelandet ist, obwohl es auf Englisch schon im Herbst herauskam.
In den verschlungenen Weiten dieses Romans gibt es aber eben auch den konzentriert glühenden Moment, in dem eine der beiden Hauptfiguren, der Chirurg Kighare Menka, an einem Feierabend in seinem im Kolonialstil gebauten Gentlemens Club endgültig durchdreht. Den Tag über hat er die vor allem weiblichen Opfer eines Bombenanschlags auf einen Gemüsemarkt der Stadt Jos zusammengeflickt. Da liest ein anderer Gast die Zeitungsmeldung über einen von 13 Männern an einer Hausfrau begangenen Mord vor, und die lässige Indifferenz seiner Peers, besonders gegenüber der häuslichen Gewalt gegen Frauen und Mädchen, deren Spuren und Wunden der Arzt selbst jeden Tag sieht, lässt ihn die an diesem Ort eisern überwachten Manieren vergessen: „Alle, die wir hier sind“, wettert er, „wir quatschen uns hier in diesem Palast des Selbstbetrugs die Seelen aus dem Leib. Davon rede ich!“ An der Stelle verliert auch die Erzählstimme ihre ironische Distanz.
Eine sinnlose, körperliche Gewalt, die den Alltag des Landes, von dem hier erzählt wird, perforiert, unterbricht das erzählerische Spiel mit der Verschiebung und der Ablenkung. Oder bringt es zumindest stark ins Schlingern. Die politische Botschaft des Romans entsteht aus dem Kontrast: So bitter ernst sie im Kern ist, nutzt Soyinka darum herum sich wie wild vermehrende Zeichen und Symbole genießerisch als Motiv und Quelle von Pointen.
Die Potentaten des Romans wechseln zum Beispiel ständig die Namen, machen sich pompöse Epitheta wie „Diener der Nation“ oder „Kümmerer des Volkes“ streitig. Die Feier der Unabhängigkeit Nigerias von den Briten, 1960 errungen, ersetzen sie durch ausgedachte Events. Wie das „Festival der Wahl des Volkes“, das um so viele künstliche Rituale bereichert wird, dass es „das ganze Jahr umfasste, manchmal bis ins nächste hineinragte und dadurch mit seinen verschiedenen Festivitäten den Neuanfang ein- und überholte“, während, wie Soyinka anfügt, „sich kaum noch jemand erinnerte, worum es sich bei der Unabhängigkeit handelte.“ „Branding“ spielt eine große Rolle, zum Beispiel die Umwidmung des gewaltgeschüttelten Landes zu dem der „glücklichsten Menschen der Welt“.
Papa Davina, die Figur des schlitzohrigen Predigers, macht eine Entwicklungsreise durch, zu einer europäischen Universität, durch verschiedene nigerianische Provinzen, „ein Sammellager für illegale Einwanderer in Newark, New Jersey“, Liberia, Gambia, Senegal, Sierra Leone und Ghana, wo er seine Epiphanie erlebt, zurück nach Nigeria. Das Kapitel liest sich wie ein langer, sehr informativer Scherz über den flottierenden Signifikanten „Afrika“. Streckenweise erinnert der Roman überhaupt an das Humorlevel, das sich eine Gilles Deleuze lesende Postmoderne von den Großen der absurden Literatur abgeschaut hat, Lewis Carroll oder Samuel Beckett.
Ganz zum Schluss vernäht Soyinka die Episoden dann aber doch noch zu einem Plot, und dann müsste man von vorne zu lesen anfangen, um zu suchen, wo man die Spuren der Geschichte im Wust der Zeichen übersehen hat. Wann es anfing, dass der Chirurg Kighare Menka in ein kriminelles Geschäft mit Leichenteilen hineingezogen zu werden droht, die zu rituellen Zwecken überall im Land gehandelt werden. Er sucht Schutz und Hilfe bei seinem Studienfreund, dem Ingenieur Duyole Pitan-Payne und dessen Familie. Der steht allerdings kurz vor der Abreise, weil er als Spezialist für Energiefragen zu den Vereinten Nationen berufen worden ist. Ein Umstand, den die Regierung in Gestalt des eitlen Sir Goodie mit bedrohlichem Kontrollbedürfnis begleitet.
Die Clique der beiden in Würde alternden Freunde bestand ursprünglich aus vier Männern, von denen einer seine Seele unter der Folter verliert und der vierte verschwunden bleibt. Die Frage ist also, ob die Freunde wieder zusammenkommen, ob sie das Ziel ihrer jungen Jahre, ihrem Land etwas zurückzugeben, es zu prägen, noch erreichen. Und ob sie den Kriminalfall des Geschäfts mit zerstückelten Menschen lösen werden.
Der Schriftsteller Wole Soyinka. Foto: T. Samson/AFP
Wole Soyinka beschreibt auch den Kontrast zwischen den Häusern und Treffpunkten der Eliten von Nigeria und dem Alltag in den Straßen etwa von Lagos, hier auf dem Balogun Market im Jahr 2017.
Foto: Sunday Alamba/AP
Wole Soyinka:
Die glücklichsten
Menschen der Welt.
Roman. Aus dem
Englischen von
Inge Uffelmann.
