Die faszinierende Kulturgeschichte der gescheiterten Kunstwerke in einer prachtvoll gestalteten Ausgabe
Weshalb gibt es von Stanley Kubricks monumentalem Filmvorhaben zu Napoleon nur ein Drehbuch? Warum hört Stockhausens Werkzyklus mit dem seltsamen Titel KLANG bei der 21. Stunde auf? Und wieso schaffte es David Foster Wallace nicht, seinen Roman »Der bleiche König« zu vollenden? Die Liste der gescheiterten Kunstwerke der Kulturgeschichte ist lang und spektakulär. Und die Gründe für das Scheitern sind so unterschiedlich wie die einzelnen Projekte: Mal war es der Größenwahn des Künstlers, ein anderes Mal fehlte plötzlich das Geld, nicht selten kam ein früher Tod dazwischen. Der Schriftsteller Thomas von Steinaecker erzählt in seinem Buch die außergewöhnlichsten Geschichten hinter dem Scheitern und zeigt, wie einflussreich Ideen sein können, die nur in unserer Fantasie existieren.
Weshalb gibt es von Stanley Kubricks monumentalem Filmvorhaben zu Napoleon nur ein Drehbuch? Warum hört Stockhausens Werkzyklus mit dem seltsamen Titel KLANG bei der 21. Stunde auf? Und wieso schaffte es David Foster Wallace nicht, seinen Roman »Der bleiche König« zu vollenden? Die Liste der gescheiterten Kunstwerke der Kulturgeschichte ist lang und spektakulär. Und die Gründe für das Scheitern sind so unterschiedlich wie die einzelnen Projekte: Mal war es der Größenwahn des Künstlers, ein anderes Mal fehlte plötzlich das Geld, nicht selten kam ein früher Tod dazwischen. Der Schriftsteller Thomas von Steinaecker erzählt in seinem Buch die außergewöhnlichsten Geschichten hinter dem Scheitern und zeigt, wie einflussreich Ideen sein können, die nur in unserer Fantasie existieren.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Sigrid Löffler zeigt sich begeistert von diesem Band, in dem sie mit anhaltender Faszination durch eine erstaunliche Kollektion unfreiwillig unvollendet gebliebener Kunstwerke aus verschiedenen Kunstsparten blättert. Einzelne Werke daraus seien bekannt wie Gaudís Sagrada Familia oder Kafkas Romanfragmente, so Löffler. Von vielen Kunstwerken jedoch habe er noch nie gehört gehört: Eine Installation mit dem bizarren Titel "Thron des dritten Himmels der nationalen Jahrtausend-Generalversammlung" etwa - Lebenswerk eines passionierten Hobby-Bastlers, oder Fontanes hundertfünfzig Romanentwürfe. Steinaecker beschreibt die Entstehung sowie das Scheitern dieser Werke, und das in einem meist eher nüchtern berichtenden Erzählton, erfreulich selten emotionale, erklärt der Rezensentin. Worum es jedoch eigentlich geht, das ist die besondere "Aura" des Fragments: Löffler gelingt es auf beeindruckende Weise, deutlich zu machen, wie und warum sie entsteht, was diese Fragmente zum Mythos werden lässt. Etwas unpräzise scheint der Kritikerin leider der Untertitel des Buches. Schließlich seien nicht alle Werke dieser Sammlung Zeugen eines Scheiterns. In vielen Fällen sind die Künstler einfach frühzeitig verstorben. Doch dieses Manko verzeiht Löffler gern!
