Eine junge Frau lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in einem Haus in Mexiko City und schreibt an einem Roman. Sie verlässt das Haus nicht, sie kann es aber auch nicht richtig bewohnen. So beginnt sie zu erzählen. Von ihrem Mann, von ihren Kindern, von ihrer Vergangenheit. Wie sie als junge Lektorin in New York verzweifelt versucht hat, den Verleger davon zu überzeugen, das Werk von Gilberto Owen zu publizieren, diesem obskuren mexikanischen Dichter, der in den 20er-Jahren in Harlem lebte und mit Federico Garcia Lorca befreundet war. Seine geisterhafte Gegenwart hat sie verfolgt und verfolgt sie immer noch Sie erzählt und schreibt, und dabei gerät ihr Leben aus der Bahn, und in ihr Schreiben wächst eine andere Erzählstimme, die von Owen. Nun ist er es, der sein Leben Revue passieren lässt, komisch und melancholisch, auch er wird verfolgt von einer geisterhaften Erscheinung, einer jungen Frau. Das eine Leben erscheint im anderen wie in einem Zerrspiegel, und doch ist es ein Fluss, eine Stimme, die von Liebe und Verlust erzählt und erkundet, wer wir sind. Sprachmächtig und von einer schwebenden Leichtigkeit ist dieses Debüt, klug, witzig und voller literarischer Anspielungen. Wer den Sound von Valeria Luiselli einmal im Ohr hat, wird schwer davon loskommen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wie auf Wolken fühlt sich Florian Borchmeyer mit diesem Debütroman von Valeria Luiselli. Schwerelos erscheint dem Rezensenten Luisellis Geschichte gegen das literarische Vergessen, die den fast vergessenen mexikanischen Dichter Gilberto Owen wieder zum Leben erweckt und diese innerliterarische Fiktion nach Art Bolaños, wie Borchmeyer erklärt, ziemlich weit treibt. So weit, dass der Rezensent, aber auch die ihre Bohème-Zeit in New York rekapitulierende Erzählerin am Ende nicht mehr wissen, wer hier eigentlich erzählt und wer fiktiv ist und wer nicht. Die in dem laut Borchmeyer eher schweigsamen Roman angelegte Reflexion des Schreibens a la Pitol erreicht den Leser zum Glück ohne die übliche postmoderne arrogante Autorenreflexivität und, so Borchmeyer sichtlich erleichtert, eher getragen von der Idee, sich einer Andersheit zu öffnen, die schwerelos macht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.06.2013Der geplünderte und verwüstete Horizont
Ein Roman wie eine Wolke: Valeria Luiselli gelingt mit ihrem Debüt eine literarische Großtat. Sie schreibt mit "Die Schwerelosen" gegen das literarische Vergessen an.
Selbst im Club der vergessenen Dichter scheint ihm die Mitgliedschaft versagt: Gilberto Owen - in den Literaturkreisen Mexikos nie wirklich wahrgenommen, da im Ausland lebend; in den Vereinigten Staaten, wo er als mexikanischer Konsularangestellter schrieb, nie publiziert, da aus dem Ausland stammend; aufgrund seines frühen Alkoholtods zu Lebzeiten nie entdeckt. Als trunkener Schreibstubenavantgardist also eine Art Pessoa der Neuen Welt. Nur dass er, anders als sein Zeitgenosse, auch nach dem Tod nie zu Ruhm kam. Auf Deutsch existiert noch nicht einmal eine Website, die über Owen Auskunft erteilte - geschweige denn eine Übersetzung seines Werks.
Dennoch wird er in Valeria Luisellis Roman "Die Schwerelosen" in der New Yorker Verlagsbranche, die nach dem postumen Erfolg Roberto Bolaños auf der Jagd nach neuen toten Dichtern für einen "neuen Lateinamerika-Boom" ist, plötzlich als "neuer Bolaño", ja sogar als "neuer, haltbarerer Neruda" gehandelt. Dabei schleicht sich beim Leser der Verdacht ein, Gilberto Owen selbst sei eine bolañeske Fiktion der Autorin nach dem Vorbild von "Die wilden Detektive".
Doch wenn Valeria Luisellis Debüt trotz seines schmalen Formats als literarische Großtat einzustufen ist, dann allein schon dank der Tatsache, dass es ihr gelang, das Werk eines realen und wirklich bedeutenden Dichters wiederzuentdecken, der sich dem Blick der modernen Menschen immer wieder entzog: jener Wesen, die die Welt zum Objekt ihrer Instrumente machen und, wie es in seinem Gedicht "Schnappschuss" heißt, beim enttäuschten Anblick des von Kulissenschiebern herabgelassenen Sonnenuntergangs "die Landschaft in ihren Kodak-Hülsen verstecken". Dagegen setzt Owen die Sensibilität seiner Dichtung (aus der Valeria Luiselli, anders als aus Owens Briefen, bemerkenswerterweise nicht zitiert): "Und der Horizont, verwüstet / von der Raffgier der Touristen, / zieht in mein Herz als Emigrant."
