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Ende der Zwanzigerjahre entstanden in Moskau 500 komfortable Wohnungen für die Elite der Sowjetunion, das Imperium wohnte unter einem Dach, dem "Haus der Regierung". Nirgendwo sonst verdichtet sich die Geschichte der UdSSR so intensiv: von den ersten Bolschewiki und ihrem geradezu religiösen Eifer über den Terror Stalins bis zum heutigen Russland. Juri Slezkine, großer Erzähler und Historiker, verknüpft die Geschichte des Hauses mit den Biografien seiner Bewohner zu einem Epos des 20. Jahrhunderts. Denn die Wucht der russischen Revolution lässt sich erst begreifen, wenn man den Bogen von den…mehr

Produktbeschreibung
Ende der Zwanzigerjahre entstanden in Moskau 500 komfortable Wohnungen für die Elite der Sowjetunion, das Imperium wohnte unter einem Dach, dem "Haus der Regierung". Nirgendwo sonst verdichtet sich die Geschichte der UdSSR so intensiv: von den ersten Bolschewiki und ihrem geradezu religiösen Eifer über den Terror Stalins bis zum heutigen Russland. Juri Slezkine, großer Erzähler und Historiker, verknüpft die Geschichte des Hauses mit den Biografien seiner Bewohner zu einem Epos des 20. Jahrhunderts. Denn die Wucht der russischen Revolution lässt sich erst begreifen, wenn man den Bogen von den politischen Kämpfen bis zu den privaten Schicksalen schlägt. Dieses Opus Magnum wird international als Meisterwerk gefeiert.
Autorenporträt
Yuri Slezkine, Jahrgang 1956, schloss sein Studium an der Philologischen Fakultät der Universität Moskau ab. 1982 emigrierte er aus der UdSSR nach Portugal, ein Jahr später in die USA, wo er an der University of Texas seinen Ph.D. erwarb. Er lehrt als Professor Geschichte an der Universität Berkeley. Bei Hanser erschien: Das Haus der Regierung. Eine Saga der russischen Revolution (2018)
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2018

Geschichte ist keine Glaubensfrage

Gelebte Kämpfe, bewaffnete Debatte: Yuri Slezkine macht der russischen Revolution in einem Riesenwerk den Prozess.

Von Dietmar Dath

Ein Sachbuchabsatz kann zehn Romane wert sein. Über eine große Liebe des kommunistischen Dichters Wladimir Majakowski steht in Yuri Slezkines "Das Haus der Regierung": "Majakowski, selbst ein Rächer und Erlöser, hatte erstmals von der letzten Schlacht gesprochen, nachdem seine Gioconda sich ihm entzogen hatte. Sie suchte sich ihre eigenen Schlachten. Nachdem Majakowski Odessa 1914 verlassen hatte, heiratete Maria Denissowa einen Ingenieur, folgte ihm in die Schweiz, brachte eine Tochter zur Welt, studierte Bildhauerei in Lausanne und Genf, trennte sich von ihrem Mann, ging im Bürgerkrieg an die Front, diente als Leiterin der Abteilung für Kunstagitation bei der Ersten und Zweiten Roten Reiterarmee und zog mit dem bekannten Kommissar Jefim Schtschadschenko zusammen. 1924 schrieb sie sich mit dreißig Jahren an den Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätten in Moskau ein. Als Abschlussprojekt reichte sie eine Marmorskulptur ein: Lenins Kopf, der in seinem offenen Sarg ruhte."

Nicht jede der rund tausenddreihundert Seiten in diesem Buch ist so dicht, aber genug davon sind es, dass man Fleiß, Erzählschwung und ethischen Ernst dieses Buches kaum fassen kann. Gelebte Geschichte, bewaffnete Debatte: "Das Haus der Regierung" ist ein antikommunistisches Standardwerk, in dem Kommunistinnen und Kommunisten so eifrig lesen werden wie die skeptische Intelligenz des Mittelalters in den Polemiken der Kirchenväter wider die heidnischen Philosophen, über die man lange nur aus diesen Quellen genug erfahren konnte, um ihnen informiert (statt nur ketzerbockig) zustimmen zu können.