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.02.2022Ruinen des Größenwahns
Mal bizarr, mal herzzerreißend: Thomas von Steinaeckers
Geschichten von abgebrochenen Kunstwerken
VON SIGRID LÖFFLER
Er beabsichtige, „den besten Film aller Zeiten zu drehen“, schrieb der Regisseur, doch die Studiobosse winkten ab: An einem weiteren historischen Kostümspektakel über Napoleon waren sie nicht interessiert, nicht einmal, wenn Stanley Kubrick, seit seinem Geniestreich „Odyssee im Weltraum“ von 1968 der prominenteste Star-Regisseur der Epoche, den Film drehen wollte. Von diesem monumentalen Vorhaben, das kraft seiner Niedagewesenheit alle Bonaparte-Biopics bisher übertrumpfen sollte, existieren nur ein Drehbuch, 15000 Fotos von Originalschauplätzen und möglichen Drehorten und ein ganzer Schrank voller Karteikarten des Regisseurs. Doch allein vom Drehbuch sahen sich die Studio-Chefs überfordert: Kubrick träumte davon, Napoleons historische Schlachten akkurat nachzustellen: Von der rumänischen Armee wollte er sich dafür 40 000 Fußsoldaten und 10 000 berittene Soldaten ausleihen. Am Neujahrstag 1969 gab das MGM-Studio in Hollywood bekannt, das Projekt sei abgesagt.
Für Thomas von Steinaecker ist dieses gescheiterte Projekt nur eines von Hunderten Beispielen für nicht fertiggestellte Kunstwerke in Literatur, Musik, Malerei, Plastik, Architektur und Film, seit der Renaissance bis heute, von Michelangelo bis Wolfgang Herrndorf und von Leonardo bis Brian Wilson von den Beach Boys. Sein Buch „Ende offen“ ist eine enzyklopädische Sammlung von Werken, die Fragment geblieben sind, steckengeblieben, vom Künstler unvollendet aufgegeben. Er erzählt die Entstehungsgeschichten dieser Werke und die besonderen Umstände, die jeweils zum Abbruch der Arbeit führten. Wobei absichtliche Fragmente den Autor ausdrücklich nicht interessieren, wie er im Vorwort feststellt. Wenig abgewinnen kann er der Idee der Romantiker, wonach das einzig gelungene Kunstwerk das Fragment sei, weil es sich erst in der Einbildungskraft des Betrachters vollende und in seiner Unabschließbarkeit auf seine eigene Transzendenz verweise.
Steinaecker, Jahrgang 1977, ist selbst einer der vielseitigsten deutschen Gegenwartskünstler. Er pendelt zwischen unterschiedlichen Avantgarden, zwischen Sprach-, Sound- und Bildwelten, und ist ein Multi-Tasker: Verfasser von Konzeptromanen, Hörspiel-Autor, Texter von Graphic Novels, Journalist, Regisseur und Dokumentarfilmer, vor allem von TV-Dokus über Komponisten des 20. Jahrhunderts. Das gibt ihm den weiten Überblick, der ihn befähigt, für sein Kompendium Beispiele aus den unterschiedlichsten Kunstbereichen heranzuziehen.
Berühmte unvollendete Projekte sind darunter, wie etwa Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, Mozarts Requiem oder Antoni Gaudís Kathedrale „La Sagrada Familia“ in Barcelona. Doch Steinaecker widmet auch solchen unfreiwilligen Fragmenten ganze Kapitel, an die man nicht sofort denken würde. Da finden sich sonderbare, utopische, exzentrische, abstruse, bizarre, größenwahnsinnige, vergessene, jäh abgebrochene und tragisch verunglückte Projekte.
Beispielsweise die Hobbybastelei, an der der fromme Hausmeister James Hampton mehr als ein Jahrzehnt lang in einer Garage in Washington werkelte und die er „Thron des dritten Himmels der nationalen Jahrtausend-Generalversammlung“ nannte. Er verwandelte die Garage in eine Schatzkammer aus Sperrmüll, in einen von Gold- und Silberfolie glänzenden, von Glühbirnen erleuchteten und von Spiegelscherben funkelnden Thronsaal für die Wiederkehr Christi. Heute ist Hamptons unvollendetes Thron-Ensemble in einem Saal im Smithsonian Museum of American Art in Washington zu besichtigen.
Auch die drei Merzbauten von Kurt Schwitters gehören in diese Reihe der bizarren unvollendeten Architektur-Phantasien. Vom ersten Merzbau, einer grandiosen Überwucherung seines Elternhauses in Hannover, existieren nur noch einige Fotos: Bei der Bombardierung der Stadt erhielt das Haus einen Volltreffer, Schwitters’ Lebenswerk ging in Flammen auf.
