Ruth spielt Geige und hat Angst vor Vampiren. Sie wächst in einem Pfarrhaus in der ostdeutschen Pampa auf. Aber Gott ist kein Parteisekretär, um dessen Schutz man buhlen könnte. Ihr bester Freund Viktor hat einen Mondglobus und Falten im Gesicht. Er fürchtet sich nur vor seinem Scheißschwager. Aber dann findet er diesen Schalter in seinem Kopf, um rein gar nichts zu empfinden. Und wird selbst zum Fürchten. Was Gewalt bedeutet, wissen sie beide. Hier, wo der Braunkohleabbau ganze Dörfer und Wälder verschlingt, hilft man sich am besten selbst. Viktor macht jeden Tag Sit-ups und rasiert sich eine Glatze. Dass einer wie er als Au-Pair nach Frankreich geht, versteht niemand. Doch für Viktor ist es überall besser als zu Hause. Und Ruth? Die flüchtet sich ins Geigenspiel.Wohin es die beiden auch verschlägt, überall werden sie von Gewalt eingeholt. Wann also schaut Ruth von ihrer Geige auf? Und vor allem: Wie rettet man einander? »Monster wie wir« ist der erste Roman der gefeierten Dichterin und Klangkünstlerin Ulrike Almut Sandig. In funkelnder Prosa voll harter Beats schildert sie ihre Generation, geprägt von Um- und Aufbruch, von Identitätsverlust und der Suche nach Selbstbestimmung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.08.2020Missbrauch Es gibt Dinge, die lassen sich nur schwer erzählen. Nicht weil sie so abstrakt sind, sondern weil sie so konkret sind, dass sie sich jeglicher Poesie entziehen. Es sind Dinge, über die wenig gesprochen wird, die dadurch kaum eine Sprache finden. Vor allem keine literarische. Wie beispielsweise der Missbrauch von Kindern. Ulrike Almut Sandig erzählt davon in ihrem Debütroman "Monster wie wir" (Schöffling & Co., 240 Seiten, 22 Euro), von physischer, psychischer, von sexueller Gewalt an Ruth, ihrem Bruder Fly und ihrem besten Freund Viktor. Sie wachsen in der zusammenbrechenden DDR auf, im Nirgendwo; sie als Pfarrerstochter, Viktor als Kind ukrainischer Einwanderer. Die Kinder werden geschlagen und Ruth von ihrem Großvater, Viktor vom Mann seiner Halbschwester sexuell missbraucht. "Alles beginnt damit, eine Ohrfeige für das natürliche Ende eines Gesprächs zu halten." So verstummen die Kinder und versuchen fortan, ihre Sprache zu finden: Die Erwachsenen in Ruths Welt sind saugende Vampire, sie selbst ist eine Untote, die obsessiv Geige spielt und "mit offenen Augen schläft". Und Viktor ein Junge, der zum Yeti heranwächst, sich irgendwann den Kopf kahl rasiert und so zum realen Monster, einem "salaud de nazi" wird. Was wirklich beängstigt, sind dabei die Kinder als erwachsene Gestalten, wenn Viktor sein "faltiges Lachen" zeigt, "das allen anderen Vierjährigen Angst einflößt". Seine Hoffnung, als Au-pair in der Provence der Gewalt entfliehen zu können und eine ganz neue Sprache zu lernen, wird enttäuscht. Missbrauch findet sich überall. Viktor in diese schöne Landschaft zu versetzen ist brillant: Denn so entwachsen die kindlichen Horrormetaphern zu einer bildstarken Prosa, die sich aus der französischen Landschaft speist, um Gewalt zu erzählen - und die sich zuletzt in einer der stärksten Szenen am Ende des Romans ganz entfaltet. So findet zumindest der Roman eine Sprache für diese Gewalt. Auch wenn die schließlich Erwachsenen nie darüber sprechen werden.
