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Englisches Tagebuch 1988 - Bohley, Bärbel
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Im Februar 1988 wurden einige DDR-Oppositionelle aus der Haft in die Bundesrepublik abgeschoben, die das so nicht geplant hatten. Bärbel Bohley kehrte allerdings sechs Monate später, im August 1988, in die DDR zurück. Dies war ein singulärer Fall, den sie noch während der Haft ertrotzt und danach, während ihres Aufenthalts im Westen mit allen politischen Mitteln verteidigt hatte. Da sie selbst bis zuletzt im Zweifel war, ob ihr die Wiedereinreise gestattet werden würde, führte sie in diesen Monaten, vor allem in England, ein Tagebuch, in dem sie jeden ihrer Schritte, die Begegnungen und…mehr

Produktbeschreibung
Im Februar 1988 wurden einige DDR-Oppositionelle aus der Haft in die Bundesrepublik abgeschoben, die das so nicht geplant hatten. Bärbel Bohley kehrte allerdings sechs Monate später, im August 1988, in die DDR zurück. Dies war ein singulärer Fall, den sie noch während der Haft ertrotzt und danach, während ihres Aufenthalts im Westen mit allen politischen Mitteln verteidigt hatte. Da sie selbst bis zuletzt im Zweifel war, ob ihr die Wiedereinreise gestattet werden würde, führte sie in diesen Monaten, vor allem in England, ein Tagebuch, in dem sie jeden ihrer Schritte, die Begegnungen und Reaktionen prominenter und nichtprominenter Kontaktpersonen auf ihr Anliegen sowie ihre politischen Schlußfolgerungen festhielt.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.06.2011