Gerade solche entlegenen Beispiele machen die Lektüre überraschend und faszinierend. „Ende offen“ ist ein einzigartiges Buch, in dem man endlos blättern, kreuz und quer herum- und sich überall festlesen kann. Es ist erstaunlich, wie viele Romane, Musik-Alben, Sinfonien, Bauwerke, Gemälde, Film-Projekte abgebrochen wurden und unvollendet geblieben sind. Wer weiß schon, dass sich in Theodor Fontanes Nachlass 150 literarische Bruchstücke fanden, Entwürfe für nie geschriebene Romane und Erzählungen. Und wer weiß schon, dass es einen unvollendeten Film mit Romy Schneider gibt mit dem Titel „Die Hölle“. Die 15 Stunden Drehmaterial sind in irgendeinem Archiv verschwunden. Wie überhaupt die Filmkunst besonders anfällig fürs Scheitern scheint. Nicht nur Megalomanie und Hybris von Regisseuren, sondern ebenso die Abhängigkeit der Filmindustrie von oft banausischen Finanziers und Studiobossen sind häufige Gründe für den Abbruch von Filmprojekten.
Dem „König des Scheiterns“, dem größenwahnsinnigen Genie Orson Welles, widmet Steinaecker ein eigenes Kapitel: Niemand hat mehr unvollendete Filmprojekte hinterlassen als der Regisseur von „Citizen Kane“. Jeder Film, der nach „Citizen Kane“ kommen sollte, wurde ein Desaster, Welles hatte eine Abschluss-Schwäche: Ehe er einen abgedrehten Film zu Ende schnitt, hatte er längst parallel ein oder zwei andere Filme begonnen, weilte zu Dreharbeiten im Ausland und war sonstwie unabkömmlich. Er überließ es den Studios, seine monumentalen, vielstündigen Film-Torsi auf Kinolänge zu kürzen und beschwerte sich dann, sie hätten seine Meisterwerke „mit dem Rasenmäher“ geschnitten.
Und erst recht die Literatur! Ein wahres Schlachtfeld unvollendeter Romane: von Marcel Proust bis Heimito von Doderer, von David Foster Wallace bis Hermann Burger. Dass Franz Kafka in unüberwindbaren ästhetischen Selbstzweifeln steckenblieb und nur Roman-Fragmente hinterließ, ist allgemein bekannt. Im Falle Robert Musils weicht Steinaecker vom cool referierenden Berichtston ab, in dem er seine Beispiele für verunglückte Kunstwerke zumeist vorträgt. „Der Mann ohne Eigenschaften“ war Musils Lebensunglück, er quälte sich jahrzehntelang, und er ist daran gestorben. Er hinterließ einen unvollendeten Roman über die Gründe für die Katastrophe des Ersten Weltkriegs, während der Zweite vor der Tür stand und seinem Roman den Boden entzog. Diese Tragödie liest sich bei Steinaecker herzzerreißend.
Von Thomas Bernhard geistert ein verschollenes Roman-Projekt mit dem Titel „Neufundland“ durch den Nachlass. Der geplante „Todesarten“-Zyklus von Ingeborg Bachmann ist ein monumentaler Steinbruch von Fragmenten. Und von W. G. Sebalds „Korsika“-Roman existieren nur Entwürfe, Skizzen, Notizen und
Aufzeichnungen in zwei Fassungen, ehe der Autor alle Materialien in eine Schachtel stopfte und als gescheitert beiseitelegte.
Aber muss man all diese unvollendeten Werke gescheitert nennen? Muss man sie als misslungen abqualifizieren, so, als habe der Künstler sich übernommen, sich verspekuliert, es nicht hingekriegt? Der Untertitel „Das Buch der gescheiterten Kunstwerke“ ist eher salopp als präzise und führt in manchen Fällen in die Irre. Nicht alle Fragment gebliebenen Kunstwerke sind Ruinen des Größenwahns oder des Versagens. Gaudí ist an seiner Kathedrale nicht gescheitert. Der Architekt wurde 1926 in Barcelona von der Straßenbahn überfahren, als bei seinem Tod gerade mal vier der geplanten achtzehn Türme der „Sagrada Familia“ fertiggestellt waren. Und Puccini ist an „Turandot“ nicht gescheitert. Ein tödlicher Herzinfarkt 1924 war schuld, dass die fast fertige Oper ein Torso blieb.
