Eine einsame Schneelandschaft und zwei Menschen auf der Suche nach Erholung: die Geschichte einer Eskalation
Der Urlaub in Lappland soll die lang ersehnte Erholung für Karo und Risto bringen. Doch dann kommt es zu einem Autounfall und die beiden sitzen fest, in einem Hotel namens Arctic Mirage. Leicht verletzt und noch halb unter Schock bewegen sie sich sehr unterschiedlich durch die luxuriöse Anlage inmitten der Schneelandschaft. Während Karo das Gefühl hat, in einer Falle zu sitzen, scheint Risto die Situation geradezu zu genießen: Er flirtet mit den Hotelangestellten, plant Freizeitaktivitäten und lässt sich von Karos seltsamer Stimmung nicht beirren. Bis die beiden sich plötzlich als Feinde gegenüberstehen. Terhi Kokkonen beschreibt den gefährlichen Drahtseilakt eines Paares, das ein dunkles Geheimnis hütet. Und die Anziehungskraft einer Landschaft, deren gedämpftes Weiß Gefahr verheißt.
Der Urlaub in Lappland soll die lang ersehnte Erholung für Karo und Risto bringen. Doch dann kommt es zu einem Autounfall und die beiden sitzen fest, in einem Hotel namens Arctic Mirage. Leicht verletzt und noch halb unter Schock bewegen sie sich sehr unterschiedlich durch die luxuriöse Anlage inmitten der Schneelandschaft. Während Karo das Gefühl hat, in einer Falle zu sitzen, scheint Risto die Situation geradezu zu genießen: Er flirtet mit den Hotelangestellten, plant Freizeitaktivitäten und lässt sich von Karos seltsamer Stimmung nicht beirren. Bis die beiden sich plötzlich als Feinde gegenüberstehen. Terhi Kokkonen beschreibt den gefährlichen Drahtseilakt eines Paares, das ein dunkles Geheimnis hütet. Und die Anziehungskraft einer Landschaft, deren gedämpftes Weiß Gefahr verheißt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.02.2024Wenn eine Frau ihren Ehemann ermordet
Terhi Kokkonen hat diesen Fall in einem Roman durchgespielt: Eine Begegnung mit der finnischen Autorin / Von Lennart Laberenz, Helsinki
Wenn man mit Terhi Kokkonen über Gewalt sprechen will, über Gerechtigkeit und eine Geschichte, die sie zu einem Roman verdichtet, in manchem wohl auch erlebt hat, nennt sie ein Café in der Innenstadt von Helsinki. Mit ihrer Familie (ein Mann, ein Sohn, ein Hund) lebt Kokkonen im Osten, wo die Stadt an der Küste in viele Buchten ausfranst. Ins Zentrum kommt sie selten. Nur hat das Café sonntags zu. Wind drückt den Schnee waagerecht durch die Straßen, über allem hängt seit Tagen ein betongrauer Himmel. Kurzes Nachdenken, ihr fällt der Akademische Buchladen ein, vorhin hat sie da zwei Bände Lyrik gekauft - darüber gibt es das Café Aalto.
Terhi Kokkonen wurde 1974 in Helsinki und eine so lutherische Familie geboren, dass Fernsehserien aus den USA und Popmusik verboten waren ("Derrick" ging später schon). Als sie fünf Jahre alt war, zog die Familie in die Kleinstadt Järvenpää, eine Referenz im finnischen Kulturleben: Am Tuusula-See verkehrten Anfang des 20. Jahrhunderts Maler, Musiker und Schriftsteller. Jean Sibelius lebte hier und Alexis Kivi, Pekka Halonen und Terhis ziemlich bekannter Onkel - der Komponist Joonas Kokkonen.
Während der Schulzeit lernte seine Nichte dann Leute kennen, mit denen sie viel Zeit verbringen sollte: Sie machten Popmusik, Kokkonen wurde eine von zwei Sängerinnen der sehr erfolgreichen Band "Ultra Bra", traten auf Song-Wettbewerben der Linken auf, Texte hatten auch mal mit Anna Politkowskaja zu tun. War "Ultra Bra" eine politische Band? Terhi Kokkonen wackelt mit dem Handgelenk, lächelt. So lala.