Slezkine, ein drei Jahre nach Stalins Tod geborener, 1982 aus der Sowjetunion emigrierter, heute in den Vereinigten Staaten lebender Historiker, berichtet von Menschen, die in den etwa fünfhundert Wohnungen eines Gebäudes lebten, das die Sowjetregierung Ende der zwanzige Jahre des letzten Jahrhunderts für ihre Funktionselite hatte errichten lassen.

Das Buch soll eine Geschichte der russischen Revolution sein, die es klugerweise nicht auf ein paar Ereignisse im Jahr 1917 einengt (wann sie eigentlich am Ende war, ist ja eine offene Frage). Es erhebt drei Ansprüche: Es will von Schicksalen berichten, eine politische Chronik sein und eine Analyse des Bolschewismus darlegen.

Der analytische Teil ist der schwächste. Er besteht im Wesentlichen aus einer Verwechslung von "Vergleich" und "Erklärung": Slezkine lehrt, die Bolschewiki seien eine Religionsgemeinschaft gewesen, denn sie hätten sich verhalten wie so ein Verein. Abgesehen davon, dass vor wie nach dem Bolschewismus keine Religion existiert haben dürfte, die einen riesigen Flächenstaat elektrifizieren und dessen Bevölkerung alphabetisieren wollte, ist ein derartiger Vergleich eher ein dichterisches als ein wissenschaftliches Werkzeug. Die Rede davon, ein soziales Gebilde sei eine "Ersatzreligion", hat und kann man auf den Marktliberalismus, die moderne Wissenschaft - man lese Frank Rexroths jüngst erschienenes Buch "Fröhliche Scholastik" über deren Ursprung - , den modernen Menschrechtskonsens und Gott weiß was anwenden, ja sogar umdrehen, indem man etwa sagt, für den heiligen Franz von Assisi oder gewisse Gerechtigkeitsislamisten heute sei die Religion ein "Ersatzsozialismus".

Dass ein gesellschaftliches Phänomen aussieht wie ein anderes, erklärt wenig; die Palme in der Disziplin, mit dieser Verwechslung "Theorie" zu treiben, gebührt Michel Foucault, dem aufgefallen ist, dass es Ähnlichkeiten zwischen politischen Gefängnissen, solchen für Straftäter, psychiatrischen und allgemeinen Krankenhäusern gibt, womit bewiesen sein sollte, dass eine Gesellschaft, in der ein Beinbruch stationär behandelt wird, eine Tyrannei sei.

Näher ans Eingemachte als der flache Religionseinfall führt in Slezkines Buch die Idee der "Enttäuschung", die er bei Opfern und Schuldigen seines Dramas getreulich nachzeichnet. Das ist eine typische Erscheinung in Revolutionen; auch die von Thomas Paine Begeisterten waren von der nordamerikanischen Wirklichkeit nach dem Sieg über die Engländer enttäuscht, und Napoleon, der das bürgerliche Gesetz in weiten Teilen Europas durchsetzte, galt Leuten als Schänder jener Revolution, in der dieses Gesetz erstmals politische Macht wurde.

Die Enttäuschungsfigur hat für Slezkines Argumentation freilich den Haken, dass man sie nur ernst nehmen kann, wenn man vom Kommunismus irgend etwas erwartet. Deshalb ja stammen die Darstellungskonventionen, mit denen man Lenins Werk für gescheitert erklärt, von zwei (ansonsten sehr unterschiedlichen) Kommunisten: Die Rede vom "Verrat" der Revolution ist Schöpfung Leo Trotzkis, die weltweite Stalin-Monsterkunde folgt im Wesentlichen Einlassungen Nikita Chruschtschows, der für seine eigenen Amtszeit die klassenlose Überflussgesellschaft kommen sah.