caod
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensentin Katharina Granzin macht sich Gedanken über den "formverliebten" lyrischen Ton in Ulrike Almut Sandigs Debütroman. Die doppelte Missbrauchsgeschichte, die hier erzählt wird, bleibt für Grazin seltsam wolkig und oberflächlich, allerdings auch leserfreundlich und "nervenschonend". Ob die Autorin nun ein ernstes Thema verharmlost, indem sie auf eine direkte Schilderung wie auch auf die Psychologisierung der Figuren verzichtet, oder ob sie dem Leser damit einen Gefallen tut, vermag Granzin nicht zu entscheiden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.07.2020LITERATUR
Starkes Anliegen
Wenn die thematische Dringlichkeit die literarischen Mittel beeinträchtigt:
In Ulrike Almut Sandigs Roman geht es um Missbrauch und Neonazis
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Das Einleitungskapitel heißt „Mondster“. Das erinnert daran, dass Ulrike Almut Sandig, Jahrgang 1979, vorwiegend als Lyrikerin und Soundkünstlerin arbeitet, und könnte entsprechende Erwartungen an ihr Romandebüt wecken: Sprachschöpfungen, Wortspiele, doppelte Böden und Schräglagen, ein experimenteller Zugriff auf die Wirklichkeit, wie ihn die Autorin schon in Erzählungen erprobt hat. Aber diesmal verfährt sie anders. Sie löst den Romantitel „Monster wie wir“ ein, indem sie in einer klangbewussten und beschreibungsstarken, doch eher sachlichen Prosa zwei realistische Geschichten erzählt, die locker miteinander verknüpft sind und die beide von monströsen, das heißt: ungeheuerlichen Vorgängen handeln. Im Klappentext ist die Rede von Um- und Aufbrüchen, von Identitätssuche und von „Gewalt“ in einem nicht näher definierten Sinn. Tatsächlich tritt Gewalt hier in mehreren Varianten auf, aber im Zentrum steht der sexuelle Missbrauch an Kindern innerhalb der Familie. Das ist wichtig zu wissen, weil der Roman dadurch einen dringlichen Ernst erhält, der es in gewisser Weise erschwert, über seine literarische Qualität zu urteilen.
In der Einleitung, die nach Art einer musikalischen Exposition die Themen vorstellt, bleibt das noch verborgen. Da richtet die Erzählerin Ruth, eine erfolgreiche Pianistin, das Wort an einen Mann namens Voitto, den sie liebt und dessen Akzent (es ist der finnische) das Wort „Monster“ mondsüchtig klingen lässt. Eine problematische Beziehung wird angedeutet; es ist ferner die Rede von der „ostdeutschen Pampa“, Ruths Heimatregion, die durch den Braunkohleabbau in eine Kraterlandschaft verwandelt wurde, und von Viktor, dem Jugendfreund, der stets im Publikum sitzt, wenn Ruth in ostdeutschen Konzertsälen spielt, und mitten im Schlussapplaus aufsteht und geht. Eine flüchtige, offenkundig panikbesetzte Erinnerung an den Großvater könnte etwas verraten, aber noch wird die Aufmerksamkeit des Lesers zerstreut. Und wenn dann die erste Geschichte beginnt, in der die Autorin unübersehbar auch Autobiografisches gestaltet, sind es zunächst ganz andere Dinge, die berühren.
Etwa, gleich zu Anfang, dieses kleine Traumprotokoll: „Einmal schwamm ich im Uterus meiner Mutter. Er war eng und mit Wänden versehen, die meinem Aufprall federnd nachgaben, um mich gleich wieder zurückzuschieben ins Zwielicht ihres Körpers, das natürlich rötlich war, obwohl ich die einschlägigen Dokumentationen erst Jahrzehnte später sah. Von außerhalb der Bauchdecke hörte ich Geräusche, ein Öffnen und Schließen von Türen oder Eisenluken, ein Schaufeln und Schaben von Eisen auf Eisen, gedämpftes Knistern und Knacken, rhythmisches Donnern wie von Kohlen beim Aufprall und das Kratzen der Ofenzange, unterbrochen von ihrer Stimme, die jemandem etwas mitzuteilen schien.“
Eine Kindheit in einem sächsischen Pfarrhaushalt der späten DDR, grundiert von einer latenten Bedrohung, die wiederum wenig mit politischen Verhältnissen zu tun hat: Im christlichen, gebildeten Elternhaus herrscht kein Frieden, von den Nachbarn hört man Gebrüll, die Mutter zeigt ein Fotoalbum aus ihrer Schulzeit, in dem viele Kinder mit Prügelspuren zu sehen sind. Das Schlimmste aber sind die Geheimnisse, die Viktor, Ruths Klassenkamerad und bester Freund, ihr wie beiläufig mitteilt, ohne dass sie deren Tragweite versteht.
Viktor, Sohn eines NVA-Offiziers und einer Ukrainerin, wird vom Mann seiner Halbschwester missbraucht. Und er kann sich keinem Erwachsenen anvertrauen, genausowenig wie die musikbegabte, von Eltern und Bruder geliebte Ruth irgend jemandem zu erzählen wagt, was ihr Großvater mit ihr macht und warum sie Angst vor Vampiren hat. Wie bei den großen kirchen- und schulinternen Missbrauchsskandalen, die in den letzten Jahren aufgedeckt wurden, bestürzt auch hier der Mechanismus von Schweigen und Verdrängung, die Nicht-Kommunikation zwischen Eltern und Kindern, die jedem, der zum Glück nichts Derartiges erfahren hat, schier unbegreiflich erscheinen muss – woran Ulrike Almut Sandigs einfühlsame Darstellung nichts ändert.