Ihr Roman, auf Deutsch bei Hanser erschienen, heißt in Elina Kritzokats Übersetzung "Arctic Mirage" nach dem Schauplatz, einem Hotel im Norden (der finnische Titel "Rajamaa", Grenzland, klang vielleicht zu sehr nach Kriminalserien). Schon durch die Überschrift leuchtet also die Tourismusindustrie - teure Bungalows in fragiler Natur, Charterflüge, Briten in Hotelbars, Amerikaner auf Motorschlitten, Deutsche im Rentiergehege. Alle umsorgt von einem Dienstleistungsapparat, Folklore-Imitate als Dienstuniform, über die sich eine Angestellte des Arctic Mirage kurz ärgert.
In Lappland - doppelt so groß wie Niedersachsen - leben nicht einmal 180.000 Menschen. Im vergangenen Winter wurden sie von einer Million Touristen aus dem Inland und fast 600.000 internationalen Gästen besucht. Terhi Kokkonen schickt das Ehepaar Karoliina und Risto hinauf, "zwei erfolgreiche erwachsene Menschen, die spontan in die entlegensten und saubersten Hotels reisen konnten, sie hatten den Punkt erreicht, an dem keine Fjellkette zu hoch für sie war. Und keine moralischen Maßstäbe zu heilig, um nicht auch mal von ihnen abzuweichen."
Es geht allerdings nicht um Gelassenheit oder Oberklassen-Ennui - gleich zum Auftakt bringt Karo ihren Ehemann um. Die Erzählung ist eine Staffelung von Rückblenden, kurze Etüden, die klären: Als die beiden aufbrachen, waren sie ziemlich am Ende ihrer Ehe. Angekommen bemerkt Karoliina, dass sie Ristos Lächeln anwidert, fragt sich, was sie daran einmal attraktiv fand.
Sehr viel davon wurzelt in Ristos Interpretation von Männlichkeit, komplett mit Selbsthilfeliteratur, die bewusstes Atmen lehrt, Sonne ins Herz scheinen lässt. Und grob geschnitzten Ansprüchen - stark und vital muss der Mann sein, Nichtigkeiten werden zu gewaltigen Problemen, Fremdgehen und gelegentliche Erniedrigungen seiner Frau gehören dazu. Karoliina hat sich zumindest gedanklich dagegen gerüstet. Sie will höchstens noch, "dass er unter ihr liegt und um Gnade fleht, will ihm das Lächeln vom Gesicht wischen".
Dabei taxiert sie all die Angestellten, die ihr täglich begegnen, mit dem abschätzigen Blick derer, die meinen, Wohlstand habe mit Mühe zu tun, Misserfolg mit fehlendem Einsatz und falscher Einstellung. Mit Risto verbindet sie Gewöhnung und Gütergemeinschaft, manchmal wünscht sie sich, dass sie ihn mehr lieben könnte. "Und ohne dabei etwas für sich einzufordern und auf ihr eigenes Glück zu bestehen." Kokkonen sagt, dass sie einen Roman im Sinn hatte, in dem Menschen Macht übereinander ausüben. Dabei sähen alle unfein aus.
"Arctic Mirage" hält sich eng an Plotlinien, nimmt sich wenig Raum, um das Innere seines Personals auszuleuchten. Vielleicht um zu zeigen, wie wenig da manchmal ist. Der Roman meidet offensichtliche Klischees: Die Natur des Nordens tritt fast ausschließlich als Verstärkung von Unwohlsein auf, Karoliina und Risto verbringen die meiste Zeit im Hotelbungalow. Davor gibt es nasse Füße, grauen Schnee bei unzweckmäßiger Kleidung. Als Karoliina Langlaufski besorgt, fängt es an zu regnen. All das, was Touristen im Polar suchen, fehlt.
Terhi Kokkonen schält sich im vollen Café aus Fäustlingen und Mantel, ist etwas nervös, weil sie selten Interviews gebe, und erzählt dann beim Grünen Tee, dass sie eigentlich einen Thriller schreiben wollte. Ein recht fertiges, aber wohlhabendes Ehepaar im Auto, Schnee und Eis, sie habe das wie ein Bild vor sich gesehen. Mit Bildern hat ihre Literatur viel zu tun: Nach Studien der Dramaturgie, Drehbuch und Filmschnitt schaute sie anders auf Texte und Spannungsbögen. Die Struktur der Rückblenden, die kurze Vorwegnahme all dessen, auf das ihr dramatischer Bogen zuläuft, erinnern an Spielfilme.