Blessing, München 2022. 656 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Nach fast einem halben Jahrhundert hat der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka
wieder einen Roman geschrieben. Er ist ein Ereignis
VON MARIE SCHMIDT
Möglich, dass Wole Soyinka die Tragödien seines Lebens jetzt noch einmal als Farce erzählt. Dass das alles eine Satire ist auf eine bestimmte nigerianische Gegenwart, auf selbstsüchtige Eliten, die Geschäftemacherei spiritueller Quacksalber, auf Bigotterie und Ehrpusseligkeit vielfältiger Würdenträger, die einander vorne herum mit ausgedachten Preisen behängen und in Hinterzimmern intrigieren: eine groteske Revue aus Korruption, Eitelkeit und Machtmissbrauch. Aber dann kommt es eben doch zu einem todernsten Wutausbruch.
Man konnte darauf hoffen. Seine politische Biografie und Leidensfähigkeit haben Soyinka mindestens so sehr zur Legende gemacht wie seine Theaterstücke, Gedichte, Essays und wenigen Romane. Zwischen dem neuen, „Die glücklichsten Menschen der Welt“, und dem letzten, „Zeit der Gesetzlosigkeit“ aus dem Jahr 1973, liegt fast ein halbes Jahrhundert, wenn man seine autobiografischen Bücher nicht mitzählt. Also eigentlich eine Sensation, dieses epische Alterswerk eines 87-jährigen Schriftstellers, der 1986 als erster Afrikaner den Literaturnobelpreis bekam und davor und danach zäh und aufopferungsvoll für die Demokratie in Nigeria stritt, sich mehrmals im Gefängnis wiederfand und im Exil. Aber auch in den USA, wo er lange Jahre an verschiedenen Universitäten lehrte, machte er nach der Trump-Wahl seinen Zorn öffentlich, zerschnitt seine Greencard und zog wieder nach Afrika.
Vom Thron des auch durch den Erfolg auf dem amerikanischen Buchmarkt berühmtesten Schreibenden Nigerias ist Soyinka spätestens 2013 gestoßen worden, als Chimamanda Ngozi Adichies Roman „Americanah“ erschien und ihr TED-Talk „We should all be feminists“ gesampelt in einem Song von Beyoncé auftauchte. Dass Feminismus manchmal auch darin besteht, die großen, alten Männer gebührend zu ehren, kann man an der Liebeserklärung sehen, die Adichie 2021 in der britischen Times auf Soyinka schrieb. Er sei mit weit über achtzig eine eindrucksvolle Erscheinung, heißt es da, mit „weicher Haut, schlanker Energie, einem Sinn für dramatische Gesten und einer volltönenden Stimme, die sich ihres Klangs bewusst ist“. Sein Stil wirke indessen manchmal wie ein Schutzschild, um Gefühle von sich fernzuhalten: „Soyinkas wortkarge Männlichkeit kommt mir fremd und faszinierend vor.“
Wortkarg wäre nicht der Begriff, der einem einfiele bei den weitschweifig vorgestellten Szenerien und kreisenden Charakterisierungen von Soyinkas Roman. Eine uferlose Form, die schon Leser seines politischen Lebenslaufes „Brich auf in früher Dämmerung“ von 2006 bemerkt haben. Merkwürdigerweise hält Adichies These trotzdem, weil viele Kapitel von „Die glücklichsten Menschen der Welt“ wie gewaltige, enorm aufwendige Expositionen zu Geschichten wirken, die dann nicht kommen.
In dem Moment, in dem es nach einer gewöhnlichen Dramaturgie bei den Konflikten schmerzhaft werden müsste, wechselt Soyinka häufig das Thema. Es geht um den komischen Heiligen einer Megachurch, nein, es geht um die PR-gefütterte Selbstfindung einer jungen Nation, nein, um den Führungsstil des fiktiven Premierministers Godfrey Danfere, genannt Sir Goodie, der vor allem darin besteht, irgendwen warten zu lassen, um eine Elite, die sich in von den ehemaligen Kolonialherren übernommenen Privilegien aalt, nein, es ist ein Krimi über Mord und Organhandel.
Soyinka hat in Interviews gesagt, dass es ihm die Corona-Pandemie ermöglicht hat, so spät im Leben noch einmal einen Roman zu schreiben, er hatte Zeit. Womöglich plausibilisiert auch das Zeitregime der Lockdowns seine Dramaturgie: Immer wenn man denkt, man weiß, was passiert, ändern sich die Voraussetzungen. Alles zieht sich ganz schön hin, obwohl es ein Weltereignis ist. Leicht liest sich dieser Roman jedenfalls nicht. Zumal für ein internationales Publikum, dem es an Wissen fehlt, um die Anspielungen auf die nigerianische Politik und Geschichte entschlüsseln zu können. Soyinka befriedigt mit dem Roman auch nicht das Bedürfnis laufender Debatten des globalen Nordens, im postkolonialen Schuldverteilungskampf klare Zuteilungen zu treffen. Daran liegt es vermutlich, dass dieses Ereignis von einem Buch nicht mit Karacho in allen Bookclubs und Bestenlisten gelandet ist, obwohl es auf Englisch schon im Herbst herauskam.