Geschenkt. Was Steinaeckers Buch auf eindrucksvolle Weise bewusst macht, ist die besondere Aura, die Fragmente entwickeln, indem sie das Utopische der Kunst erahnen lassen. Es ist unsere Phantasie, die diese Torsi ergänzt und das Unfertige vollendet. Erst die Phantasie macht das Fragment zum Mythos.
In Theodor Fontanes
Nachlass fanden sich 150
literarische Bruchstücke
Der König des Scheiterns
ist Orson Welles, der Regisseur
von „Citizen Kane“
Jähes Ende: Der spanische Architekt Antoni Gaudí wurde 1926 von der Straßenbahn überfahren. Zu diesem Zeitpunkt waren von den geplanten achtzehn Türmen seiner Kathedrale „Sagrada Familia“ erst die vier fertiggestellt, die man noch heute in Barcelona besichtigen kann.
Foto: Matthias Balk/dpa
Thomas von Steinaecker: Ende offen. Das Buch der gescheiterten Kunstwerke. S. Fischer, Frankfurt am Main 2021.
604 Seiten, 35 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Mal bizarr, mal herzzerreißend: Thomas von Steinaeckers
Geschichten von abgebrochenen Kunstwerken
VON SIGRID LÖFFLER
Er beabsichtige, „den besten Film aller Zeiten zu drehen“, schrieb der Regisseur, doch die Studiobosse winkten ab: An einem weiteren historischen Kostümspektakel über Napoleon waren sie nicht interessiert, nicht einmal, wenn Stanley Kubrick, seit seinem Geniestreich „Odyssee im Weltraum“ von 1968 der prominenteste Star-Regisseur der Epoche, den Film drehen wollte. Von diesem monumentalen Vorhaben, das kraft seiner Niedagewesenheit alle Bonaparte-Biopics bisher übertrumpfen sollte, existieren nur ein Drehbuch, 15000 Fotos von Originalschauplätzen und möglichen Drehorten und ein ganzer Schrank voller Karteikarten des Regisseurs. Doch allein vom Drehbuch sahen sich die Studio-Chefs überfordert: Kubrick träumte davon, Napoleons historische Schlachten akkurat nachzustellen: Von der rumänischen Armee wollte er sich dafür 40 000 Fußsoldaten und 10 000 berittene Soldaten ausleihen. Am Neujahrstag 1969 gab das MGM-Studio in Hollywood bekannt, das Projekt sei abgesagt.
Für Thomas von Steinaecker ist dieses gescheiterte Projekt nur eines von Hunderten Beispielen für nicht fertiggestellte Kunstwerke in Literatur, Musik, Malerei, Plastik, Architektur und Film, seit der Renaissance bis heute, von Michelangelo bis Wolfgang Herrndorf und von Leonardo bis Brian Wilson von den Beach Boys. Sein Buch „Ende offen“ ist eine enzyklopädische Sammlung von Werken, die Fragment geblieben sind, steckengeblieben, vom Künstler unvollendet aufgegeben. Er erzählt die Entstehungsgeschichten dieser Werke und die besonderen Umstände, die jeweils zum Abbruch der Arbeit führten. Wobei absichtliche Fragmente den Autor ausdrücklich nicht interessieren, wie er im Vorwort feststellt. Wenig abgewinnen kann er der Idee der Romantiker, wonach das einzig gelungene Kunstwerk das Fragment sei, weil es sich erst in der Einbildungskraft des Betrachters vollende und in seiner Unabschließbarkeit auf seine eigene Transzendenz verweise.