Um den Roman, der den populärsten Debütpreis des Landes gewann (ausgelobt von der größten Tageszeitung), gab es keine öffentliche Diskussion. Gar nichts, sagt Kokkonen, obwohl sie darauf vorbereitet gewesen sei, "dass ein paar Männer böse würden". Es gibt allerdings wenig Möglichkeiten für Rücklauf: In den wenigen Interviews wurde sie nicht nach dem Thema häusliche Gewalt gefragt. Gleichzeitig erheben Studien immer wieder, dass in Finnland beinahe die Hälfte der Frauen physische oder sexuelle Gewalt erleiden, fast drei Viertel sexuelle Belästigung. Die Zahlen liegen über dem EU-Durchschnitt. Kokkonens Erzählung über einen Mann, der seine Frau verprügelt, lief irgendwie nebenher.
Sie hatte auch gar nicht vor, einen politischen Roman zu schreiben, sagt sie, und wollte keine These vertreten. Dann beugt sie sich über den kleinen Kaffeetisch: "Ich war einfach wirklich wütend." Das Ergebnis verkaufte sich gut, über das Thema redete niemand.
Tatsächlich ist "Arctic Mirage" kein politischer Roman, aber man kann Verhältnisse herausarbeiten: Finnland ist eine eher konservative, in größeren Teilen ländlich geprägte Gesellschaft. Traditionen spielen eine Rolle, der paternalistische Ton vieler Männer wird selten kritisiert. Gleichzeitig hängt sich ein offizieller Diskurs gerne Gleichberechtigungs-Medaillen um.
Kokkonen schrieb an ihrem Roman, während die damals 34 Jahre alte Sanna Marin das Amt der Ministerpräsidentin übernahm, alle Regierungsparteien wurden von Frauen angeführt, drei Ministerinnen waren in ihren Dreißigern. Immer mehr Frauen erzählten, dass sie bei der Arbeit, im Kulturbetrieb von Männern bedrängt und betatscht, dass von ihnen sexuelle Gefügigkeit erwartet wurde. "Wir dachten, jetzt würde es losgehen, jetzt würden sich die Dinge verändern", sagt Kokkonen. Bekannte warnten sie vor einer Gegenbewegung.
Inzwischen hat das Land eine Regierung, die so weit im rechten Spektrum ansetzt wie noch keine seit der finnischen Unabhängigkeit. Vor allem Männer wählen die rechtspopulistischen Perussuomalaiset - eine Partei, die auch mal unverblümt fremdenfeindlich auftritt, gegen Minderheiten und "woke Kultur" agitiert. Ihr Vorsitzender ist zwar gerade bei der Präsidentschaftswahl gescheitert, aber mit überraschend gutem Ergebnis. Bis 2019 war er Mitglied einer nationalistischen Gruppe, die Nazi-Propaganda verbreitete. Gemeinsam mit der Nationalen Sammlungspartei und kleineren Koalitionspartnern kürzen sie jetzt vor allem am Sozialstaat, sparen bei denen, die wenig verdienen, Hilfe benötigen, oder Wohngeld. Freibeträge für Wohlhabende steigen dagegen.
"Wir sind ein wirklich privilegiertes Land", sagt Terhi Kokkonen, "angeblich eine der glücklichsten Gesellschaften. Aber auch rassistisch." Sie schaut auf, etwas besorgt, weniger über ihre Worte als darüber, dass sie jemand hören könnte im feinen Café Aalto.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Terhi Kokkonen hat diesen Fall in einem Roman durchgespielt: Eine Begegnung mit der finnischen Autorin / Von Lennart Laberenz, Helsinki
Wenn man mit Terhi Kokkonen über Gewalt sprechen will, über Gerechtigkeit und eine Geschichte, die sie zu einem Roman verdichtet, in manchem wohl auch erlebt hat, nennt sie ein Café in der Innenstadt von Helsinki. Mit ihrer Familie (ein Mann, ein Sohn, ein Hund) lebt Kokkonen im Osten, wo die Stadt an der Küste in viele Buchten ausfranst. Ins Zentrum kommt sie selten. Nur hat das Café sonntags zu. Wind drückt den Schnee waagerecht durch die Straßen, über allem hängt seit Tagen ein betongrauer Himmel. Kurzes Nachdenken, ihr fällt der Akademische Buchladen ein, vorhin hat sie da zwei Bände Lyrik gekauft - darüber gibt es das Café Aalto.