In den verschlungenen Weiten dieses Romans gibt es aber eben auch den konzentriert glühenden Moment, in dem eine der beiden Hauptfiguren, der Chirurg Kighare Menka, an einem Feierabend in seinem im Kolonialstil gebauten Gentlemens Club endgültig durchdreht. Den Tag über hat er die vor allem weiblichen Opfer eines Bombenanschlags auf einen Gemüsemarkt der Stadt Jos zusammengeflickt. Da liest ein anderer Gast die Zeitungsmeldung über einen von 13 Männern an einer Hausfrau begangenen Mord vor, und die lässige Indifferenz seiner Peers, besonders gegenüber der häuslichen Gewalt gegen Frauen und Mädchen, deren Spuren und Wunden der Arzt selbst jeden Tag sieht, lässt ihn die an diesem Ort eisern überwachten Manieren vergessen: „Alle, die wir hier sind“, wettert er, „wir quatschen uns hier in diesem Palast des Selbstbetrugs die Seelen aus dem Leib. Davon rede ich!“ An der Stelle verliert auch die Erzählstimme ihre ironische Distanz.
Eine sinnlose, körperliche Gewalt, die den Alltag des Landes, von dem hier erzählt wird, perforiert, unterbricht das erzählerische Spiel mit der Verschiebung und der Ablenkung. Oder bringt es zumindest stark ins Schlingern. Die politische Botschaft des Romans entsteht aus dem Kontrast: So bitter ernst sie im Kern ist, nutzt Soyinka darum herum sich wie wild vermehrende Zeichen und Symbole genießerisch als Motiv und Quelle von Pointen.
Die Potentaten des Romans wechseln zum Beispiel ständig die Namen, machen sich pompöse Epitheta wie „Diener der Nation“ oder „Kümmerer des Volkes“ streitig. Die Feier der Unabhängigkeit Nigerias von den Briten, 1960 errungen, ersetzen sie durch ausgedachte Events. Wie das „Festival der Wahl des Volkes“, das um so viele künstliche Rituale bereichert wird, dass es „das ganze Jahr umfasste, manchmal bis ins nächste hineinragte und dadurch mit seinen verschiedenen Festivitäten den Neuanfang ein- und überholte“, während, wie Soyinka anfügt, „sich kaum noch jemand erinnerte, worum es sich bei der Unabhängigkeit handelte.“ „Branding“ spielt eine große Rolle, zum Beispiel die Umwidmung des gewaltgeschüttelten Landes zu dem der „glücklichsten Menschen der Welt“.
Papa Davina, die Figur des schlitzohrigen Predigers, macht eine Entwicklungsreise durch, zu einer europäischen Universität, durch verschiedene nigerianische Provinzen, „ein Sammellager für illegale Einwanderer in Newark, New Jersey“, Liberia, Gambia, Senegal, Sierra Leone und Ghana, wo er seine Epiphanie erlebt, zurück nach Nigeria. Das Kapitel liest sich wie ein langer, sehr informativer Scherz über den flottierenden Signifikanten „Afrika“. Streckenweise erinnert der Roman überhaupt an das Humorlevel, das sich eine Gilles Deleuze lesende Postmoderne von den Großen der absurden Literatur abgeschaut hat, Lewis Carroll oder Samuel Beckett.
Ganz zum Schluss vernäht Soyinka die Episoden dann aber doch noch zu einem Plot, und dann müsste man von vorne zu lesen anfangen, um zu suchen, wo man die Spuren der Geschichte im Wust der Zeichen übersehen hat. Wann es anfing, dass der Chirurg Kighare Menka in ein kriminelles Geschäft mit Leichenteilen hineingezogen zu werden droht, die zu rituellen Zwecken überall im Land gehandelt werden. Er sucht Schutz und Hilfe bei seinem Studienfreund, dem Ingenieur Duyole Pitan-Payne und dessen Familie. Der steht allerdings kurz vor der Abreise, weil er als Spezialist für Energiefragen zu den Vereinten Nationen berufen worden ist. Ein Umstand, den die Regierung in Gestalt des eitlen Sir Goodie mit bedrohlichem Kontrollbedürfnis begleitet.
Die Clique der beiden in Würde alternden Freunde bestand ursprünglich aus vier Männern, von denen einer seine Seele unter der Folter verliert und der vierte verschwunden bleibt. Die Frage ist also, ob die Freunde wieder zusammenkommen, ob sie das Ziel ihrer jungen Jahre, ihrem Land etwas zurückzugeben, es zu prägen, noch erreichen. Und ob sie den Kriminalfall des Geschäfts mit zerstückelten Menschen lösen werden.
Der Schriftsteller Wole Soyinka. Foto: T. Samson/AFP
Wole Soyinka beschreibt auch den Kontrast zwischen den Häusern und Treffpunkten der Eliten von Nigeria und dem Alltag in den Straßen etwa von Lagos, hier auf dem Balogun Market im Jahr 2017.
Foto: Sunday Alamba/AP
Wole Soyinka:
Die glücklichsten
Menschen der Welt.
Roman. Aus dem
Englischen von
Inge Uffelmann.
Blessing, München 2022. 656 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.06.2022Wo Politiker Glück predigen und Morde beauftragen
Der Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka hat nach fast fünfzig Jahren einen neuen Roman geschrieben. In "Die glücklichsten Menschen der Welt" nutzt er die Struktur des Kriminalromans für ein großes Gesellschaftspanorama Nigerias.
Wenn man in Lagos auf dem Festland in Richtung der vorgelagerten Inseln der Lagune fährt, zieht am Autofenster ein Querschnitt des modernen Nigeria vorbei, der von Wellblechhütten und ockerfarbenen Lehmstraßen bis zu den glänzenden Fassaden der Wolkenkratzer auf Victoria Island reicht. All diese Gegensätze existieren dicht nebeneinander und machen das Land als solches aus, und so verwundert es nicht, dass sie auch in Wole Soyinkas neuem Roman "Die glücklichsten Menschen der Welt" eine Rolle spielen. Viele Lebenswege kreuzen sich täglich auf den überfüllten Straßen der Millionenmetropole, viele von ihnen finden sich auch auf den 650 Seiten in Soyinkas Roman wieder.