In der Verbannung
Vor der Revolution: Bärbel Bohleys Tagebuch des Jahres 1988
Am 25. Januar 1988 wurde Bärbel Bohley verhaftet: um fünf Uhr läutete es Sturm, mindestens zehn Leute standen vor der Tür. „Ja, so müssen sie 33 geklingelt haben!“ Bohley hatte nach Jahren in der DDR-Bürgerrechtsbewegung ihre Erfahrungen mit der Staatssicherheit und mit Verhaftungen, diesmal ging es besonders brutal zu. Der Freund Werner Fischer hatte, das Schlimmste erwartend, diesmal bei ihr übernachtet. Sie warfen ihn aufs Bett, vier Mann stürzten sich auf ihn, dann wurde er in Handschellen abgeführt, Bohley solle sich anziehen. Aber sie weigerte sich, und ihre Antwort verrät den ganzen Mut, mit dem sie 1989 zum wichtigsten Gesicht, zur Stimme der ostdeutschen Revolution werden konnte: „Wenn Sie es wagen, mich aus dem Schlaf heraus zu verhaften, haben Sie auch den Mut, mich im Nachthemd mitzunehmen.“
Wieder brachte man sie in die Untersuchungshaftanstalt des MfS in Berlin-Hohenschönhausen. Dort erfährt sie wenig, hört von den Ausreiseanträgen der anderen Verhafteten. Ihre Anwälte und die Kirchenleitung wollen auch sie zur Ausreise aus der DDR überreden. Sie lehnt ab, bis sie keinen anderen Ausweg mehr sieht, aber sie stellt Bedingungen, will ihren Sohn mitnehmen, die DDR-Staatsbürgerschaft behalten und nach höchstens sechs Monaten wieder einreisen in den Arbeiter-und-Bauernstaat. So einfach soll die SED die Opposition nicht loswerden. Am 5. Februar, morgens 4.30 Uhr, steigt sie in Bielefeld aus dem Zug. In dem halben Jahr, das nun kommt, unternimmt sie Reisen, von denen die meisten Bürger hinter der Mauer nur träumen konnten, sie lernt Frankreich, Italien, England, die Bundesrepublik kennen.
Sie jedoch will, was viele nicht verstehen, unbedingt in die DDR zurück. Das ist für sie das Wichtigste. In der Hand hat sie wenig mehr als den Reisepass aus der Haftanstalt. Sie ist äußerlich frei, aber innerlich gefesselt, unfähig, anders als ablehnend auf ihre Umwelt zu reagieren, bis sie erfährt, dass Honecker zu Petra Kelly gesagt habe, ihrer Rückkehr stünde „nichts im Wege“. Am 3. August fliegt sie von London nach Prag, Stolpe und Gysi empfangen sie – sie reist wieder ein, kehrt zurück nach Ost-Berlin.
In einem schmalen Buch, das Petra Kelly und Gert Bastian ihr dafür schenkten, führte sie Tagebuch, im Februar 1989 tippte sie ihre handschriftlichen Aufzeichnungen für Freunde ab. Irena Kukutz von der Robert-Havemann-Gesellschaft hat es bei Recherchen entdeckt, mit der schwer kranken Bärbel Bohley regelmäßig darüber gesprochen und es nun – nach dem Tod der Bürgerrechtlerin im September 2010 – veröffentlicht.
Die Aufzeichnungen enden im August 1988, mehr als ein Jahr, bevor das Neue Forum zur „Umgestaltung der Gesellschaft“ aufrief und in klaren Worten den Unwillen formulierte, das bevormundete Leben weiter zu ertragen. Bärbel Bohleys Tagebuch dokumentiert die Vorgeschichte eindrücklicher als all die Fernsehdokumentationen, Erinnerungen und Wendegeschichten. So wie man Rousseau lesen sollte, wenn man etwas von der Französischen Revolution begreifen möchte, lässt sich ohne Bohley und ihr Tagebuch die Revolution von 1989 nur schwer verstehen. Hier erfährt man, wie das Programm entstand, die vielen, die Gesellschaft zum Sprechen zu bringen, sie zu bewegen, ihren Willen zu äußern – abseits tradierter politischer Fronten und utopischer Projekte, dennoch voller Idealismus. Aber „Programm“ klingt schon wieder zu theoretisch, zu abgehoben. Vom Einzelnen aus, im Gespräch sollte die Veränderung beginnen. Bärbel Bohleys einzigartiges politisches Temperament entspringt aus der Freundschaft zu wenigen, aus Vertrauen und genauer Beobachtung des Alltags und menschlicher Deformationen.
Sie sei, notiert sie einmal, „gar nicht so sehr aus politischer Überzeugung oppositionell“, „sondern aus ganz persönlicher Erfahrung“. Dazu gehören nicht allein Druck, Demütigung, Verrat und Täuschung. Wichtiger waren Freundschaft, Aufrichtigkeit, Solidarität. Sie war verhaftet worden, weil sie in ihrem Atelier das Kontakttelefon eingerichtet hatte für Angehörige und Freunde von Festgenommenen, die auf der staatlich organisierten Liebknecht-Luxemburg-Demonstration am 17. Januar 1988 eigene Forderungen nach der „Freiheit der Andersdenkenden“ gestellt hatten. Während des halben Jahres in der „Verbannung“ wuchs ihr Misstrauen gegenüber der Kirchenleitung und Parteien. Sehr skeptisch, nicht immer gerecht, sieht sie auch den Westen, das Oberflächliche, unfroh Gehetzte, die Masken derer, die durch nichts mehr zu erschüttern sind. Aber: „Unsere Leistungsgesellschaft ist viel brutaler und verdeckter als die westliche, weil man sich nicht dagegen wehren kann.“
Die Vorgänge um ihre Verhaftung und Ausreise sind bis heute nicht endgültig aufgehellt. Wer hat mit der Stasi kooperiert, wer hat sie verraten? Sie fühlte sich benutzt, zum Objekt degradiert. Aus dieser Erfahrung heraus entwickelte sie ihre Kraft. Ihr Tagebuch gewinnt dadurch seine Eindringlichkeit, den Sog, dem sich der Leser nur schwer entziehen kann: So ist es, wenn man autonom, ehrlich, ohne Ausflüchte und Feigheit leben will. Nach 1990 stand Bärbel Bohley rasch wieder im Abseits.
JENS BISKY
BÄRBEL BOHLEY: Englisches Tagebuch 1988. Aus dem Nachlass herausgegeben von Irena Kukutz. Mit einem Nachbericht von Klaus Wolfram. BasisDruck Verlag, Berlin 2011. 168 Seiten, 14 Euro.
Ohne dieses Tagebuch und seine
Autorin lässt sich die Revolution
von 1989 nur schwer verstehen
„Ich glaube, ich war in meinem Leben noch nie so fertig.“ – Bärbel Bohley und Werner Fischer auf der Pressekonferenz in Bielefeld, 6. Februar 1988. Foto: dapd
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Jana Hensel liest dieses Buch in einer schönen Kritik als das Dokument eines einzigartigen Moments, nämlich der paar Monate vor der Wende, als noch keiner - außer eben Bärbel Bohley oder auch Petra Kelly - die Vision einer Veränderung hatte. Bohley, so erweist sich für Hensel, hatte diesen klareren Blick im Abseits entwickelt, und nachdem sie für den entscheidenden Moment im Zentrum der Geschichte stand, begab sie sich - freiwillig vielleicht, "aber das schreibt sich leichter, als es ist" - wieder zurück ins Abseits. Aber was Hensel im Moment des Umsturzes frappiert, ist eben diese unerbittliche Klarheit von Bohleys Blick: auf die Kollaboration der Kirche mit der Stasi und auf das Desinteresse und die Selbstzufriedenheit des Westens: Nur so konnte sie den Entschluss fassen, sich mit dem Neuen Forum von beiden zu emanzipieren. Sie sei uns abhanden gekommen, klagt Hensel, aber sie wünscht sich dieses Buch, das in einem sehr kleinen Verlag erschienen ist, als Grundlesestoff für die Schule.

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