Terhi Kokkonen wurde 1974 in Helsinki und eine so lutherische Familie geboren, dass Fernsehserien aus den USA und Popmusik verboten waren ("Derrick" ging später schon). Als sie fünf Jahre alt war, zog die Familie in die Kleinstadt Järvenpää, eine Referenz im finnischen Kulturleben: Am Tuusula-See verkehrten Anfang des 20. Jahrhunderts Maler, Musiker und Schriftsteller. Jean Sibelius lebte hier und Alexis Kivi, Pekka Halonen und Terhis ziemlich bekannter Onkel - der Komponist Joonas Kokkonen.
Während der Schulzeit lernte seine Nichte dann Leute kennen, mit denen sie viel Zeit verbringen sollte: Sie machten Popmusik, Kokkonen wurde eine von zwei Sängerinnen der sehr erfolgreichen Band "Ultra Bra", traten auf Song-Wettbewerben der Linken auf, Texte hatten auch mal mit Anna Politkowskaja zu tun. War "Ultra Bra" eine politische Band? Terhi Kokkonen wackelt mit dem Handgelenk, lächelt. So lala.
Ihr Roman, auf Deutsch bei Hanser erschienen, heißt in Elina Kritzokats Übersetzung "Arctic Mirage" nach dem Schauplatz, einem Hotel im Norden (der finnische Titel "Rajamaa", Grenzland, klang vielleicht zu sehr nach Kriminalserien). Schon durch die Überschrift leuchtet also die Tourismusindustrie - teure Bungalows in fragiler Natur, Charterflüge, Briten in Hotelbars, Amerikaner auf Motorschlitten, Deutsche im Rentiergehege. Alle umsorgt von einem Dienstleistungsapparat, Folklore-Imitate als Dienstuniform, über die sich eine Angestellte des Arctic Mirage kurz ärgert.
In Lappland - doppelt so groß wie Niedersachsen - leben nicht einmal 180.000 Menschen. Im vergangenen Winter wurden sie von einer Million Touristen aus dem Inland und fast 600.000 internationalen Gästen besucht. Terhi Kokkonen schickt das Ehepaar Karoliina und Risto hinauf, "zwei erfolgreiche erwachsene Menschen, die spontan in die entlegensten und saubersten Hotels reisen konnten, sie hatten den Punkt erreicht, an dem keine Fjellkette zu hoch für sie war. Und keine moralischen Maßstäbe zu heilig, um nicht auch mal von ihnen abzuweichen."
Es geht allerdings nicht um Gelassenheit oder Oberklassen-Ennui - gleich zum Auftakt bringt Karo ihren Ehemann um. Die Erzählung ist eine Staffelung von Rückblenden, kurze Etüden, die klären: Als die beiden aufbrachen, waren sie ziemlich am Ende ihrer Ehe. Angekommen bemerkt Karoliina, dass sie Ristos Lächeln anwidert, fragt sich, was sie daran einmal attraktiv fand.
Sehr viel davon wurzelt in Ristos Interpretation von Männlichkeit, komplett mit Selbsthilfeliteratur, die bewusstes Atmen lehrt, Sonne ins Herz scheinen lässt. Und grob geschnitzten Ansprüchen - stark und vital muss der Mann sein, Nichtigkeiten werden zu gewaltigen Problemen, Fremdgehen und gelegentliche Erniedrigungen seiner Frau gehören dazu. Karoliina hat sich zumindest gedanklich dagegen gerüstet. Sie will höchstens noch, "dass er unter ihr liegt und um Gnade fleht, will ihm das Lächeln vom Gesicht wischen".
Dabei taxiert sie all die Angestellten, die ihr täglich begegnen, mit dem abschätzigen Blick derer, die meinen, Wohlstand habe mit Mühe zu tun, Misserfolg mit fehlendem Einsatz und falscher Einstellung. Mit Risto verbindet sie Gewöhnung und Gütergemeinschaft, manchmal wünscht sie sich, dass sie ihn mehr lieben könnte. "Und ohne dabei etwas für sich einzufordern und auf ihr eigenes Glück zu bestehen." Kokkonen sagt, dass sie einen Roman im Sinn hatte, in dem Menschen Macht übereinander ausüben. Dabei sähen alle unfein aus.