Auch nicht in der zweiten Geschichte, die mit Viktors Werdegang die Spirale noch einmal bis zur Schmerzgrenze weiterdreht. Der junge Deutsch-Ukrainer, inzwischen von hünenhafter Statur, gerät in die Neonazi-Szene, bevor er zur allgemeinen Verwunderung beschließt, als Au-pair nach Südfrankreich zu gehen.
Dort läuft die Erzählung zu einer Anschaulichkeit auf, die kurzzeitig von ihrem Anliegen ablenkt: Die Oberschicht-Familie in einer Vorstadt von Marseille, französischer Lebensstil und Viktors Fremdheit sind fein charakterisiert; man fühlt sich stellenweise gar an Tatis „Mon oncle“ erinnert, obwohl es in diesem Kontext wahrlich nichts zu lachen gibt. Denn hier ist es Monsieur, der seinen zehnjährigen Stiefsohn missbraucht, offenbar mit Duldung von Madame. Der entsetzte Viktor, von seinen Arbeitgebern spaßeshalber „Victoire“ genannt, findet Unterstützung bei einer jungen ukrainischen Kollegin und einem amerikanischen Veteranen aus der Nachbarschaft und kann seiner angestauten Wut endlich Luft machen. Aber es besteht kein Zweifel daran, dass nach der Flucht des nun als Gewalttäter abgestempelten Au-pair-Mannes alles unter den Teppich gekehrt wird – oder vielmehr im praktischen Zentralstaubsauger der Komfortvilla verschwindet.
Selbst bei einem so dramatischen Thema kann es ein „Zuviel“ geben, das den Stoff aus der Form geraten lässt. Im zweiten Teil von „Monster wie wir“ betrifft das vor allem die eingestreuten Kommentare der kleinen Schwester des Missbrauchsopfers, die nicht nur überflüssig, sondern in ihrer Altklugheit völlig unglaubwürdig wirken. Wie zum Ausgleich übt sich die Erzählerin im dritten, kürzesten Romanteil in der Kunst der Knappheit. Auf wenigen Seiten erfahren wir: Ruths Beziehung zu dem finnischen Bariton Voitto hat – was zu erwarten war – eine gewalttätige Seite. Ihr Bruder ist unter die Waldbesetzer gegangen, die gegen den Braunkohleabbau rebellieren. Und Viktor ist der einzige Mensch ihn ihrem Leben, den sie „voll und ganz“ versteht.
Als Leser hat man die Beweggründe für das Buch längst verstanden: „Wenn man nicht davon erzählt, ist es nicht geschehen“, heißt es einmal. Und doch bleibt die Frage offen, ob die Konzentration auf ein Sujet wie dieses nicht auch den Blick verengen und damit die literarischen Möglichkeiten beschneiden kann. Denn das ist, bei allem Respekt vor Ulrike Almut Sandigs Courage und Feingefühl, der Eindruck, den ihr Roman zurücklässt.
Ulrike Almut Sandig: Monster wie wir. Roman. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2020. 236 Seiten, 22 Euro.
Im Elternhaus herrscht kein
Frieden, von den Nachbarn
hört man Gebrüll
„Wenn man nicht
davon erzählt,
ist es nicht geschehen.“
Die Heimatregion der Erzählerin Ruth wurde durch Braunkohleabbau in eine Kraterlandschaft verwandelt.
Foto: dpa
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Starkes Anliegen
Wenn die thematische Dringlichkeit die literarischen Mittel beeinträchtigt:
In Ulrike Almut Sandigs Roman geht es um Missbrauch und Neonazis
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Das Einleitungskapitel heißt „Mondster“. Das erinnert daran, dass Ulrike Almut Sandig, Jahrgang 1979, vorwiegend als Lyrikerin und Soundkünstlerin arbeitet, und könnte entsprechende Erwartungen an ihr Romandebüt wecken: Sprachschöpfungen, Wortspiele, doppelte Böden und Schräglagen, ein experimenteller Zugriff auf die Wirklichkeit, wie ihn die Autorin schon in Erzählungen erprobt hat. Aber diesmal verfährt sie anders. Sie löst den Romantitel „Monster wie wir“ ein, indem sie in einer klangbewussten und beschreibungsstarken, doch eher sachlichen Prosa zwei realistische Geschichten erzählt, die locker miteinander verknüpft sind und die beide von monströsen, das heißt: ungeheuerlichen Vorgängen handeln. Im Klappentext ist die Rede von Um- und Aufbrüchen, von Identitätssuche und von „Gewalt“ in einem nicht näher definierten Sinn. Tatsächlich tritt Gewalt hier in mehreren Varianten auf, aber im Zentrum steht der sexuelle Missbrauch an Kindern innerhalb der Familie. Das ist wichtig zu wissen, weil der Roman dadurch einen dringlichen Ernst erhält, der es in gewisser Weise erschwert, über seine literarische Qualität zu urteilen.