Gleich die erste Figur wirft von einem Hügel aus einen Blick auf das Gewühl, während ihr der selbst ernannte Prediger Papa Davina einen Vortrag darüber hält, dass alles im Leben nur eine Frage der Perspektive sei. Für solche Weisheiten nimmt er von seinen Besuchern viel Geld. Sie kommen trotzdem in Scharen, verspricht Papa Davina doch, jedes Problem gegen entsprechende Entlohnung zu beseitigen. Dabei helfen ihm auch seine Verbindungen in die höchsten Kreise der Regierung. In der hält der Premierminister, den alle Welt nur "Sir Goddie" nennt, die Fäden in der Hand und versucht, seine Macht zu seinem Vorteil und dem seiner Freunde auszuspielen. Und dann ist da noch der Chirurg Kighare Menka, den drei zwielichtige Geschäftsleute überreden wollen, in das florierende Geschäft mit Leichenteilen einzusteigen - immerhin habe er davon durch die Anschläge von Islamistengruppen in seinem Krankenhaus im Norden des Landes mehr als genug. Der Chirurg lehnt ab, kurz darauf geht der Club, in dem er seine Abende verbringt, in Flammen auf. Es ist dieser Doktor Menka, der sich aus der Fülle der Personen als Protagonist herausschält. Er will der Spur der perversen Leichenräuber nachgehen, kontaktiert seine engsten Freunde und verwickelt sich und alle, die ihm helfen, schnell in ein tödliches Spiel.
Soyinka, der 1986 als erster afrikanischer Autor den Nobelpreis für Literatur erhielt, ist für sein politisches Engagement bekannt. Während des nigerianischen Bürgerkriegs hielt er Reden gegen die Korruption in Regierungskreisen und prangerte Unstimmigkeiten bei Wahlen an. 1967 wurde er festgenommen, verbrachte zwei Jahre in Einzelhaft und schrieb währenddessen seine Kritik an der Regierung in Form von Gedichten auf ("Poems from Prison"). Viele seiner Theaterstücke und Essays beschäftigen sich mit den Missständen seines Heimatlandes. Und nicht nur dort übte er Kritik.
Auch in Amerika, wo er lange Jahre lebte und an den großen Universitäten lehrte, zog er die Konsequenzen seiner politischen Haltung. Als Donald Trump in das Amt des Präsidenten gewählt wurde, zerriss der Schriftsteller seine Greencard und reiste nach Nigeria zurück.
"Die glücklichsten Menschen der Welt" ist in Soyinkas fast sieben Jahrzehnte umspannendem literarischem Schaffen erst der dritte Roman. Den letzten schrieb er vor rund einem halben Jahrhundert. Dass er im Alter von siebenundachtzig Jahren weder seine Wut auf das Unrecht noch seinen scharfen Blick für gesellschaftliche Ungerechtigkeiten eingebüßt hat, beweist die Fülle an Themen, die er in seine Krimihandlung eingeflochten hat. Ähnlich wie in seinen sprachmächtigen Essays sind die thematischen Übergänge elegant und fließend. Postkoloniale Raubkunstdebatten streift Soyinka hier ebenso wie den islamistischen Terror, korrupte Politiker, religiöse Scharlatane und die Manipulation der Massen durch Fake News in sozialen Netzwerken. All das könnte überladen wirken und wie eine zu hoch gestapelte Hochzeitstorte in sich zusammenbrechen, doch die Wahl, das, was den Autor empört, im Krimigenre zu erzählen, gibt dem Affekt eben auch Struktur.
Soyinka verlangt von seinen Lesern dabei zum einen das Vertrauen, dass sich all die verschlungenen Handlungsfäden am Ende ordnen werden, und er verlangt von ihnen zum anderen die Fähigkeit, bei der Lektüre aufmerksam zu bleiben. Nicht ohne Grund verweisen seine Figuren des Öfteren auf Charles Dickens. So geschickt wie jener beim Erzählen der Abenteuer seiner zahlreichen Figuren die Zeitebenen verwob, Vor- und Rückblicke nutzte, so meisthaft tut das auch Soyinka. Wenn das Feuer das Club-Haus des Chirurgen frisst und als lodernde Flammenwand über den Hügeln steht, dann erinnert man sich plötzlich, dass ebenjenes Bild schon einige Kapitel zuvor von einer anderen Person beobachtet wurde.
Das ist nicht die einzige Gemeinsamkeit mit Dickens, auch den klaren Blick, mit dem die Gesellschaft seziert wird, teilen die beiden Autoren. Wenn Menka einen Hausdiener als Zeugen befragt, dann erzählt dieser auch seine Lebensgeschichte, gibt Einblick in die Welt jener, die aus den entlegenen Dörfern nach Lagos kommen, um Geld für ihre Familien zu verdienen, und von den Reichen wie Inventar behandelt werden. Und wenn eine Frau um ihren Mann trauert, nutzt der Autor dies, um traditionelle Strukturen der folterähnlichen Witwenbefragung durch die Familie des Verstorbenen anzuprangern. Einige reale Probleme sind ins Ironische überspitzt: So leben hier die "glücklichsten Menschen der Welt", und zwar staatlich verordnet mit eigenem Ministerium, das wiederum Aufträge und Posten an Familien der Regierungsmitglieder vergibt.