"Arctic Mirage" hält sich eng an Plotlinien, nimmt sich wenig Raum, um das Innere seines Personals auszuleuchten. Vielleicht um zu zeigen, wie wenig da manchmal ist. Der Roman meidet offensichtliche Klischees: Die Natur des Nordens tritt fast ausschließlich als Verstärkung von Unwohlsein auf, Karoliina und Risto verbringen die meiste Zeit im Hotelbungalow. Davor gibt es nasse Füße, grauen Schnee bei unzweckmäßiger Kleidung. Als Karoliina Langlaufski besorgt, fängt es an zu regnen. All das, was Touristen im Polar suchen, fehlt.
Terhi Kokkonen schält sich im vollen Café aus Fäustlingen und Mantel, ist etwas nervös, weil sie selten Interviews gebe, und erzählt dann beim Grünen Tee, dass sie eigentlich einen Thriller schreiben wollte. Ein recht fertiges, aber wohlhabendes Ehepaar im Auto, Schnee und Eis, sie habe das wie ein Bild vor sich gesehen. Mit Bildern hat ihre Literatur viel zu tun: Nach Studien der Dramaturgie, Drehbuch und Filmschnitt schaute sie anders auf Texte und Spannungsbögen. Die Struktur der Rückblenden, die kurze Vorwegnahme all dessen, auf das ihr dramatischer Bogen zuläuft, erinnern an Spielfilme.
Um den Roman, der den populärsten Debütpreis des Landes gewann (ausgelobt von der größten Tageszeitung), gab es keine öffentliche Diskussion. Gar nichts, sagt Kokkonen, obwohl sie darauf vorbereitet gewesen sei, "dass ein paar Männer böse würden". Es gibt allerdings wenig Möglichkeiten für Rücklauf: In den wenigen Interviews wurde sie nicht nach dem Thema häusliche Gewalt gefragt. Gleichzeitig erheben Studien immer wieder, dass in Finnland beinahe die Hälfte der Frauen physische oder sexuelle Gewalt erleiden, fast drei Viertel sexuelle Belästigung. Die Zahlen liegen über dem EU-Durchschnitt. Kokkonens Erzählung über einen Mann, der seine Frau verprügelt, lief irgendwie nebenher.
Sie hatte auch gar nicht vor, einen politischen Roman zu schreiben, sagt sie, und wollte keine These vertreten. Dann beugt sie sich über den kleinen Kaffeetisch: "Ich war einfach wirklich wütend." Das Ergebnis verkaufte sich gut, über das Thema redete niemand.
Tatsächlich ist "Arctic Mirage" kein politischer Roman, aber man kann Verhältnisse herausarbeiten: Finnland ist eine eher konservative, in größeren Teilen ländlich geprägte Gesellschaft. Traditionen spielen eine Rolle, der paternalistische Ton vieler Männer wird selten kritisiert. Gleichzeitig hängt sich ein offizieller Diskurs gerne Gleichberechtigungs-Medaillen um.
Kokkonen schrieb an ihrem Roman, während die damals 34 Jahre alte Sanna Marin das Amt der Ministerpräsidentin übernahm, alle Regierungsparteien wurden von Frauen angeführt, drei Ministerinnen waren in ihren Dreißigern. Immer mehr Frauen erzählten, dass sie bei der Arbeit, im Kulturbetrieb von Männern bedrängt und betatscht, dass von ihnen sexuelle Gefügigkeit erwartet wurde. "Wir dachten, jetzt würde es losgehen, jetzt würden sich die Dinge verändern", sagt Kokkonen. Bekannte warnten sie vor einer Gegenbewegung.
Inzwischen hat das Land eine Regierung, die so weit im rechten Spektrum ansetzt wie noch keine seit der finnischen Unabhängigkeit. Vor allem Männer wählen die rechtspopulistischen Perussuomalaiset - eine Partei, die auch mal unverblümt fremdenfeindlich auftritt, gegen Minderheiten und "woke Kultur" agitiert. Ihr Vorsitzender ist zwar gerade bei der Präsidentschaftswahl gescheitert, aber mit überraschend gutem Ergebnis. Bis 2019 war er Mitglied einer nationalistischen Gruppe, die Nazi-Propaganda verbreitete. Gemeinsam mit der Nationalen Sammlungspartei und kleineren Koalitionspartnern kürzen sie jetzt vor allem am Sozialstaat, sparen bei denen, die wenig verdienen, Hilfe benötigen, oder Wohngeld. Freibeträge für Wohlhabende steigen dagegen.