Von Emigration handelt auch der Roman. Die Erzählerin blickt auf ihr früheres Leben in New York zurück. Frei und ungebunden, aber letztlich auch orientierungslos und einsam führt sie dort eine Boheme-Existenz mit wechselnden Liebhabern und Freunden. Daneben arbeitet sie für den Kleinverleger White, der ihr trotz ihres Hangs zur Klepto- und Mythomanie ein Auskommen sichert. Bis sie eines Tages zu weit geht: Um einen Owen-Boom künstlich zu befeuern, fälscht sie ein Manuskript ihrer eigenen englischen Übersetzungen des Dichters und gibt sie als Werk des berühmten Joshua Zvorsky aus (der ironischerweise gar nicht berühmt ist, da in diesem Fall wirklich bolañeske Erfindung der Autorin).
Doch ihre Fabulation entspringt mehr einer Obsession als einem betrügerischen Instinkt. Als marginalisierte Fremde findet die Erzählerin in ihrem Landsmann den Widerhall ihrer selbst. Seine Streifzüge durch das New York der goldenen zwanziger Jahre in Begleitung seines Freundes Federico García Lorca spiegeln ihre eigenen in der Gegenwart wider. Beide halluzinieren, begegnen in Bars und U-Bahn-Stationen den Geistern von Dichtern wie Ezra Pound. Owens Demütigungen als gescheiterter Trinker und Vater zweier großbürgerlicher Scheidungskinder scheinen ihre Existenzängste zu kondensieren. Beide haben ein Gravitationszentrum verloren. Sie sind gravitationslos: "Los ingrávidos" lautet der spanische Originaltitel.
"Roman wie eine Wolke" heißt bezeichnenderweise eines von Owens Hauptwerken. Dieser Wolkenhaftigkeit widerspricht auf den ersten Blick die Erzählsituation von Valeria Luisellis Roman. Ihre Rückblicke schreibt die Erzählerin aus der Perspektive einer Mutter von zwei Kindern in Mexiko, die sich zum Verfassen ihres Romans in ihr Haus eingeschlossen hat, während ihr Mann, Autor von Drehbüchern und Werbefilmen fürs Fernsehen, außer Haus seiner Arbeit nachgeht. Ihre frühere Bindungslosigkeit ist einer extremen Gebundenheit gewichen, die sich über das Leben hinaus in ihrer Literatur niederschlägt. Etwa in der Wortkargheit des Stils: "Ein schweigsamer Roman, um die Kinder nicht zu wecken". Das Gewicht der Familie lastet auf jeder Seite, bringt das Buch fast zum Ersticken: "Romane haben einen langen Atem. Ich habe ein Baby und ein mittleres Kind. Die lassen mir keine Luft. Alles, was ich schreibe ist kurzatmig." So erklärt sie die zuweilen nur wenige Zeilen langen Kapitel und die scheinbar unordentliche Strukturlosigkeit des Buchs als Ganzem.
Abends liest der Mann heimlich die Manuskripte und rückt Fakten, die sich über die Wirklichkeit erheben, wieder an ihren Ort. Denn der Roman beschreibt ihr eigenes Leben und folgt dabei auch dessen Kontroll- und Schwerezentren. Gäbe es da nicht ein anarchisches Element: Gilberto Owen. Der nämlich gebärdet sich mit steigender Identifikation der Erzählerin zusehends als Usurpator. Von der dritten Person springt er in die erste, schwingt sich selbst zur Erzählerinstanz auf, berichtet seine eigene Geschichte, vertreibt schließlich die Erzählerin fast aus ihrem eigenen Buch. Sie taucht nur noch als Randfigur auf. Ja, sie erweist sich am Ende selbst als bloße Fiktion eines möglichen Romans von Gilberto Owen, als dessen Instrument sie die ganze Zeit diente.
Dennoch wird dabei nicht einfach ein Autoren- und Machtverhältnis durch ein anderes ersetzt. Die offenkundig an Valeria Luisellis erklärtem Meister Sergio Pitol geschulte Reflexion des Schreibprozesses ist gänzlich frei von der arroganten Autoreferentialität des postmodernen Autors, der in Imitation des barocken Künstlers als Herr über den von ihm geschaffenen Kosmos "souverän mit Mustern schalten konnte", um es mit Benjamins Worten zu benennen. Die vermeintliche Kaperung des Romans ist in Wirklichkeit ein freiwilliges Kommenlassen.