Langsam entfaltet sich so ein Panorama eines permanent am Scheitern entlangschlitternden Staates. Und gerade wenn man über einer Nebenhandlung die Ermittlungen fast vergisst, nimmt Soyinka den Spannungsbogen wieder auf, füttert ihn mit Geheimcodes und Paranoia. Danach versteht man nicht nur Nigeria ein bisschen besser. MARIA WIESNER
Wole Soyinka: "Die glücklichsten Menschen der Welt". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Inge Uffelmann.
Blessing Verlag, München 2022. 656 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka hat nach fast fünfzig Jahren einen neuen Roman geschrieben. In "Die glücklichsten Menschen der Welt" nutzt er die Struktur des Kriminalromans für ein großes Gesellschaftspanorama Nigerias.
Wenn man in Lagos auf dem Festland in Richtung der vorgelagerten Inseln der Lagune fährt, zieht am Autofenster ein Querschnitt des modernen Nigeria vorbei, der von Wellblechhütten und ockerfarbenen Lehmstraßen bis zu den glänzenden Fassaden der Wolkenkratzer auf Victoria Island reicht. All diese Gegensätze existieren dicht nebeneinander und machen das Land als solches aus, und so verwundert es nicht, dass sie auch in Wole Soyinkas neuem Roman "Die glücklichsten Menschen der Welt" eine Rolle spielen. Viele Lebenswege kreuzen sich täglich auf den überfüllten Straßen der Millionenmetropole, viele von ihnen finden sich auch auf den 650 Seiten in Soyinkas Roman wieder.
Gleich die erste Figur wirft von einem Hügel aus einen Blick auf das Gewühl, während ihr der selbst ernannte Prediger Papa Davina einen Vortrag darüber hält, dass alles im Leben nur eine Frage der Perspektive sei. Für solche Weisheiten nimmt er von seinen Besuchern viel Geld. Sie kommen trotzdem in Scharen, verspricht Papa Davina doch, jedes Problem gegen entsprechende Entlohnung zu beseitigen. Dabei helfen ihm auch seine Verbindungen in die höchsten Kreise der Regierung. In der hält der Premierminister, den alle Welt nur "Sir Goddie" nennt, die Fäden in der Hand und versucht, seine Macht zu seinem Vorteil und dem seiner Freunde auszuspielen. Und dann ist da noch der Chirurg Kighare Menka, den drei zwielichtige Geschäftsleute überreden wollen, in das florierende Geschäft mit Leichenteilen einzusteigen - immerhin habe er davon durch die Anschläge von Islamistengruppen in seinem Krankenhaus im Norden des Landes mehr als genug. Der Chirurg lehnt ab, kurz darauf geht der Club, in dem er seine Abende verbringt, in Flammen auf. Es ist dieser Doktor Menka, der sich aus der Fülle der Personen als Protagonist herausschält. Er will der Spur der perversen Leichenräuber nachgehen, kontaktiert seine engsten Freunde und verwickelt sich und alle, die ihm helfen, schnell in ein tödliches Spiel.
Soyinka, der 1986 als erster afrikanischer Autor den Nobelpreis für Literatur erhielt, ist für sein politisches Engagement bekannt. Während des nigerianischen Bürgerkriegs hielt er Reden gegen die Korruption in Regierungskreisen und prangerte Unstimmigkeiten bei Wahlen an. 1967 wurde er festgenommen, verbrachte zwei Jahre in Einzelhaft und schrieb währenddessen seine Kritik an der Regierung in Form von Gedichten auf ("Poems from Prison"). Viele seiner Theaterstücke und Essays beschäftigen sich mit den Missständen seines Heimatlandes. Und nicht nur dort übte er Kritik.
Auch in Amerika, wo er lange Jahre lebte und an den großen Universitäten lehrte, zog er die Konsequenzen seiner politischen Haltung. Als Donald Trump in das Amt des Präsidenten gewählt wurde, zerriss der Schriftsteller seine Greencard und reiste nach Nigeria zurück.
"Die glücklichsten Menschen der Welt" ist in Soyinkas fast sieben Jahrzehnte umspannendem literarischem Schaffen erst der dritte Roman. Den letzten schrieb er vor rund einem halben Jahrhundert. Dass er im Alter von siebenundachtzig Jahren weder seine Wut auf das Unrecht noch seinen scharfen Blick für gesellschaftliche Ungerechtigkeiten eingebüßt hat, beweist die Fülle an Themen, die er in seine Krimihandlung eingeflochten hat. Ähnlich wie in seinen sprachmächtigen Essays sind die thematischen Übergänge elegant und fließend. Postkoloniale Raubkunstdebatten streift Soyinka hier ebenso wie den islamistischen Terror, korrupte Politiker, religiöse Scharlatane und die Manipulation der Massen durch Fake News in sozialen Netzwerken. All das könnte überladen wirken und wie eine zu hoch gestapelte Hochzeitstorte in sich zusammenbrechen, doch die Wahl, das, was den Autor empört, im Krimigenre zu erzählen, gibt dem Affekt eben auch Struktur.