Steinaecker, Jahrgang 1977, ist selbst einer der vielseitigsten deutschen Gegenwartskünstler. Er pendelt zwischen unterschiedlichen Avantgarden, zwischen Sprach-, Sound- und Bildwelten, und ist ein Multi-Tasker: Verfasser von Konzeptromanen, Hörspiel-Autor, Texter von Graphic Novels, Journalist, Regisseur und Dokumentarfilmer, vor allem von TV-Dokus über Komponisten des 20. Jahrhunderts. Das gibt ihm den weiten Überblick, der ihn befähigt, für sein Kompendium Beispiele aus den unterschiedlichsten Kunstbereichen heranzuziehen.
Berühmte unvollendete Projekte sind darunter, wie etwa Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, Mozarts Requiem oder Antoni Gaudís Kathedrale „La Sagrada Familia“ in Barcelona. Doch Steinaecker widmet auch solchen unfreiwilligen Fragmenten ganze Kapitel, an die man nicht sofort denken würde. Da finden sich sonderbare, utopische, exzentrische, abstruse, bizarre, größenwahnsinnige, vergessene, jäh abgebrochene und tragisch verunglückte Projekte.
Beispielsweise die Hobbybastelei, an der der fromme Hausmeister James Hampton mehr als ein Jahrzehnt lang in einer Garage in Washington werkelte und die er „Thron des dritten Himmels der nationalen Jahrtausend-Generalversammlung“ nannte. Er verwandelte die Garage in eine Schatzkammer aus Sperrmüll, in einen von Gold- und Silberfolie glänzenden, von Glühbirnen erleuchteten und von Spiegelscherben funkelnden Thronsaal für die Wiederkehr Christi. Heute ist Hamptons unvollendetes Thron-Ensemble in einem Saal im Smithsonian Museum of American Art in Washington zu besichtigen.
Auch die drei Merzbauten von Kurt Schwitters gehören in diese Reihe der bizarren unvollendeten Architektur-Phantasien. Vom ersten Merzbau, einer grandiosen Überwucherung seines Elternhauses in Hannover, existieren nur noch einige Fotos: Bei der Bombardierung der Stadt erhielt das Haus einen Volltreffer, Schwitters’ Lebenswerk ging in Flammen auf.
Gerade solche entlegenen Beispiele machen die Lektüre überraschend und faszinierend. „Ende offen“ ist ein einzigartiges Buch, in dem man endlos blättern, kreuz und quer herum- und sich überall festlesen kann. Es ist erstaunlich, wie viele Romane, Musik-Alben, Sinfonien, Bauwerke, Gemälde, Film-Projekte abgebrochen wurden und unvollendet geblieben sind. Wer weiß schon, dass sich in Theodor Fontanes Nachlass 150 literarische Bruchstücke fanden, Entwürfe für nie geschriebene Romane und Erzählungen. Und wer weiß schon, dass es einen unvollendeten Film mit Romy Schneider gibt mit dem Titel „Die Hölle“. Die 15 Stunden Drehmaterial sind in irgendeinem Archiv verschwunden. Wie überhaupt die Filmkunst besonders anfällig fürs Scheitern scheint. Nicht nur Megalomanie und Hybris von Regisseuren, sondern ebenso die Abhängigkeit der Filmindustrie von oft banausischen Finanziers und Studiobossen sind häufige Gründe für den Abbruch von Filmprojekten.
Dem „König des Scheiterns“, dem größenwahnsinnigen Genie Orson Welles, widmet Steinaecker ein eigenes Kapitel: Niemand hat mehr unvollendete Filmprojekte hinterlassen als der Regisseur von „Citizen Kane“. Jeder Film, der nach „Citizen Kane“ kommen sollte, wurde ein Desaster, Welles hatte eine Abschluss-Schwäche: Ehe er einen abgedrehten Film zu Ende schnitt, hatte er längst parallel ein oder zwei andere Filme begonnen, weilte zu Dreharbeiten im Ausland und war sonstwie unabkömmlich. Er überließ es den Studios, seine monumentalen, vielstündigen Film-Torsi auf Kinolänge zu kürzen und beschwerte sich dann, sie hätten seine Meisterwerke „mit dem Rasenmäher“ geschnitten.