"Wir sind ein wirklich privilegiertes Land", sagt Terhi Kokkonen, "angeblich eine der glücklichsten Gesellschaften. Aber auch rassistisch." Sie schaut auf, etwas besorgt, weniger über ihre Worte als darüber, dass sie jemand hören könnte im feinen Café Aalto.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Terhi Kokkonens Debütroman lässt sich zweifelsohne dem Genre der "Eheeskalationsliteratur" zuordnen, hält Rezensent Peter Urban-Halle fest, hebt sich aber durch sein raffiniertes Beziehungs- und Gefühlsgeflecht von ähnlichen Büchern ab. Karo und Risto wollen in die Berge fahren, um ihre Ehe zu retten, erfahren wir, auf dem Weg haben sie aber einen Unfall und bleiben auf Anraten eines Arztes länger im Hotel. In der Woche, die sie dort verbringen, offenbart sich für Urban-Halle, dass beide Protagonisten einiges an psychischen Schwierigkeiten mit sich herumtragen, Karo hat Angstzustände, Risto unterdrückt seine Frau am laufenden Band. Hass und Liebe wirken dabei zusammen, ohne dass Kokkonen moralische Urteile fällt, hebt der Urban-Halle hervor. Letzten Endes befreit sich Karo aus ihrem Opfer-Dasein - indem sie zur Täterin wird, schließt der beeindruckte Kritiker.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Dass ein Buch gleich mit einem Mord losgeht, ist nicht wirklich ungewöhnlich. Aber ziemlich außergewöhnlich fand ich es schon, dass es der Autorin gelingt, diese Szene komplett in Vergessenheit geraten zu lassen. Am Ende ist man jedenfalls baff, wie diese Ehegeschichte derart eskalieren konnte. ... Eine so vielversprechende Autorin!" Christine Westermann, WDR 5, 27.01.24
"Es dauert, bis man merkt, was sich hier - in der klaustrophobischen Atmosphäre des Gästehauses, in der winterlichen Einsamkeit Lapplands - tatsächlich abspielt: ein Fall von Gaslighting nämlich. Ein Werk über die Allgegenwart von Macht und Manipulation." Oliver Pfohlmann, WDR3, 30.01.24
"Temporeich, nuanciert und intelligent!" Annemarie Stoltenberg, NDR, 30.04.24
"Obwohl der Ausgang bekannt scheint, entwickelt dieser gekonnt arrangierte, nur von der Seitenzahl her schmale Roman psychologische Hochspannung." Joachim Feldmann, Der Freitag, 12.04.24
"Ein brillanter Roman! Dank der vielen Sichtweisen der Nebenfiguren entsteht Baustein für Baustein das faszinierende Psychogramm eines Paares." Christian Koch, rbb radioeins, 19.02.24
"Spektakulär und außergewöhnlich ... Die Finnen können sich glücklich schätzen, dass sie so eine tolle Autorin haben!" Christine Westermann WDR2, 07.03.24
"Kokkonens Literatur hat viel mit Bildern zu tun ... die Struktur der Rückblenden, die kurze Vorwegnahme all dessen, auf das ihr dramatischer Bogen zuläuft, erinnern an Spielfilme." Lennart Laberenz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.02.24
"Ein brillant konstruierter, eiskalter Roman. Raffiniert und hochspannend!" Sonja Hartl, SWR2, 07.03.24
"Terhi Kokkonen verzichtet dabei auf moralische Urteile, Haupt- und Nebenpersonen sind raffiniert und skurril miteinander verflochten, und identifizieren kann man sich mit keiner von ihnen. Dies alles hebt ihr Buch erfrischend aus dem literarischen Mainstream hervor." Peter Urban-Halle, NZZ, 22.03.24
"Überall geht es um Macht und Manipulation. Packend!" Flow, 01.05.24
"Ein raffiniert erzählter Debütroman ... Terhi Kokkonen ist clever genug, ihre Geschichte von Kontrollverlust und unerfüllten Sehnsüchten offen zu halten. Ein Stereotype der Nordic-Crime-Romane erfüllt sie jedoch: Wo Polizisten Fellmützen tragen und Doppelbuchstaben sich häufen, verfärbt sich der Schnee garantiert blutrot." Nils Heuner, kulturnews.de, 27.01.24