Soyinka verlangt von seinen Lesern dabei zum einen das Vertrauen, dass sich all die verschlungenen Handlungsfäden am Ende ordnen werden, und er verlangt von ihnen zum anderen die Fähigkeit, bei der Lektüre aufmerksam zu bleiben. Nicht ohne Grund verweisen seine Figuren des Öfteren auf Charles Dickens. So geschickt wie jener beim Erzählen der Abenteuer seiner zahlreichen Figuren die Zeitebenen verwob, Vor- und Rückblicke nutzte, so meisthaft tut das auch Soyinka. Wenn das Feuer das Club-Haus des Chirurgen frisst und als lodernde Flammenwand über den Hügeln steht, dann erinnert man sich plötzlich, dass ebenjenes Bild schon einige Kapitel zuvor von einer anderen Person beobachtet wurde.
Das ist nicht die einzige Gemeinsamkeit mit Dickens, auch den klaren Blick, mit dem die Gesellschaft seziert wird, teilen die beiden Autoren. Wenn Menka einen Hausdiener als Zeugen befragt, dann erzählt dieser auch seine Lebensgeschichte, gibt Einblick in die Welt jener, die aus den entlegenen Dörfern nach Lagos kommen, um Geld für ihre Familien zu verdienen, und von den Reichen wie Inventar behandelt werden. Und wenn eine Frau um ihren Mann trauert, nutzt der Autor dies, um traditionelle Strukturen der folterähnlichen Witwenbefragung durch die Familie des Verstorbenen anzuprangern. Einige reale Probleme sind ins Ironische überspitzt: So leben hier die "glücklichsten Menschen der Welt", und zwar staatlich verordnet mit eigenem Ministerium, das wiederum Aufträge und Posten an Familien der Regierungsmitglieder vergibt.
Langsam entfaltet sich so ein Panorama eines permanent am Scheitern entlangschlitternden Staates. Und gerade wenn man über einer Nebenhandlung die Ermittlungen fast vergisst, nimmt Soyinka den Spannungsbogen wieder auf, füttert ihn mit Geheimcodes und Paranoia. Danach versteht man nicht nur Nigeria ein bisschen besser. MARIA WIESNER
Wole Soyinka: "Die glücklichsten Menschen der Welt". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Inge Uffelmann.
Blessing Verlag, München 2022. 656 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Die Kraft, die Soyinkas Bücher ausstrahlen und die auch seinen neuen Roman trägt, das ist der Mut und die revolutionäre Energie, die Welt grundsätzlich infrage zu stellen.« Die ZEIT, Volker Weidermann
Wo Politiker Glück predigen und Morde beauftragen
Der Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka hat nach fast fünfzig Jahren einen neuen Roman geschrieben. In "Die glücklichsten Menschen der Welt" nutzt er die Struktur des Kriminalromans für ein großes Gesellschaftspanorama Nigerias.
Wenn man in Lagos auf dem Festland in Richtung der vorgelagerten Inseln der Lagune fährt, zieht am Autofenster ein Querschnitt des modernen Nigeria vorbei, der von Wellblechhütten und ockerfarbenen Lehmstraßen bis zu den glänzenden Fassaden der Wolkenkratzer auf Victoria Island reicht. All diese Gegensätze existieren dicht nebeneinander und machen das Land als solches aus, und so verwundert es nicht, dass sie auch in Wole Soyinkas neuem Roman "Die glücklichsten Menschen der Welt" eine Rolle spielen. Viele Lebenswege kreuzen sich täglich auf den überfüllten Straßen der Millionenmetropole, viele von ihnen finden sich auch auf den 650 Seiten in Soyinkas Roman wieder.
Gleich die erste Figur wirft von einem Hügel aus einen Blick auf das Gewühl, während ihr der selbst ernannte Prediger Papa Davina einen Vortrag darüber hält, dass alles im Leben nur eine Frage der Perspektive sei. Für solche Weisheiten nimmt er von seinen Besuchern viel Geld. Sie kommen trotzdem in Scharen, verspricht Papa Davina doch, jedes Problem gegen entsprechende Entlohnung zu beseitigen. Dabei helfen ihm auch seine Verbindungen in die höchsten Kreise der Regierung. In der hält der Premierminister, den alle Welt nur "Sir Goddie" nennt, die Fäden in der Hand und versucht, seine Macht zu seinem Vorteil und dem seiner Freunde auszuspielen. Und dann ist da noch der Chirurg Kighare Menka, den drei zwielichtige Geschäftsleute überreden wollen, in das florierende Geschäft mit Leichenteilen einzusteigen - immerhin habe er davon durch die Anschläge von Islamistengruppen in seinem Krankenhaus im Norden des Landes mehr als genug. Der Chirurg lehnt ab, kurz darauf geht der Club, in dem er seine Abende verbringt, in Flammen auf. Es ist dieser Doktor Menka, der sich aus der Fülle der Personen als Protagonist herausschält. Er will der Spur der perversen Leichenräuber nachgehen, kontaktiert seine engsten Freunde und verwickelt sich und alle, die ihm helfen, schnell in ein tödliches Spiel.
Soyinka, der 1986 als erster afrikanischer Autor den Nobelpreis für Literatur erhielt, ist für sein politisches Engagement bekannt. Während des nigerianischen Bürgerkriegs hielt er Reden gegen die Korruption in Regierungskreisen und prangerte Unstimmigkeiten bei Wahlen an. 1967 wurde er festgenommen, verbrachte zwei Jahre in Einzelhaft und schrieb währenddessen seine Kritik an der Regierung in Form von Gedichten auf ("Poems from Prison"). Viele seiner Theaterstücke und Essays beschäftigen sich mit den Missständen seines Heimatlandes. Und nicht nur dort übte er Kritik.