In der Einleitung, die nach Art einer musikalischen Exposition die Themen vorstellt, bleibt das noch verborgen. Da richtet die Erzählerin Ruth, eine erfolgreiche Pianistin, das Wort an einen Mann namens Voitto, den sie liebt und dessen Akzent (es ist der finnische) das Wort „Monster“ mondsüchtig klingen lässt. Eine problematische Beziehung wird angedeutet; es ist ferner die Rede von der „ostdeutschen Pampa“, Ruths Heimatregion, die durch den Braunkohleabbau in eine Kraterlandschaft verwandelt wurde, und von Viktor, dem Jugendfreund, der stets im Publikum sitzt, wenn Ruth in ostdeutschen Konzertsälen spielt, und mitten im Schlussapplaus aufsteht und geht. Eine flüchtige, offenkundig panikbesetzte Erinnerung an den Großvater könnte etwas verraten, aber noch wird die Aufmerksamkeit des Lesers zerstreut. Und wenn dann die erste Geschichte beginnt, in der die Autorin unübersehbar auch Autobiografisches gestaltet, sind es zunächst ganz andere Dinge, die berühren.
Etwa, gleich zu Anfang, dieses kleine Traumprotokoll: „Einmal schwamm ich im Uterus meiner Mutter. Er war eng und mit Wänden versehen, die meinem Aufprall federnd nachgaben, um mich gleich wieder zurückzuschieben ins Zwielicht ihres Körpers, das natürlich rötlich war, obwohl ich die einschlägigen Dokumentationen erst Jahrzehnte später sah. Von außerhalb der Bauchdecke hörte ich Geräusche, ein Öffnen und Schließen von Türen oder Eisenluken, ein Schaufeln und Schaben von Eisen auf Eisen, gedämpftes Knistern und Knacken, rhythmisches Donnern wie von Kohlen beim Aufprall und das Kratzen der Ofenzange, unterbrochen von ihrer Stimme, die jemandem etwas mitzuteilen schien.“
Eine Kindheit in einem sächsischen Pfarrhaushalt der späten DDR, grundiert von einer latenten Bedrohung, die wiederum wenig mit politischen Verhältnissen zu tun hat: Im christlichen, gebildeten Elternhaus herrscht kein Frieden, von den Nachbarn hört man Gebrüll, die Mutter zeigt ein Fotoalbum aus ihrer Schulzeit, in dem viele Kinder mit Prügelspuren zu sehen sind. Das Schlimmste aber sind die Geheimnisse, die Viktor, Ruths Klassenkamerad und bester Freund, ihr wie beiläufig mitteilt, ohne dass sie deren Tragweite versteht.
Viktor, Sohn eines NVA-Offiziers und einer Ukrainerin, wird vom Mann seiner Halbschwester missbraucht. Und er kann sich keinem Erwachsenen anvertrauen, genausowenig wie die musikbegabte, von Eltern und Bruder geliebte Ruth irgend jemandem zu erzählen wagt, was ihr Großvater mit ihr macht und warum sie Angst vor Vampiren hat. Wie bei den großen kirchen- und schulinternen Missbrauchsskandalen, die in den letzten Jahren aufgedeckt wurden, bestürzt auch hier der Mechanismus von Schweigen und Verdrängung, die Nicht-Kommunikation zwischen Eltern und Kindern, die jedem, der zum Glück nichts Derartiges erfahren hat, schier unbegreiflich erscheinen muss – woran Ulrike Almut Sandigs einfühlsame Darstellung nichts ändert.
Auch nicht in der zweiten Geschichte, die mit Viktors Werdegang die Spirale noch einmal bis zur Schmerzgrenze weiterdreht. Der junge Deutsch-Ukrainer, inzwischen von hünenhafter Statur, gerät in die Neonazi-Szene, bevor er zur allgemeinen Verwunderung beschließt, als Au-pair nach Südfrankreich zu gehen.
