Ilonotschka Oblomowa ist dreiundreißig und lebt mit ihrer Freundin Anna Katharina in einer WG in Berlin. Finanziell von den Eltern abgesichert, von Anna bekocht, gibt es wenig, das sie bekümmert. Am liebsten verbringt sie ihre Tage träumend im Bett. Wenn da nicht ihre Freunde wären, die sie von allen Seiten bedrängten, mit ihrem Aktivismus, ihren Petitionen und politischen Parolen. Und wenn nicht dieser Brief gekommen wäre, in dem ihre Eltern ihr drohten, den Geldhahn zuzudrehen ...Ausgehend vom Original, dem legendären OBLOMOW von Gontscharow, einem russischen Kleinadligen aus dem Jahre 1859, zieht sich der Comic vor allem die Big Lebowskische Liegesituation in die Gegenwart. Das ist spannend! Denn die Vergangenheit als Orientierungsanker im Backflash erlaubt einen unverstellten Blick auf die Gegenwart:Was ändert sich und was bleibt immer gleich?
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.03.2024Liegen und liegen lassen
Tina Brenneisen holt in ihrem Comic „Oblomowa“
einen berühmten Nichtstuer in die Berliner Gegenwart.
Vielleicht hat Tina Brenneisen die Zwangspause während der Corona-Pandemie inspiriert – oder war es vielleicht doch der lärmende Gedankenstillstand vieler Debatten auf Social Media? Ilonotschka Oblomowa, die Heldin ihres Comics, würde sich jedenfalls mit jeder Form von Unbeweglichkeit bestens arrangieren. Mit ihrem berühmten Vorbild, dem Kleinadeligen Oblomow, den der russische Schriftsteller Iwan Gontscharow in seinem 1859 erschienen Roman porträtiert, teilt Ilonotschka die Liebe zur Passivität. Ihre bevorzugte Haltung ist, wie seine, das Liegen, Tina Brenneisen holt sie in die Berliner Gegenwart: „Für Ilona Oblomowa“, heißt es, „war das Liegen keine Notwendigkeit wie für einen Kranken oder wie für jemanden, der schlafen möchte. Es war auch keine Zufälligkeit wie für einen, der erschöpft ist, und kein Genuss wie für einen Faulpelz. Es war ihr Normalzustand.“
Bekannt wurde Brenneisen mit einer schmerzhaft intimen Graphic Novel über die Totgeburt ihres Sohnes Lasse. In „Oblomowa“ schlägt sie einen völlig anderen, spitz-parodistischen Ton an, lässt mit der Figur der Oblomowa und deren Freunden eine Typologie der Gegenwart antanzen – obwohl die Oblomowa sich möglichst wenig bewegt, ist das Buch überaus quirlig. Das liegt am aktivistischen Furor ihrer Freunde: den Radikalinskis etwa, Miesowitsch, der überall Verschwörung und Diktatur wittert, und Svenjuschka, einer Ernährungsdiktatorin („du trinkst immer noch echte Milch?!!“), oder Irina, einer in jeder Hinsicht spitzmündigen Feministin. Wenn solche „Freunde“ aufeinandertreffen, wird ein irre komischer verbaler Schlagabtausch daraus.
Doof sind diese Wortgefechte nicht, es geht um große Themen, grotesk überdreht: das Verhältnis von Männern und Frauen, „Me Too“, Rassismus, Gender-sternchen, um Selbstdarstellungswahn und Social Media, moralisch vertretbare Ernährung, auch um den Comic und andere Künste. Dabei lässt die Oblomowa mit ihrer Trägheit aus diesen Debatten gern mal die Heißluft raus: Auf „Instisoup“ etwa, wo der Malerfreund seine Ausstellung „Make Art Sick again“ zeigt, ist sie schon lange nicht mehr: „War mir zu mühselig. Das ganze Gelike. Außerdem ... was sollte ich auch posten? Mich beim Liegen?“
„Oblomowa“ ist ein Kammerspiel, die Liegende das Zentrum einer Bühne, auf der enorm viel in Bewegung zu sein scheint. Wenn etwa Ilonotschka mit Irina über die sexistische Darstellung von Frauen im Comic spricht, spazieren die beiden an einer Hügellandschaft aus stramm nach oben ragenden Silikonbrüsten vorbei, um dann in eine Art Höhle zu geraten, wo boxsackähnliche Ausstülpungen von oben ins Bild hängen: „Wenn du mehr Realität willst“, hatte die Oblomowa zu Irina gesagt, „zeichne halt alte Säcke.“
Es sind die Worte, die in bissige Zeichnungen übersetzt werden, wirklich bewegt wird dabei nichts. Brenneisen zeigt den verbalen Aktivismus dieser Figuren, das Diskutieren über „Weit-weg-Probleme“ als das, was es ist: Gerede, um „social credit points“ zu kassieren, bei der die „schöne Fähigkeit zur Empathie irgendwann ausleiert ... wie ein Schlüpfergummi“. Auf der Straße rotten sich derweil die Identitären zusammen (irgendwer hat wohl mal aus dem Fenster gesehen, so erfahren wir das). Und da wäre auch noch der Brief, den die Oblomowa bekommen hat, in dem ihre Eltern drohen, ihr die Unterstützung zu entziehen. Es wäre ihr Ruin. Den Brief hat sie verlegt – aber ihn suchen, etwas gegen die drohende Katastrophe tun? Morgen ist auch noch ein Tag ... Was für ein treffendes Bild unserer Gegenwart.
MARTINA KNOBEN
Tina Brenneisen
(Text und Zeichnungen):
Oblomowa.