Auch in Amerika, wo er lange Jahre lebte und an den großen Universitäten lehrte, zog er die Konsequenzen seiner politischen Haltung. Als Donald Trump in das Amt des Präsidenten gewählt wurde, zerriss der Schriftsteller seine Greencard und reiste nach Nigeria zurück.
"Die glücklichsten Menschen der Welt" ist in Soyinkas fast sieben Jahrzehnte umspannendem literarischem Schaffen erst der dritte Roman. Den letzten schrieb er vor rund einem halben Jahrhundert. Dass er im Alter von siebenundachtzig Jahren weder seine Wut auf das Unrecht noch seinen scharfen Blick für gesellschaftliche Ungerechtigkeiten eingebüßt hat, beweist die Fülle an Themen, die er in seine Krimihandlung eingeflochten hat. Ähnlich wie in seinen sprachmächtigen Essays sind die thematischen Übergänge elegant und fließend. Postkoloniale Raubkunstdebatten streift Soyinka hier ebenso wie den islamistischen Terror, korrupte Politiker, religiöse Scharlatane und die Manipulation der Massen durch Fake News in sozialen Netzwerken. All das könnte überladen wirken und wie eine zu hoch gestapelte Hochzeitstorte in sich zusammenbrechen, doch die Wahl, das, was den Autor empört, im Krimigenre zu erzählen, gibt dem Affekt eben auch Struktur.
Soyinka verlangt von seinen Lesern dabei zum einen das Vertrauen, dass sich all die verschlungenen Handlungsfäden am Ende ordnen werden, und er verlangt von ihnen zum anderen die Fähigkeit, bei der Lektüre aufmerksam zu bleiben. Nicht ohne Grund verweisen seine Figuren des Öfteren auf Charles Dickens. So geschickt wie jener beim Erzählen der Abenteuer seiner zahlreichen Figuren die Zeitebenen verwob, Vor- und Rückblicke nutzte, so meisthaft tut das auch Soyinka. Wenn das Feuer das Club-Haus des Chirurgen frisst und als lodernde Flammenwand über den Hügeln steht, dann erinnert man sich plötzlich, dass ebenjenes Bild schon einige Kapitel zuvor von einer anderen Person beobachtet wurde.
Das ist nicht die einzige Gemeinsamkeit mit Dickens, auch den klaren Blick, mit dem die Gesellschaft seziert wird, teilen die beiden Autoren. Wenn Menka einen Hausdiener als Zeugen befragt, dann erzählt dieser auch seine Lebensgeschichte, gibt Einblick in die Welt jener, die aus den entlegenen Dörfern nach Lagos kommen, um Geld für ihre Familien zu verdienen, und von den Reichen wie Inventar behandelt werden. Und wenn eine Frau um ihren Mann trauert, nutzt der Autor dies, um traditionelle Strukturen der folterähnlichen Witwenbefragung durch die Familie des Verstorbenen anzuprangern. Einige reale Probleme sind ins Ironische überspitzt: So leben hier die "glücklichsten Menschen der Welt", und zwar staatlich verordnet mit eigenem Ministerium, das wiederum Aufträge und Posten an Familien der Regierungsmitglieder vergibt.
Langsam entfaltet sich so ein Panorama eines permanent am Scheitern entlangschlitternden Staates. Und gerade wenn man über einer Nebenhandlung die Ermittlungen fast vergisst, nimmt Soyinka den Spannungsbogen wieder auf, füttert ihn mit Geheimcodes und Paranoia. Danach versteht man nicht nur Nigeria ein bisschen besser. MARIA WIESNER
Wole Soyinka: "Die glücklichsten Menschen der Welt". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Inge Uffelmann.
Blessing Verlag, München 2022. 656 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka hat nach fast fünfzig Jahren einen neuen Roman geschrieben. In "Die glücklichsten Menschen der Welt" nutzt er die Struktur des Kriminalromans für ein großes Gesellschaftspanorama Nigerias.
Wenn man in Lagos auf dem Festland in Richtung der vorgelagerten Inseln der Lagune fährt, zieht am Autofenster ein Querschnitt des modernen Nigeria vorbei, der von Wellblechhütten und ockerfarbenen Lehmstraßen bis zu den glänzenden Fassaden der Wolkenkratzer auf Victoria Island reicht. All diese Gegensätze existieren dicht nebeneinander und machen das Land als solches aus, und so verwundert es nicht, dass sie auch in Wole Soyinkas neuem Roman "Die glücklichsten Menschen der Welt" eine Rolle spielen. Viele Lebenswege kreuzen sich täglich auf den überfüllten Straßen der Millionenmetropole, viele von ihnen finden sich auch auf den 650 Seiten in Soyinkas Roman wieder.