Dort läuft die Erzählung zu einer Anschaulichkeit auf, die kurzzeitig von ihrem Anliegen ablenkt: Die Oberschicht-Familie in einer Vorstadt von Marseille, französischer Lebensstil und Viktors Fremdheit sind fein charakterisiert; man fühlt sich stellenweise gar an Tatis „Mon oncle“ erinnert, obwohl es in diesem Kontext wahrlich nichts zu lachen gibt. Denn hier ist es Monsieur, der seinen zehnjährigen Stiefsohn missbraucht, offenbar mit Duldung von Madame. Der entsetzte Viktor, von seinen Arbeitgebern spaßeshalber „Victoire“ genannt, findet Unterstützung bei einer jungen ukrainischen Kollegin und einem amerikanischen Veteranen aus der Nachbarschaft und kann seiner angestauten Wut endlich Luft machen. Aber es besteht kein Zweifel daran, dass nach der Flucht des nun als Gewalttäter abgestempelten Au-pair-Mannes alles unter den Teppich gekehrt wird – oder vielmehr im praktischen Zentralstaubsauger der Komfortvilla verschwindet.
Selbst bei einem so dramatischen Thema kann es ein „Zuviel“ geben, das den Stoff aus der Form geraten lässt. Im zweiten Teil von „Monster wie wir“ betrifft das vor allem die eingestreuten Kommentare der kleinen Schwester des Missbrauchsopfers, die nicht nur überflüssig, sondern in ihrer Altklugheit völlig unglaubwürdig wirken. Wie zum Ausgleich übt sich die Erzählerin im dritten, kürzesten Romanteil in der Kunst der Knappheit. Auf wenigen Seiten erfahren wir: Ruths Beziehung zu dem finnischen Bariton Voitto hat – was zu erwarten war – eine gewalttätige Seite. Ihr Bruder ist unter die Waldbesetzer gegangen, die gegen den Braunkohleabbau rebellieren. Und Viktor ist der einzige Mensch ihn ihrem Leben, den sie „voll und ganz“ versteht.
Als Leser hat man die Beweggründe für das Buch längst verstanden: „Wenn man nicht davon erzählt, ist es nicht geschehen“, heißt es einmal. Und doch bleibt die Frage offen, ob die Konzentration auf ein Sujet wie dieses nicht auch den Blick verengen und damit die literarischen Möglichkeiten beschneiden kann. Denn das ist, bei allem Respekt vor Ulrike Almut Sandigs Courage und Feingefühl, der Eindruck, den ihr Roman zurücklässt.
Ulrike Almut Sandig: Monster wie wir. Roman. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2020. 236 Seiten, 22 Euro.
Im Elternhaus herrscht kein
Frieden, von den Nachbarn
hört man Gebrüll
„Wenn man nicht
davon erzählt,
ist es nicht geschehen.“
Die Heimatregion der Erzählerin Ruth wurde durch Braunkohleabbau in eine Kraterlandschaft verwandelt.
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»Ulrike Almut Sandig wahrt mit ihrem Roman 'Monster wie wir' subtil die Balance zwischen Poesie und Horror.«Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung»Die Dichterin hat viel zu erzählen, und sie kann es auch - wie ihr fulminantes Romandebüt zeigt.«Carsten Otte, taz.de»'Monster wie wir' ist ein sprachgewaltiger Roman, der auf sensible wie eindrucksvolle Weise von Gewalt erzählt - und davon, wie sie nachwirkt.«Timo Dallmann, MDR Kultur»Ein höchst lesenswerter Roman.«Christoph Leibold, KulturWelt auf BR2»Ihre Texte nehmen ihre Leser mit auf rasante Reisen durch Zeit und Raum, Realität und Traum in Gefilde, die auf keiner gültigen Landkarte verzeichnet sind.«Heike Bartel, Faust-Kultur»Können Lyriker Prosa schreiben? Nein, sagt das Vorurteil. Ja, beweist Ulrike Almut Sandig.«DER SPIEGEL»Einer der bisher interessantesten Romane dieses Bücherherbstes«Jan Drees, DLF Büchermarkt»'Monster wie wir' ist ein Roman, der lange nachhallt. Die Sprache entwickelt oft Poesie, ohne künstlich zu sein.«Nadine Kreuzahler, rbb Inforadio»Für dieses sensible Thema hat Sandig eine erstaunlich dezente, empathische Sprache mit wirkmächtigen Bildern gefunden.«SWR Bestenliste, September 2020»Ein erstaunlicher Debütroman« Rainer Moritz, NDR Gemischtes Doppelt