"Was ist Absicht, was verzerrte Wahrnehmung? Die Lesart ändert sich je nach Preisgabe vergangener Ereignisse. ... Terhi Kokkonens Roman ist mehr als das Psychogramm eines Paares: Die Beschreibung einer aus dem Takt geratenen Gesellschaft, der alles Menschliche fremd geworden ist." Ingrid Mylo, Badische Zeitung, 03.02.24
"Es gibt weder Gut noch Böse. Nur Menschlich. ... Den Horror dieses Romans bildet die alltägliche Manipulation einer unglücklichen Paarbeziehung. Da kann man nur sagen: Gut gespielt!" Christina Vettorazzi, Falter, 14.02.24
Der Debütroman der finnischen Autorin gehört zu jenen Werken, die ihren Reiz vor allem aus der Wie-Spannung beziehen. ... Mehr als ein Werk über Gaslighting ist Arctic Mirage eines über die Allgegenwart von Macht und Manipulation." Oliver Pfohlmann, Landshuter Magazin, 13.04.24
"Es dauert, bis man merkt, was sich hier - in der klaustrophobischen Atmosphäre des Gästehauses, in der winterlichen Einsamkeit Lapplands - tatsächlich abspielt: ein Fall von Gaslighting nämlich. Ein Werk über die Allgegenwart von Macht und Manipulation." Oliver Pfohlmann, WDR3, 30.01.24
"Temporeich, nuanciert und intelligent!" Annemarie Stoltenberg, NDR, 30.04.24
"Obwohl der Ausgang bekannt scheint, entwickelt dieser gekonnt arrangierte, nur von der Seitenzahl her schmale Roman psychologische Hochspannung." Joachim Feldmann, Der Freitag, 12.04.24
"Ein brillanter Roman! Dank der vielen Sichtweisen der Nebenfiguren entsteht Baustein für Baustein das faszinierende Psychogramm eines Paares." Christian Koch, rbb radioeins, 19.02.24
"Spektakulär und außergewöhnlich ... Die Finnen können sich glücklich schätzen, dass sie so eine tolle Autorin haben!" Christine Westermann WDR2, 07.03.24
"Kokkonens Literatur hat viel mit Bildern zu tun ... die Struktur der Rückblenden, die kurze Vorwegnahme all dessen, auf das ihr dramatischer Bogen zuläuft, erinnern an Spielfilme." Lennart Laberenz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.02.24
"Ein brillant konstruierter, eiskalter Roman. Raffiniert und hochspannend!" Sonja Hartl, SWR2, 07.03.24
"Terhi Kokkonen verzichtet dabei auf moralische Urteile, Haupt- und Nebenpersonen sind raffiniert und skurril miteinander verflochten, und identifizieren kann man sich mit keiner von ihnen. Dies alles hebt ihr Buch erfrischend aus dem literarischen Mainstream hervor." Peter Urban-Halle, NZZ, 22.03.24
"Überall geht es um Macht und Manipulation. Packend!" Flow, 01.05.24
"Ein raffiniert erzählter Debütroman ... Terhi Kokkonen ist clever genug, ihre Geschichte von Kontrollverlust und unerfüllten Sehnsüchten offen zu halten. Ein Stereotype der Nordic-Crime-Romane erfüllt sie jedoch: Wo Polizisten Fellmützen tragen und Doppelbuchstaben sich häufen, verfärbt sich der Schnee garantiert blutrot." Nils Heuner, kulturnews.de, 27.01.24
"Was ist Absicht, was verzerrte Wahrnehmung? Die Lesart ändert sich je nach Preisgabe vergangener Ereignisse. ... Terhi Kokkonens Roman ist mehr als das Psychogramm eines Paares: Die Beschreibung einer aus dem Takt geratenen Gesellschaft, der alles Menschliche fremd geworden ist." Ingrid Mylo, Badische Zeitung, 03.02.24
"Es gibt weder Gut noch Böse. Nur Menschlich. ... Den Horror dieses Romans bildet die alltägliche Manipulation einer unglücklichen Paarbeziehung. Da kann man nur sagen: Gut gespielt!" Christina Vettorazzi, Falter, 14.02.24
Der Debütroman der finnischen Autorin gehört zu jenen Werken, die ihren Reiz vor allem aus der Wie-Spannung beziehen. ... Mehr als ein Werk über Gaslighting ist Arctic Mirage eines über die Allgegenwart von Macht und Manipulation." Oliver Pfohlmann, Landshuter Magazin, 13.04.24