Gleich die erste Figur wirft von einem Hügel aus einen Blick auf das Gewühl, während ihr der selbst ernannte Prediger Papa Davina einen Vortrag darüber hält, dass alles im Leben nur eine Frage der Perspektive sei. Für solche Weisheiten nimmt er von seinen Besuchern viel Geld. Sie kommen trotzdem in Scharen, verspricht Papa Davina doch, jedes Problem gegen entsprechende Entlohnung zu beseitigen. Dabei helfen ihm auch seine Verbindungen in die höchsten Kreise der Regierung. In der hält der Premierminister, den alle Welt nur "Sir Goddie" nennt, die Fäden in der Hand und versucht, seine Macht zu seinem Vorteil und dem seiner Freunde auszuspielen. Und dann ist da noch der Chirurg Kighare Menka, den drei zwielichtige Geschäftsleute überreden wollen, in das florierende Geschäft mit Leichenteilen einzusteigen - immerhin habe er davon durch die Anschläge von Islamistengruppen in seinem Krankenhaus im Norden des Landes mehr als genug. Der Chirurg lehnt ab, kurz darauf geht der Club, in dem er seine Abende verbringt, in Flammen auf. Es ist dieser Doktor Menka, der sich aus der Fülle der Personen als Protagonist herausschält. Er will der Spur der perversen Leichenräuber nachgehen, kontaktiert seine engsten Freunde und verwickelt sich und alle, die ihm helfen, schnell in ein tödliches Spiel.
Soyinka, der 1986 als erster afrikanischer Autor den Nobelpreis für Literatur erhielt, ist für sein politisches Engagement bekannt. Während des nigerianischen Bürgerkriegs hielt er Reden gegen die Korruption in Regierungskreisen und prangerte Unstimmigkeiten bei Wahlen an. 1967 wurde er festgenommen, verbrachte zwei Jahre in Einzelhaft und schrieb währenddessen seine Kritik an der Regierung in Form von Gedichten auf ("Poems from Prison"). Viele seiner Theaterstücke und Essays beschäftigen sich mit den Missständen seines Heimatlandes. Und nicht nur dort übte er Kritik.
Auch in Amerika, wo er lange Jahre lebte und an den großen Universitäten lehrte, zog er die Konsequenzen seiner politischen Haltung. Als Donald Trump in das Amt des Präsidenten gewählt wurde, zerriss der Schriftsteller seine Greencard und reiste nach Nigeria zurück.
"Die glücklichsten Menschen der Welt" ist in Soyinkas fast sieben Jahrzehnte umspannendem literarischem Schaffen erst der dritte Roman. Den letzten schrieb er vor rund einem halben Jahrhundert. Dass er im Alter von siebenundachtzig Jahren weder seine Wut auf das Unrecht noch seinen scharfen Blick für gesellschaftliche Ungerechtigkeiten eingebüßt hat, beweist die Fülle an Themen, die er in seine Krimihandlung eingeflochten hat. Ähnlich wie in seinen sprachmächtigen Essays sind die thematischen Übergänge elegant und fließend. Postkoloniale Raubkunstdebatten streift Soyinka hier ebenso wie den islamistischen Terror, korrupte Politiker, religiöse Scharlatane und die Manipulation der Massen durch Fake News in sozialen Netzwerken. All das könnte überladen wirken und wie eine zu hoch gestapelte Hochzeitstorte in sich zusammenbrechen, doch die Wahl, das, was den Autor empört, im Krimigenre zu erzählen, gibt dem Affekt eben auch Struktur.
Soyinka verlangt von seinen Lesern dabei zum einen das Vertrauen, dass sich all die verschlungenen Handlungsfäden am Ende ordnen werden, und er verlangt von ihnen zum anderen die Fähigkeit, bei der Lektüre aufmerksam zu bleiben. Nicht ohne Grund verweisen seine Figuren des Öfteren auf Charles Dickens. So geschickt wie jener beim Erzählen der Abenteuer seiner zahlreichen Figuren die Zeitebenen verwob, Vor- und Rückblicke nutzte, so meisthaft tut das auch Soyinka. Wenn das Feuer das Club-Haus des Chirurgen frisst und als lodernde Flammenwand über den Hügeln steht, dann erinnert man sich plötzlich, dass ebenjenes Bild schon einige Kapitel zuvor von einer anderen Person beobachtet wurde.
Das ist nicht die einzige Gemeinsamkeit mit Dickens, auch den klaren Blick, mit dem die Gesellschaft seziert wird, teilen die beiden Autoren. Wenn Menka einen Hausdiener als Zeugen befragt, dann erzählt dieser auch seine Lebensgeschichte, gibt Einblick in die Welt jener, die aus den entlegenen Dörfern nach Lagos kommen, um Geld für ihre Familien zu verdienen, und von den Reichen wie Inventar behandelt werden. Und wenn eine Frau um ihren Mann trauert, nutzt der Autor dies, um traditionelle Strukturen der folterähnlichen Witwenbefragung durch die Familie des Verstorbenen anzuprangern. Einige reale Probleme sind ins Ironische überspitzt: So leben hier die "glücklichsten Menschen der Welt", und zwar staatlich verordnet mit eigenem Ministerium, das wiederum Aufträge und Posten an Familien der Regierungsmitglieder vergibt.
Langsam entfaltet sich so ein Panorama eines permanent am Scheitern entlangschlitternden Staates. Und gerade wenn man über einer Nebenhandlung die Ermittlungen fast vergisst, nimmt Soyinka den Spannungsbogen wieder auf, füttert ihn mit Geheimcodes und Paranoia. Danach versteht man nicht nur Nigeria ein bisschen besser. MARIA WIESNER
Wole Soyinka: "Die glücklichsten Menschen der Welt". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Inge Uffelmann.
Blessing Verlag, München 2022. 656 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main