Eine radikale Öffnung für eine Andersheit, die die Identität des Buchs und des eigenen Selbst willentlich ins Ungewisse verschiebt, in eine Schwerelosigkeit, die hier nun wieder kein Gravitationszentrum mehr kennt. Es ist die quasimystische Erfahrung von Ezra Pound (immerhin Owens Verfolger-Gespenst), der in "Histrion" beschreibt, "wie die Seelen aller Großen / Zuweilen durch uns ziehen" und wir "nichts sind als ihrer Seelen Widerschein".
Wer Erzählter ist und wer Erzähler, wer Erfundener und wer Erlebter, was Realität und was Fiktion, ist in Valeria Luisellis Roman Die Schwerelosen" nicht mehr wahrnehmbar. Um es mit Gilberto Owens zu sagen: "Was in der Ferne vorbeizog, waren / unsere Schatten in anderen Welten."
FLORIAN BORCHMEYER
Valeria Luiselli: "Die Schwerelosen". Roman.
Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Verlag Antje Kunstmann, München 2013. 190 S., geb., 16,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Roman wie eine Wolke: Valeria Luiselli gelingt mit ihrem Debüt eine literarische Großtat. Sie schreibt mit "Die Schwerelosen" gegen das literarische Vergessen an.
Selbst im Club der vergessenen Dichter scheint ihm die Mitgliedschaft versagt: Gilberto Owen - in den Literaturkreisen Mexikos nie wirklich wahrgenommen, da im Ausland lebend; in den Vereinigten Staaten, wo er als mexikanischer Konsularangestellter schrieb, nie publiziert, da aus dem Ausland stammend; aufgrund seines frühen Alkoholtods zu Lebzeiten nie entdeckt. Als trunkener Schreibstubenavantgardist also eine Art Pessoa der Neuen Welt. Nur dass er, anders als sein Zeitgenosse, auch nach dem Tod nie zu Ruhm kam. Auf Deutsch existiert noch nicht einmal eine Website, die über Owen Auskunft erteilte - geschweige denn eine Übersetzung seines Werks.
Dennoch wird er in Valeria Luisellis Roman "Die Schwerelosen" in der New Yorker Verlagsbranche, die nach dem postumen Erfolg Roberto Bolaños auf der Jagd nach neuen toten Dichtern für einen "neuen Lateinamerika-Boom" ist, plötzlich als "neuer Bolaño", ja sogar als "neuer, haltbarerer Neruda" gehandelt. Dabei schleicht sich beim Leser der Verdacht ein, Gilberto Owen selbst sei eine bolañeske Fiktion der Autorin nach dem Vorbild von "Die wilden Detektive".
Doch wenn Valeria Luisellis Debüt trotz seines schmalen Formats als literarische Großtat einzustufen ist, dann allein schon dank der Tatsache, dass es ihr gelang, das Werk eines realen und wirklich bedeutenden Dichters wiederzuentdecken, der sich dem Blick der modernen Menschen immer wieder entzog: jener Wesen, die die Welt zum Objekt ihrer Instrumente machen und, wie es in seinem Gedicht "Schnappschuss" heißt, beim enttäuschten Anblick des von Kulissenschiebern herabgelassenen Sonnenuntergangs "die Landschaft in ihren Kodak-Hülsen verstecken". Dagegen setzt Owen die Sensibilität seiner Dichtung (aus der Valeria Luiselli, anders als aus Owens Briefen, bemerkenswerterweise nicht zitiert): "Und der Horizont, verwüstet / von der Raffgier der Touristen, / zieht in mein Herz als Emigrant."
Von Emigration handelt auch der Roman. Die Erzählerin blickt auf ihr früheres Leben in New York zurück. Frei und ungebunden, aber letztlich auch orientierungslos und einsam führt sie dort eine Boheme-Existenz mit wechselnden Liebhabern und Freunden. Daneben arbeitet sie für den Kleinverleger White, der ihr trotz ihres Hangs zur Klepto- und Mythomanie ein Auskommen sichert. Bis sie eines Tages zu weit geht: Um einen Owen-Boom künstlich zu befeuern, fälscht sie ein Manuskript ihrer eigenen englischen Übersetzungen des Dichters und gibt sie als Werk des berühmten Joshua Zvorsky aus (der ironischerweise gar nicht berühmt ist, da in diesem Fall wirklich bolañeske Erfindung der Autorin).