Und erst recht die Literatur! Ein wahres Schlachtfeld unvollendeter Romane: von Marcel Proust bis Heimito von Doderer, von David Foster Wallace bis Hermann Burger. Dass Franz Kafka in unüberwindbaren ästhetischen Selbstzweifeln steckenblieb und nur Roman-Fragmente hinterließ, ist allgemein bekannt. Im Falle Robert Musils weicht Steinaecker vom cool referierenden Berichtston ab, in dem er seine Beispiele für verunglückte Kunstwerke zumeist vorträgt. „Der Mann ohne Eigenschaften“ war Musils Lebensunglück, er quälte sich jahrzehntelang, und er ist daran gestorben. Er hinterließ einen unvollendeten Roman über die Gründe für die Katastrophe des Ersten Weltkriegs, während der Zweite vor der Tür stand und seinem Roman den Boden entzog. Diese Tragödie liest sich bei Steinaecker herzzerreißend.
Von Thomas Bernhard geistert ein verschollenes Roman-Projekt mit dem Titel „Neufundland“ durch den Nachlass. Der geplante „Todesarten“-Zyklus von Ingeborg Bachmann ist ein monumentaler Steinbruch von Fragmenten. Und von W. G. Sebalds „Korsika“-Roman existieren nur Entwürfe, Skizzen, Notizen und
Aufzeichnungen in zwei Fassungen, ehe der Autor alle Materialien in eine Schachtel stopfte und als gescheitert beiseitelegte.
Aber muss man all diese unvollendeten Werke gescheitert nennen? Muss man sie als misslungen abqualifizieren, so, als habe der Künstler sich übernommen, sich verspekuliert, es nicht hingekriegt? Der Untertitel „Das Buch der gescheiterten Kunstwerke“ ist eher salopp als präzise und führt in manchen Fällen in die Irre. Nicht alle Fragment gebliebenen Kunstwerke sind Ruinen des Größenwahns oder des Versagens. Gaudí ist an seiner Kathedrale nicht gescheitert. Der Architekt wurde 1926 in Barcelona von der Straßenbahn überfahren, als bei seinem Tod gerade mal vier der geplanten achtzehn Türme der „Sagrada Familia“ fertiggestellt waren. Und Puccini ist an „Turandot“ nicht gescheitert. Ein tödlicher Herzinfarkt 1924 war schuld, dass die fast fertige Oper ein Torso blieb.
Geschenkt. Was Steinaeckers Buch auf eindrucksvolle Weise bewusst macht, ist die besondere Aura, die Fragmente entwickeln, indem sie das Utopische der Kunst erahnen lassen. Es ist unsere Phantasie, die diese Torsi ergänzt und das Unfertige vollendet. Erst die Phantasie macht das Fragment zum Mythos.
In Theodor Fontanes
Nachlass fanden sich 150
literarische Bruchstücke
Der König des Scheiterns
ist Orson Welles, der Regisseur
von „Citizen Kane“
Jähes Ende: Der spanische Architekt Antoni Gaudí wurde 1926 von der Straßenbahn überfahren. Zu diesem Zeitpunkt waren von den geplanten achtzehn Türmen seiner Kathedrale „Sagrada Familia“ erst die vier fertiggestellt, die man noch heute in Barcelona besichtigen kann.
Foto: Matthias Balk/dpa
Thomas von Steinaecker: Ende offen. Das Buch der gescheiterten Kunstwerke. S. Fischer, Frankfurt am Main 2021.
604 Seiten, 35 Euro.
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Weniger zum Schauen, dafür umso mehr zum Schmökern ist "Ende offen". Barbara Hein Art 20220218
Rezensent Paul Jandl regt Thomas von Steinaeckers Buch über unvollendete Kunstwerke mächtig zum Nachdenken an - über den Traum des Menschen von der Vollendung und sein dauerndes Scheitern. Jandl denkt an Kubricks nie gedrehten Napoleon-Film, an Musils großes Romanfragment die Mitglieder des "Club 27" und Brian Wilsons "Smile"-Album. Seufzend stellt er fest, dass Unvollendetes den Mythos befördert - und Steinaecker ein "brillantes" Buch nicht nur verfasst, sondern auch vollendet hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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