Ein Kommunismus, der denkt und plant, statt zu schwärmen, funktioniert anders und findet sich deshalb seltener in gegenwärtigen antikommunistischen Büchern, die nahezu die einzigen zur Sache sind, die einigermaßen ansehnliche Aufmachung, Werbung und Resonanz erwarten dürfen. Will man wirklich unterrichtet urteilen, beispielsweise über den Mord an Sergej Kirow, der ein entscheidender Wendepunkt der Sowjetgeschichte war, sollte man nicht nur Slezkine lesen, sondern auch die Studie "The Kirov Murder and Soviet History" (2010) des (keineswegs prokommunistischen) Historikers Matthew E. Lenoe oder "Stalin. Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende" (2012) von Domenico Losurdo (dessen Tod dieses Jahr jedenfalls ein schwererer Schlag für den Restkommunismus war als der Gesamtbestand der antikommunistischen Literatur).

Bedeutende Werke der Historiographie empfangen ihr Gewicht nicht von den Meinungen derer, die sie verfassen oder lesen, sondern von der Tiefe des Zugriffs und dem Feuer der Wissbegierde. "Das Haus der Regierung" ist, in Datenreichtum und Irrtum, ein großes Buch.

Yuri Slezkine: "Das Haus der Regierung". Eine Saga der Russischen Revolution.

Aus dem Englischen von H. Dierlamm, N. Juraschitz und K. Schuler. Carl Hanser Verlag, München 2018. 1344 S., geb., 49,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension

Uli Hufen räumt ein, dass der Leser mit Yuri Slezkines Wälzer alles andere als eine ausgewogene Darstellung der Revolution bekommt. Hinreißend, verwegen und verblüffend findet er den Roman aber allemal, weil der Autor darin Hunderte Figuren auftreten lässt, seinen jungen Revolutionären durch ganz Russland, ins Exil und in die Verbannung folgt, ihre Streitereien, ihren Frust darstellt, alles in einem überwältigenden Erzählstrom, der laut Rezensent zwar den Verlust des Glaubens an den Sowjet-Sozialismus nicht restlos erklären kann, dafür aber stilistisch groß einen Haufen Material bewältigt und zum Beispiel auf eine Art die Schauprozesse '36-'38 schildert, die Hufen das Blut in den Adern gefrieren lässt.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Ein intellektuelles Vergnügen, sich auf diesen in blitzende Aperçus gefassten Ritt durch die Ideengeschichte einzulassen." Gerd Koenen, Die Zeit, 04.10.18

"Slezkine ist ein Meister darin, vergiftete Dialektik in Sätze zu frieren. ... Der Sog seiner Erzählung bricht auch dann nicht ab, wenn Slezkine den apokalyptischen Furor zurückschraubt." Fabian Wolff, Die Welt, 06.10.18

"Fleiß, Erzählschwung und ethischen Ernst dieses Buches kann man kaum fassen." Dietmar Darth, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.10.18

"Nie zuvor war ein so umfassender Blick in das Privatleben der Protagonisten möglich, auch der Ehefrauen und Geliebten, die im bourgeoisen Luxus von Maßkleidern schwelgen ... Der Hanser Verlag hat mit der deutschen Ausgabe dieses Monumentalwerks eine glückliche Hand bewiesen." Bernhard Schulz, Tagesspiegel, 11.10.18

"Ein monumentales Werk ... Slezkine zeichnet aus, dass er, im Sinne der neuen Geschichtsschreibung, unterschiedliche Zugänge vereint -hierin Karl Schlögel ähnlich - und sie ergänzt. Zum einen schreibt er eine Familiensaga, wie er sie selbst nennt. Wobei die eher von Clans handelt und deren Entouragen, davon, was aus der ursprünglichen Brüderschaft der Revolutionäre (mit nur wenigen Schwestern) wurde, als das Haus sie vereinnahmte." Michael Freund, Der Standard, 22.09.18

"Eine spannende, ... immer hervorragend erzählte Geschichte - also Story und History - ist 'Das Haus der Regierung' auf alle Fälle." Michael Freund, Ö1 Kontext, 28.09.18

"Ein dunkles Meisterwerk." Bettina Sengling, Stern, 27.12.19
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