Doch ihre Fabulation entspringt mehr einer Obsession als einem betrügerischen Instinkt. Als marginalisierte Fremde findet die Erzählerin in ihrem Landsmann den Widerhall ihrer selbst. Seine Streifzüge durch das New York der goldenen zwanziger Jahre in Begleitung seines Freundes Federico García Lorca spiegeln ihre eigenen in der Gegenwart wider. Beide halluzinieren, begegnen in Bars und U-Bahn-Stationen den Geistern von Dichtern wie Ezra Pound. Owens Demütigungen als gescheiterter Trinker und Vater zweier großbürgerlicher Scheidungskinder scheinen ihre Existenzängste zu kondensieren. Beide haben ein Gravitationszentrum verloren. Sie sind gravitationslos: "Los ingrávidos" lautet der spanische Originaltitel.
"Roman wie eine Wolke" heißt bezeichnenderweise eines von Owens Hauptwerken. Dieser Wolkenhaftigkeit widerspricht auf den ersten Blick die Erzählsituation von Valeria Luisellis Roman. Ihre Rückblicke schreibt die Erzählerin aus der Perspektive einer Mutter von zwei Kindern in Mexiko, die sich zum Verfassen ihres Romans in ihr Haus eingeschlossen hat, während ihr Mann, Autor von Drehbüchern und Werbefilmen fürs Fernsehen, außer Haus seiner Arbeit nachgeht. Ihre frühere Bindungslosigkeit ist einer extremen Gebundenheit gewichen, die sich über das Leben hinaus in ihrer Literatur niederschlägt. Etwa in der Wortkargheit des Stils: "Ein schweigsamer Roman, um die Kinder nicht zu wecken". Das Gewicht der Familie lastet auf jeder Seite, bringt das Buch fast zum Ersticken: "Romane haben einen langen Atem. Ich habe ein Baby und ein mittleres Kind. Die lassen mir keine Luft. Alles, was ich schreibe ist kurzatmig." So erklärt sie die zuweilen nur wenige Zeilen langen Kapitel und die scheinbar unordentliche Strukturlosigkeit des Buchs als Ganzem.
Abends liest der Mann heimlich die Manuskripte und rückt Fakten, die sich über die Wirklichkeit erheben, wieder an ihren Ort. Denn der Roman beschreibt ihr eigenes Leben und folgt dabei auch dessen Kontroll- und Schwerezentren. Gäbe es da nicht ein anarchisches Element: Gilberto Owen. Der nämlich gebärdet sich mit steigender Identifikation der Erzählerin zusehends als Usurpator. Von der dritten Person springt er in die erste, schwingt sich selbst zur Erzählerinstanz auf, berichtet seine eigene Geschichte, vertreibt schließlich die Erzählerin fast aus ihrem eigenen Buch. Sie taucht nur noch als Randfigur auf. Ja, sie erweist sich am Ende selbst als bloße Fiktion eines möglichen Romans von Gilberto Owen, als dessen Instrument sie die ganze Zeit diente.
Dennoch wird dabei nicht einfach ein Autoren- und Machtverhältnis durch ein anderes ersetzt. Die offenkundig an Valeria Luisellis erklärtem Meister Sergio Pitol geschulte Reflexion des Schreibprozesses ist gänzlich frei von der arroganten Autoreferentialität des postmodernen Autors, der in Imitation des barocken Künstlers als Herr über den von ihm geschaffenen Kosmos "souverän mit Mustern schalten konnte", um es mit Benjamins Worten zu benennen. Die vermeintliche Kaperung des Romans ist in Wirklichkeit ein freiwilliges Kommenlassen.
Eine radikale Öffnung für eine Andersheit, die die Identität des Buchs und des eigenen Selbst willentlich ins Ungewisse verschiebt, in eine Schwerelosigkeit, die hier nun wieder kein Gravitationszentrum mehr kennt. Es ist die quasimystische Erfahrung von Ezra Pound (immerhin Owens Verfolger-Gespenst), der in "Histrion" beschreibt, "wie die Seelen aller Großen / Zuweilen durch uns ziehen" und wir "nichts sind als ihrer Seelen Widerschein".
Wer Erzählter ist und wer Erzähler, wer Erfundener und wer Erlebter, was Realität und was Fiktion, ist in Valeria Luisellis Roman Die Schwerelosen" nicht mehr wahrnehmbar. Um es mit Gilberto Owens zu sagen: "Was in der Ferne vorbeizog, waren / unsere Schatten in anderen Welten."
FLORIAN BORCHMEYER
Valeria Luiselli: "Die Schwerelosen". Roman.
Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Verlag Antje Kunstmann, München 2013. 190 S., geb., 16,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main