Parallelallee, Berlin 2024. 252 Seiten, 30 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Tina Brenneisen holt in ihrem Comic „Oblomowa“
einen berühmten Nichtstuer in die Berliner Gegenwart.
Vielleicht hat Tina Brenneisen die Zwangspause während der Corona-Pandemie inspiriert – oder war es vielleicht doch der lärmende Gedankenstillstand vieler Debatten auf Social Media? Ilonotschka Oblomowa, die Heldin ihres Comics, würde sich jedenfalls mit jeder Form von Unbeweglichkeit bestens arrangieren. Mit ihrem berühmten Vorbild, dem Kleinadeligen Oblomow, den der russische Schriftsteller Iwan Gontscharow in seinem 1859 erschienen Roman porträtiert, teilt Ilonotschka die Liebe zur Passivität. Ihre bevorzugte Haltung ist, wie seine, das Liegen, Tina Brenneisen holt sie in die Berliner Gegenwart: „Für Ilona Oblomowa“, heißt es, „war das Liegen keine Notwendigkeit wie für einen Kranken oder wie für jemanden, der schlafen möchte. Es war auch keine Zufälligkeit wie für einen, der erschöpft ist, und kein Genuss wie für einen Faulpelz. Es war ihr Normalzustand.“
Bekannt wurde Brenneisen mit einer schmerzhaft intimen Graphic Novel über die Totgeburt ihres Sohnes Lasse. In „Oblomowa“ schlägt sie einen völlig anderen, spitz-parodistischen Ton an, lässt mit der Figur der Oblomowa und deren Freunden eine Typologie der Gegenwart antanzen – obwohl die Oblomowa sich möglichst wenig bewegt, ist das Buch überaus quirlig. Das liegt am aktivistischen Furor ihrer Freunde: den Radikalinskis etwa, Miesowitsch, der überall Verschwörung und Diktatur wittert, und Svenjuschka, einer Ernährungsdiktatorin („du trinkst immer noch echte Milch?!!“), oder Irina, einer in jeder Hinsicht spitzmündigen Feministin. Wenn solche „Freunde“ aufeinandertreffen, wird ein irre komischer verbaler Schlagabtausch daraus.
Doof sind diese Wortgefechte nicht, es geht um große Themen, grotesk überdreht: das Verhältnis von Männern und Frauen, „Me Too“, Rassismus, Gender-sternchen, um Selbstdarstellungswahn und Social Media, moralisch vertretbare Ernährung, auch um den Comic und andere Künste. Dabei lässt die Oblomowa mit ihrer Trägheit aus diesen Debatten gern mal die Heißluft raus: Auf „Instisoup“ etwa, wo der Malerfreund seine Ausstellung „Make Art Sick again“ zeigt, ist sie schon lange nicht mehr: „War mir zu mühselig. Das ganze Gelike. Außerdem ... was sollte ich auch posten? Mich beim Liegen?“
„Oblomowa“ ist ein Kammerspiel, die Liegende das Zentrum einer Bühne, auf der enorm viel in Bewegung zu sein scheint. Wenn etwa Ilonotschka mit Irina über die sexistische Darstellung von Frauen im Comic spricht, spazieren die beiden an einer Hügellandschaft aus stramm nach oben ragenden Silikonbrüsten vorbei, um dann in eine Art Höhle zu geraten, wo boxsackähnliche Ausstülpungen von oben ins Bild hängen: „Wenn du mehr Realität willst“, hatte die Oblomowa zu Irina gesagt, „zeichne halt alte Säcke.“
Es sind die Worte, die in bissige Zeichnungen übersetzt werden, wirklich bewegt wird dabei nichts. Brenneisen zeigt den verbalen Aktivismus dieser Figuren, das Diskutieren über „Weit-weg-Probleme“ als das, was es ist: Gerede, um „social credit points“ zu kassieren, bei der die „schöne Fähigkeit zur Empathie irgendwann ausleiert ... wie ein Schlüpfergummi“. Auf der Straße rotten sich derweil die Identitären zusammen (irgendwer hat wohl mal aus dem Fenster gesehen, so erfahren wir das). Und da wäre auch noch der Brief, den die Oblomowa bekommen hat, in dem ihre Eltern drohen, ihr die Unterstützung zu entziehen. Es wäre ihr Ruin. Den Brief hat sie verlegt – aber ihn suchen, etwas gegen die drohende Katastrophe tun? Morgen ist auch noch ein Tag ... Was für ein treffendes Bild unserer Gegenwart.
MARTINA KNOBEN
Tina Brenneisen
(Text und Zeichnungen):
Oblomowa.
Parallelallee, Berlin 2024. 252 Seiten, 30 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Oblomow ist ein russicher Romanheld, den vor allem die "Liebe zur Passivität" auszeichnet, Tina Brenneisen macht in dieser Graphic Novel eine Frau der Berliner Gegenwart daraus, Ilonotschka Oblomowa, erzählt Kritikerin Martina Knoben. Mit ihrem männlichen Vorbild teilt die Protagonisten die Unbewegelichkeit, Liegen ist ihr "Normalzustand", schmunzelt die Rezensentin. Trotzdem gibt es viel Bewegung im Buch: die herrlich überspitzen Wortgefechte zwischen der Protagonistin und ihren Freunden streifen wichtige Themen wie Rassismus, Ernährung und Selbstdarstellungswahn und sind dabei urkomisch. Diese Gespräche mit Oblomowas skurrillen Freunden übersetzt die Autorin "in bissige Zeichnungen" werden, freut sich Knoben, die die Graphic Novel für eine akkurate Beschreibung des gegenwärtigen Zustands hält.
© Perlentaucher Medien GmbH
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